Der Fänger im Roggen im Balkan Im Mittelpunkt dieses legendären ungarischen Romans steht eine Gruppe junger Freunde, die sich, statt um ihr Studium, mehr um die wahren Dinge des Lebens kümmern: um Frauen und Alkohol und vor allem um Geld. Sie lehnen die erstarrte Welt, in der sie leben, ab und begegnen der gesellschaftskonformen Betriebsamkeit mit Verweigerung. Sie haben die Unmöglichkeit jeder Revolte begriffen und sehen der Zukunft mit Unbehagen entgegen. Auch der Vorstellung von Liebe trauen sie nicht, für sie zählen nur Sex und die damit verbundenen Möglichkeiten Geld zu machen - ihre einzige Konzession an die Verhältnisse. Bekenntnisse eines Zuhälters - erzählt in einem beinahe unbeschwerten, leicht melancholischen Tonfall - stellt unser inzwischen erstarrtes Bild der wilden und politischen Sechziger auf den Kopf. Das schicksalhafte Jahr 1968 - wie sah es hinter dem eisernen Vorhang aus? In seinem wilden, komischen und turbulenten Roman zeigt uns László Végel die Welt von der anderen Seite.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2011Leichter Rausch,
trübe Aussicht
Flaschenpost: László Végels
„Bekenntnisse eines Zuhälters“
Novi Sad, Ende der sechziger Jahre. Eine Gruppe junger Leute langweilt sich in der Hauptstadt der jugoslawischen Provinz Vojvodina fast zu Tode. Ihren Eltern mochte der Sozialismus noch ein Ideal gewesen sein, für das es sich zu leben lohnte, ihnen ist er eine banale, bedrängende Realität, aus der sie alle Tage in den Rausch, in die Orgie zu flüchten versuchen. Sie nennen sich Pud, Hem, Blue, Merkurosz, studieren oder tun wenigstens noch so, während sie mit ihren Mädchen Olga, Bea, Csicsi, Tanja eimerweise Alkohol trinken und es im Bett mit wechselnden personellen Konstellationen probieren. Sie sind zynisch, verkommen, vor der Zeit erschöpft, aber in ihrer ziellosen Verweigerung liegt ein gewisser Charme, der Rausch ist leicht, nicht dumpf, und noch haben sie Kraft genug, das Elend weniger zu erleiden, als zu genießen.
Es schaudert sie „vor den großen Worten, deshalb wandten sie sich auch von großen Gedanken ab“; ringsum regiert die Phrase des sozialistischen Aufbaus, darum wetteifern sie, wer sich noch abgebrühter zu geben weiß und am weitesten in die Verzweiflung vorwagt. Sie ziehen durch die Bars und Kaschemmen, reden von der Reise ans Meer oder vom eleganten Abgang in einen frühen Tod, und in ihrem „verrückten Benehmen ist die Logik derer, die sich selbst zerstören, die fröhlich erleiden, dass es nichts gibt, was sie aus der Bahn werfen könnte“.
Anders als ihre Altersgenossen in den westlichen Ländern, deren Revolte von sozialistischen Utopien beflügelt wird, sind die Verweigerer von Novi Sad flügellahm; sie träumen nicht davon, eine Gesellschaft, die sie als ungerecht empfinden, zu zerstören, sondern spüren die nihilistische Verlockung, lieber sich selbst zu zerstören als das zu werden, wovor sie am meisten Angst haben: nützliche Mitglieder der Gesellschaft. Es ist das letzte Aufmucken der Adoleszenz, ehe es mit ihnen abgeht in den Ernst des Lebens und sie selbst als Lehrer am Katheder vor Kindern sitzen, als Beamte über Jugendliche entscheiden werden.
