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Er hat das historische Erzählen über sich selbst aufgeklärt: Zu seinem achtzigsten Geburtstag erinnert sich der große Umberto Eco an seine Anfänge.
Fangen wir ganz von vorn an. Da wächst ein Junge, ein Buchhaltersohn, in dem norditalienischen Provinzstädtchen Alessandria auf, erlebt die Partisanenkämpfe und das Ende des Zweiten Weltkriegs, liest Abenteuer- und Detektivromane, schreibt Gedichte, wird Mitglied der Katholischen Jugend, studiert Philosophie und Literaturgeschichte und promoviert über die Ästhetik des Scholastikers Thomas von Aquin. Was will der junge Mann wohl werden, Schriftsteller, Literaturprofessor? Nein, er nimmt an einem concorso pubblico, einem Job-Wettbewerb des italienischen Fernsehens, teil und gewinnt eine Stelle als Kulturredakteur. Nach fünf Jahren, um einige mediale Erfahrungen reicher, steigt er aus und geht als Lektor zu einem großen Verlag. Beginnt er jetzt etwa zu schreiben? Keineswegs; er publiziert Kolumnen, Kommentare und eine moderne Kunsttheorie: "Das offene Kunstwerk".
In den folgenden Jahren zieht der Mann aus Alessandria als freier Professor für Ästhetik und Zeichentheorie von Universität zu Universität, gründet Zeitschriften, verfasst wissenschaftliche Aufsätze, Studien und Handbücher, bis er 1975 in Bologna den ersten italienischen Lehrstuhl für Semiotik erringt. Und dann, mit Ende vierzig, auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere, setzt er sich hin und schreibt "Der Name der Rose".
In seinen gerade erschienenen "Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers", der Druckfassung einer Vorlesungsreihe, die er vor gut drei Jahren an der Universität von Atlanta in Georgia gehalten hat, erinnert sich Umberto Eco, wie er damals mit seinem Roman begonnen hat. Die Keimzelle des Buchs sei das Bild eines Mönchs gewesen, der vergiftet wird, während er in einer Bibliothek ein Buch liest. Und dann erzählt Eco, wie er sich als Sechzehnjähriger beim Besuch in einem Benediktinerkloster nahe bei Rom in die Klosterbücherei verirrte, wo ein alter Foliant aufgeschlagen auf einem Lesepult lag. "Beim Blättern in diesem riesigen Band (...) muss ich so etwas wie einen Schauder empfunden haben. Mehr als dreißig Jahre später tauchte nun dieser Schauder aus meinem Unbewussten wieder auf."
Man erfährt zweierlei in dieser kurzen Selbstauskunft: Zum einen ist "Der Name der Rose", genauso wie alle anderen Romane, die Eco seither geschrieben hat, natürlich das Buch eines Zeichen- und Medientheoretikers, eines Kenners der Scholastik und Antischolastik, der Kabbala, des Alt- und Neuplatonismus, der barocken Allegorese, der Hegelschen Phänomenologie und aller möglichen anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Zum anderen aber stammen all die vertrackten und verschlungenen Geschichten, die Umberto Ecos Bücher erzählen, in letzter Instanz aus seiner Kindheit. Es sind die Abenteuer- und Detektivstorys eines verträumten Jungen, der auf seinem langen Weg zur Schriftstellerei das Wissen der Welt in sich eingesogen hat. Und darin liegt das Geheimnis seines Erfolgs.
Als "Der Name der Rose" 1980 in Italien und zwei Jahre später in Deutschland erschien, gab es Stimmen - auch in dieser Zeitung -, die dem Autor mangelnde psychologische Finesse, Liebe zu trivialen Erzählmustern, Weitschweifigkeit und Spitzfindigkeit bescheinigten. Der Erfolg des Romans hat sie alle übertönt. Dabei sind die Vorwürfe gar nicht falsch; sie verfehlen nur den Kern von Ecos Schriftstellerei. Der Semiotikprofessor aus Bologna ist tatsächlich kein Sprachvirtuose wie James Joyce oder Italo Calvino (die er beide verehrt), und im Vergleich zu den Gedankenlabyrinthen seines Vorbilds Jorge Luis Borges (dem er in der Gestalt seines blinden Klosterbruders und Bibliothekswächters Jorge von Burgos ein subtiles Denkmal gesetzt hat) wirken Ecos Erzählgebilde überschaubar. Aber seine Bücher haben einen unschätzbaren Vorteil gegenüber der sogenannten avancierten Literatur (die oft nur die Avantgarde von gestern ist). Sie sind klug; und sie machen ihre Leser klug. Sie bringen ein Wissen ins Spiel, das jahrhundertelang in Seminaren und Archiven geschlummert hat. Und sie spielen dieses Wissen mit einer Souveränität aus, die es in Europa kein zweites Mal gibt.