„Bekenntnisse eines Zuhälters“ ist ein merkwürdiger Roman, der mit 40-jähriger Verspätung aus dem Ungarischen zu uns kommt. Verfasst wurde er von László Végel, einem bedeutenden Autor und unbestechlichen Intellektuellen, der im heute zu Serbien gehörenden Novi Sad lebt, aber der ungarischen Volksgruppe zugehört. 1968, als der Roman erstmals erschien, waren in Jugoslawien Dinge erlaubt, die in Ungarn streng gebannt waren, wo ein Roman wie dieser damals nie und nimmer hätte erscheinen können. Doch hat er über die Grenze gewirkt und in die ungarische Literatur einen neuen, frech verspielten Ton gebracht, auf den sich später Autoren wie Péter Esterházy beziehen konnten.
In der unpathetischen Feier von alkoholischen und sexuellen Exzessen klingt das Buch manchmal, als wäre Charles Bukowski aus der amerikanischen Großstadt in die seit jeher von vielen Nationalitäten bevölkerte Region an der Donau versetzt worden. Doch in wildem Jargon äußern sich hier keine vom Leben geprügelten Außenseiter, sondern empfindsame Kinder, die mit auftrumpfenden Gesten ihre Unsicherheit zu verscheuchen trachten. Am Ende zerstreut sich die Gruppe. Zwei sind tot, mit einem gestohlenen Auto verunglückt oder vorsätzlich in den Tod gerast. Blue, der Erzähler der Geschichte, und die schöne Csicsi machen immerhin ernst mit dem Traum von der großen Reise ins Ungewisse und brechen auf, dem Meer entgegen.
László Végel hat seinen Roman wunderbar in der Schwebe von Jargon und Poesie, von Drastik und Anmut gehalten. Damit diese austarierte Balance auch in anderen Sprachen nicht kippt, braucht es außergewöhnliche Übersetzer. Ins Serbische übersetzt hat die „Bekenntnisse eines Zuhälters“ einst Alexander Tisma, Végels Landsmann und Freund aus Novi Sad; und geradezu meisterlich ist es jetzt Lacy Kornitzer, dem feinsinnigen Übersetzer von Imre Kértesz, István Örkény, Attila Bartens und György Dragomán, gelungen, diesen so düsteren wie ausgelassenen Roman ins Deutsche zu bringen.
KARL-MARKUS GAUSS
LÁSZLÓ VÉGEL: Bekenntnisse eines Zuhälters. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011. 251 S., 19,90 Euro.
„Es schauderte sie vor den großen
Worten, deshalb wandten sie sich
auch von großen Gedanken ab“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
trübe Aussicht
Flaschenpost: László Végels
„Bekenntnisse eines Zuhälters“
Novi Sad, Ende der sechziger Jahre. Eine Gruppe junger Leute langweilt sich in der Hauptstadt der jugoslawischen Provinz Vojvodina fast zu Tode. Ihren Eltern mochte der Sozialismus noch ein Ideal gewesen sein, für das es sich zu leben lohnte, ihnen ist er eine banale, bedrängende Realität, aus der sie alle Tage in den Rausch, in die Orgie zu flüchten versuchen. Sie nennen sich Pud, Hem, Blue, Merkurosz, studieren oder tun wenigstens noch so, während sie mit ihren Mädchen Olga, Bea, Csicsi, Tanja eimerweise Alkohol trinken und es im Bett mit wechselnden personellen Konstellationen probieren. Sie sind zynisch, verkommen, vor der Zeit erschöpft, aber in ihrer ziellosen Verweigerung liegt ein gewisser Charme, der Rausch ist leicht, nicht dumpf, und noch haben sie Kraft genug, das Elend weniger zu erleiden, als zu genießen.
Es schaudert sie „vor den großen Worten, deshalb wandten sie sich auch von großen Gedanken ab“; ringsum regiert die Phrase des sozialistischen Aufbaus, darum wetteifern sie, wer sich noch abgebrühter zu geben weiß und am weitesten in die Verzweiflung vorwagt. Sie ziehen durch die Bars und Kaschemmen, reden von der Reise ans Meer oder vom eleganten Abgang in einen frühen Tod, und in ihrem „verrückten Benehmen ist die Logik derer, die sich selbst zerstören, die fröhlich erleiden, dass es nichts gibt, was sie aus der Bahn werfen könnte“.
Anders als ihre Altersgenossen in den westlichen Ländern, deren Revolte von sozialistischen Utopien beflügelt wird, sind die Verweigerer von Novi Sad flügellahm; sie träumen nicht davon, eine Gesellschaft, die sie als ungerecht empfinden, zu zerstören, sondern spüren die nihilistische Verlockung, lieber sich selbst zu zerstören als das zu werden, wovor sie am meisten Angst haben: nützliche Mitglieder der Gesellschaft. Es ist das letzte Aufmucken der Adoleszenz, ehe es mit ihnen abgeht in den Ernst des Lebens und sie selbst als Lehrer am Katheder vor Kindern sitzen, als Beamte über Jugendliche entscheiden werden.
„Bekenntnisse eines Zuhälters“ ist ein merkwürdiger Roman, der mit 40-jähriger Verspätung aus dem Ungarischen zu uns kommt. Verfasst wurde er von László Végel, einem bedeutenden Autor und unbestechlichen Intellektuellen, der im heute zu Serbien gehörenden Novi Sad lebt, aber der ungarischen Volksgruppe zugehört. 1968, als der Roman erstmals erschien, waren in Jugoslawien Dinge erlaubt, die in Ungarn streng gebannt waren, wo ein Roman wie dieser damals nie und nimmer hätte erscheinen können. Doch hat er über die Grenze gewirkt und in die ungarische Literatur einen neuen, frech verspielten Ton gebracht, auf den sich später Autoren wie Péter Esterházy beziehen konnten.
In der unpathetischen Feier von alkoholischen und sexuellen Exzessen klingt das Buch manchmal, als wäre Charles Bukowski aus der amerikanischen Großstadt in die seit jeher von vielen Nationalitäten bevölkerte Region an der Donau versetzt worden. Doch in wildem Jargon äußern sich hier keine vom Leben geprügelten Außenseiter, sondern empfindsame Kinder, die mit auftrumpfenden Gesten ihre Unsicherheit zu verscheuchen trachten. Am Ende zerstreut sich die Gruppe. Zwei sind tot, mit einem gestohlenen Auto verunglückt oder vorsätzlich in den Tod gerast. Blue, der Erzähler der Geschichte, und die schöne Csicsi machen immerhin ernst mit dem Traum von der großen Reise ins Ungewisse und brechen auf, dem Meer entgegen.
László Végel hat seinen Roman wunderbar in der Schwebe von Jargon und Poesie, von Drastik und Anmut gehalten. Damit diese austarierte Balance auch in anderen Sprachen nicht kippt, braucht es außergewöhnliche Übersetzer. Ins Serbische übersetzt hat die „Bekenntnisse eines Zuhälters“ einst Alexander Tisma, Végels Landsmann und Freund aus Novi Sad; und geradezu meisterlich ist es jetzt Lacy Kornitzer, dem feinsinnigen Übersetzer von Imre Kértesz, István Örkény, Attila Bartens und György Dragomán, gelungen, diesen so düsteren wie ausgelassenen Roman ins Deutsche zu bringen.
KARL-MARKUS GAUSS
LÁSZLÓ VÉGEL: Bekenntnisse eines Zuhälters. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011. 251 S., 19,90 Euro.
„Es schauderte sie vor den großen
Worten, deshalb wandten sie sich
auch von großen Gedanken ab“
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2012Chronik der Enttäuschung
László Végels Roman ist ein Porträt der Generation von 1968 in Titos Jugoslawien. Anders aber als im Westen dominiert hier nur der Frust.
Jungsein heißt auch immer Verwirrtsein. Die Suche danach, wer man sein will und wo das Leben hingehen soll - das sind entscheidende Fragen, die über Zeit und Raum, von Generation zu Generation die gleichen bleiben. Durch die Malaise der Pubertät muss jeder durch, ob nun im alten Rom oder in der modernen Großstadt. Bloß die Fluchtwege variieren: Der Drink in der Kneipe, die Zigarette am Fluss, das Flanieren im Park - so lauten die verträumten Formeln des Aufschubs heute, um den Einbruch des Erwachsenen-Daseins ins Unendliche zu verschieben.