Auf diese Weise hat Eco erreicht, was den wenigsten Schriftstellern gelingt: Er hat ein ganzes Genre von Grund auf erneuert. Bevor "Der Name der Rose" erschien, war der historische Roman eine literarische Tiefebene, aus der als einsame Höhenzüge die Werke von Niebelschütz, Marguerite Yourcenar und Rosemary Sutcliff aufragten. Ecos Bücher haben das historische Erzählen über sich selbst aufgeklärt, sie haben ihm Geist, Humor und Genauigkeit eingehaucht. Es ist eben keine Pedanterie, wenn Eco, wie er gern erzählt, alte Pariser Stadtpläne studiert, um präzise sagen zu können, wie die Stadt am Todestag von Richelieu ausgesehen hat, oder den Helden seines Romans "Baudolino" vierundzwanzig Jahre verbummeln lässt, damit die historische Chronologie im Hintergrund nicht durcheinandergerät. Man könnte von einem neuen Ethos des Historienromans reden, wenn das Wort nicht allzu hoch gegriffen erschiene angesichts der Welle von Fantasy-Kitsch à la Tolkien, die derzeit durch den Buchhandel schwappt. Aber selbst eine Tanja Kinkel kann ihre Stoffe heute nicht mehr so freihändig zurechtbiegen wie ihre Vorgänger vor dreißig Jahren. Christoph Ransmayrs "Letzte Welt", Daniel Kehlmanns Humboldt-Roman, sogar Salman Rushdies "Bezaubernde Florentinerin" blühen auf der Lichtung, die Eco gerodet hat.
Ein großes Buch kann für seinen Autor zum Gefängnis werden. Umberto Eco aber hat sich nach dem "Namen der Rose" auf den Weg ins Weite gemacht. Mit dem "Foucaultschen Pendel" hat er das Italien der siebziger Jahre, mit "Die Insel des vorigen Tages" die Welt des siebzehnten Jahrhunderts, mit "Baudolino" die Phantasie und Realität des Hochmittelalters und zuletzt mit "Der Friedhof in Prag" die Verschwörerzirkel des neunzehnten Jahrhunderts bereist. Dabei ist Ecos Schreiben zugleich professoraler und autobiographischer geworden. Die Erzählung, die in dem Rosenroman zwischen hohen Mauern eingesperrt war, schweift durch Länder und Zeiten und verzettelt sich nicht selten, findet aber dabei Spuren der Wirklichkeit, von denen der Klosterbibliothekar nichts ahnte.
Eine davon ist die Szene am Ende des "Foucaultschen Pendels", in welcher der tragische Held Jacopo Belbo als Kind die Trompete für die Gefallenen des Partisanenkriegs bläst. Der Ton, den Jacopo minutenlang hält, bildet darin den "einzigen festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte": jenen, "den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem schuf". Wie weit sich Umberto Ecos Geschichten auch von Alessandria entfernen mögen, sie führen doch immer wieder in die Kindheit zurück.
Und so wie ein Knabe seine Fundstücke in Schubladen packt, bewahren Ecos Romane Listen von Dingen auf, die ihr Autor beim Lesen und Reisen gefunden hat - Listen von Büchern, Orten, Namen, Farben, Land- und Meeresbewohnern. "Listen: eine Lust, sie zu lesen und sie zu schreiben." Es ist die zweifache Lust des Kindes, das alles zum ersten Mal, und des Semiotikers, der alles wie zum letzten Mal benennt. Eine Liste all der Texte aber, die Umberto Eco in seinem Leben geschrieben hat, würde den Rahmen der Zeitung sprengen, sie gliche dem Bibliothekskatalog, der William von Baskerville und seinen Gehilfen Adson im "Namen der Rose" auf die Spur des Mörders führt.
Einen Geistesfürsten wie Eco, der zugleich Bestsellerautor, akademische Koryphäe und politisch-moralisches Gewissen der Nation ist, könnte Deutschland gut gebrauchen. Auch deshalb hat Eco, von Italien abgesehen, sein treuestes Publikum - und mit Burkhart Kroeber seinen besten und klügsten Übersetzer - nördlich der Alpen. In den "nächsten fünfzig Jahren", so kündigt Umberto Eco am Anfang der Atlanta-Vorlesungen an, werde er noch viele Romane schreiben. Zu seinem heutigen achtzigsten Geburtstag wollen wir ihn gern an dieses Versprechen erinnern.
ANDREAS KILB
Umberto Eco: "Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers".
Aus dem Englischen von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2011. 208 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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