Wenn man László Végels Roman "Bekenntnisse eines Zuhälters" in die Hand nimmt, überrascht es trotzdem, dass so viele Parallelen existieren zwischen dem Berliner Mittzwanziger von 2012 und dem desorientierten Jugendlichen aus der Tito-Ära, dem adoleszenten Flaneur aus dem kommunistischen Jugoslawien von 1968. Auch hier ist das Vagabundieren die eskapistische Strategie des Unentschlossenen; auch hier ist die alles verschluckende, nicht näher präzisierte Großstadt der verträumte, vernebelte Ort des Rausches, der sich (wie Berlin) schnell zur verrotteten, korrumpierten Enttäuschung pervertiert. Deshalb lässt sich der jugendliche Protagonist namens Blue gar nicht erst auf Idealisierungen ein. Er ist ein abgebrühter Fall: "Das, dachte ich, ist der Ort, an dem ich verrückt werden würde, doch wo war es besser? War es nicht überall auf der Welt so?"
"Bekenntnisse eines Zuhälters" ist die kühle Chronik einer Enttäuschung. Als Überschriften dienen Wochentage, ohne dass sofort erkennbar wäre, wo und in welche Zeit wir hineingeworfen sind. László Végel weiß, was er tut: 1941 in der Wojwodina geboren, kennt er sich als Mitglied der ungarischen Minderheit mit Ungereimtheiten aus. Sein Roman, der in den sechziger Jahren spielt und in dieser Zeit auch geschrieben wurde, pendelt zwischen unpräzisen Orts- und Zeitangaben, um dem Generationenporträt eine universale Note zu verleihen. Der Leser ahnt lediglich, dass er es mit Jugendlichen der Achtundsechziger-Generation zu tun hat, die völlig anderen Bedingungen unterworfen sind als ihre Altersgenossen im kapitalistischen Westen.
Erst nach und nach erfahren wir mehr: über den Studenten und Streuner Blue, der als Handlanger für einen Ingenieur arbeitet, der junge Mädchen verführt und sie nach dem Geschlechtsakt erpresst. Blue ist für das Fotografieren zuständig, er sammelt das Beweismaterial, um die Mädchen unter Druck zu setzen und zu weiteren Diensten zu zwingen. Er tut es, weil er Geld dafür bekommt, ein paar müde Scheine, mit denen er sein rast- und hoffnungsloses Leben finanziert - ohne schlechtes Gewissen: "Du verkaufst deine Seele. Na und? Wer tut das nicht. Zeig mir einen, der seine Seele und seinen Körper nicht zu Markte trägt, sagte ich. Machen wir uns keine Illusionen."
Trostlos muss man diese Existenz nennen. Und gerade deshalb spiegelt dieses Leben ex negativo so viel Wahrheit, Traurigkeit und zeitlose Leere, die mit Momenten falschen Glücks ausgetrieben wird - mit schnellem Sex, Alkohol und Geld. Der Text liest sich wie eine ortsversetzte Version des "Fängers im Roggen", wie eine kulturell anders timbrierte und doch hochaktuelle Sinnsuche von erstaunlich verbitterter Kraft. Wir erleben die Desorientierung eines jungen Menschen, der von seiner Umgebung so frustriert und in seinem Wesen so abgebrüht ist, dass ihn nur noch flüchtig Zerstreuungen am Leben halten. Leere wird hier mit Leere beschrieben.
Doch was tun? Revolution spielen? Wie die Achtundsechziger im Westen auf die Barrikaden gehen und die verrottete Gesellschaft aus den Fugen werfen? Auch diese Perspektive wird madig gemacht: Stillhalten, sich raushalten - das ist die Lösung, die Csisi, die Ex-Freundin von Blue, in einem mahnenden Brief einfordert: "Wir müssen die großen Dinge vergessen, wir sollten einsehen, dass wir nicht in Zeiten leben, wo wir uns großen Luxus leisten können. Man muss sich außerhalb stellen und aufhören, im Mist herumzuwühlen. Wir sollten abwarten, gut möglich, dass eines Tages bessere Zeiten kommen ..."
Der Langzeitstudent Blue ist kein Idealist, er ist ein Jugendlicher, der es sich gut machen möchte, der sich einrichten will. Für ihn sind die Verheißungen des Westens weit entfernte, unergründliche Traumvorstellungen. Als sein Freund Pud die Worte "Egalité, Sexualité, Liberté" an die Toilettenwand kritzelt, weiß Blue nur mit abgeklärten Phrasen zu antworten: "Pud ist wirklich naiv. Er scheint nicht zu wissen, dass diese Worte in der Welt, in der wir leben, keine Bedeutung haben. Und wenn jemand nur ein bisschen Grips hat, zerbricht er sich über wichtigere Dinge den Kopf. Vor allem über Geld. Geld ist elementar. Das ist die Wahrheit."
Man könnte den Eindruck bekommen, dass dieser Roman in seiner Perspektivlosigkeit fatalistisch ist. Doch das ist nicht richtig: Zum Ende hin werden die hedonistischen Zerstreuungen als Schimären enttarnt, die vor Augen führen, dass bloßes Raushalten keine Lösung ist. Ob Alternativen aber gesellschaftlicher Natur sind oder im Privaten gefunden werden müssen, lässt das Buch offen. Trotzdem versteht man nach der Lektüre, warum Peter Esterházy diesen Klassiker der modernen ungarischen Literatur mit der Formel feierte: "Ein schönes Buch, es atmet Freiheit." Diese Freiheit fehlt den Jugendlichen. Wie man sie jedoch findet, das weiß nur der, der schließlich erwachsen wird.
TOMASZ KURIANOWICZ
László Végel: "Bekenntnisse eines Zuhälters". Roman.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
László Végels Roman ist ein Porträt der Generation von 1968 in Titos Jugoslawien. Anders aber als im Westen dominiert hier nur der Frust.
Jungsein heißt auch immer Verwirrtsein. Die Suche danach, wer man sein will und wo das Leben hingehen soll - das sind entscheidende Fragen, die über Zeit und Raum, von Generation zu Generation die gleichen bleiben. Durch die Malaise der Pubertät muss jeder durch, ob nun im alten Rom oder in der modernen Großstadt. Bloß die Fluchtwege variieren: Der Drink in der Kneipe, die Zigarette am Fluss, das Flanieren im Park - so lauten die verträumten Formeln des Aufschubs heute, um den Einbruch des Erwachsenen-Daseins ins Unendliche zu verschieben.
Wenn man László Végels Roman "Bekenntnisse eines Zuhälters" in die Hand nimmt, überrascht es trotzdem, dass so viele Parallelen existieren zwischen dem Berliner Mittzwanziger von 2012 und dem desorientierten Jugendlichen aus der Tito-Ära, dem adoleszenten Flaneur aus dem kommunistischen Jugoslawien von 1968. Auch hier ist das Vagabundieren die eskapistische Strategie des Unentschlossenen; auch hier ist die alles verschluckende, nicht näher präzisierte Großstadt der verträumte, vernebelte Ort des Rausches, der sich (wie Berlin) schnell zur verrotteten, korrumpierten Enttäuschung pervertiert. Deshalb lässt sich der jugendliche Protagonist namens Blue gar nicht erst auf Idealisierungen ein. Er ist ein abgebrühter Fall: "Das, dachte ich, ist der Ort, an dem ich verrückt werden würde, doch wo war es besser? War es nicht überall auf der Welt so?"
"Bekenntnisse eines Zuhälters" ist die kühle Chronik einer Enttäuschung. Als Überschriften dienen Wochentage, ohne dass sofort erkennbar wäre, wo und in welche Zeit wir hineingeworfen sind. László Végel weiß, was er tut: 1941 in der Wojwodina geboren, kennt er sich als Mitglied der ungarischen Minderheit mit Ungereimtheiten aus. Sein Roman, der in den sechziger Jahren spielt und in dieser Zeit auch geschrieben wurde, pendelt zwischen unpräzisen Orts- und Zeitangaben, um dem Generationenporträt eine universale Note zu verleihen. Der Leser ahnt lediglich, dass er es mit Jugendlichen der Achtundsechziger-Generation zu tun hat, die völlig anderen Bedingungen unterworfen sind als ihre Altersgenossen im kapitalistischen Westen.
Erst nach und nach erfahren wir mehr: über den Studenten und Streuner Blue, der als Handlanger für einen Ingenieur arbeitet, der junge Mädchen verführt und sie nach dem Geschlechtsakt erpresst. Blue ist für das Fotografieren zuständig, er sammelt das Beweismaterial, um die Mädchen unter Druck zu setzen und zu weiteren Diensten zu zwingen. Er tut es, weil er Geld dafür bekommt, ein paar müde Scheine, mit denen er sein rast- und hoffnungsloses Leben finanziert - ohne schlechtes Gewissen: "Du verkaufst deine Seele. Na und? Wer tut das nicht. Zeig mir einen, der seine Seele und seinen Körper nicht zu Markte trägt, sagte ich. Machen wir uns keine Illusionen."
Trostlos muss man diese Existenz nennen. Und gerade deshalb spiegelt dieses Leben ex negativo so viel Wahrheit, Traurigkeit und zeitlose Leere, die mit Momenten falschen Glücks ausgetrieben wird - mit schnellem Sex, Alkohol und Geld. Der Text liest sich wie eine ortsversetzte Version des "Fängers im Roggen", wie eine kulturell anders timbrierte und doch hochaktuelle Sinnsuche von erstaunlich verbitterter Kraft. Wir erleben die Desorientierung eines jungen Menschen, der von seiner Umgebung so frustriert und in seinem Wesen so abgebrüht ist, dass ihn nur noch flüchtig Zerstreuungen am Leben halten. Leere wird hier mit Leere beschrieben.
Doch was tun? Revolution spielen? Wie die Achtundsechziger im Westen auf die Barrikaden gehen und die verrottete Gesellschaft aus den Fugen werfen? Auch diese Perspektive wird madig gemacht: Stillhalten, sich raushalten - das ist die Lösung, die Csisi, die Ex-Freundin von Blue, in einem mahnenden Brief einfordert: "Wir müssen die großen Dinge vergessen, wir sollten einsehen, dass wir nicht in Zeiten leben, wo wir uns großen Luxus leisten können. Man muss sich außerhalb stellen und aufhören, im Mist herumzuwühlen. Wir sollten abwarten, gut möglich, dass eines Tages bessere Zeiten kommen ..."
Der Langzeitstudent Blue ist kein Idealist, er ist ein Jugendlicher, der es sich gut machen möchte, der sich einrichten will. Für ihn sind die Verheißungen des Westens weit entfernte, unergründliche Traumvorstellungen. Als sein Freund Pud die Worte "Egalité, Sexualité, Liberté" an die Toilettenwand kritzelt, weiß Blue nur mit abgeklärten Phrasen zu antworten: "Pud ist wirklich naiv. Er scheint nicht zu wissen, dass diese Worte in der Welt, in der wir leben, keine Bedeutung haben. Und wenn jemand nur ein bisschen Grips hat, zerbricht er sich über wichtigere Dinge den Kopf. Vor allem über Geld. Geld ist elementar. Das ist die Wahrheit."
Man könnte den Eindruck bekommen, dass dieser Roman in seiner Perspektivlosigkeit fatalistisch ist. Doch das ist nicht richtig: Zum Ende hin werden die hedonistischen Zerstreuungen als Schimären enttarnt, die vor Augen führen, dass bloßes Raushalten keine Lösung ist. Ob Alternativen aber gesellschaftlicher Natur sind oder im Privaten gefunden werden müssen, lässt das Buch offen. Trotzdem versteht man nach der Lektüre, warum Peter Esterházy diesen Klassiker der modernen ungarischen Literatur mit der Formel feierte: "Ein schönes Buch, es atmet Freiheit." Diese Freiheit fehlt den Jugendlichen. Wie man sie jedoch findet, das weiß nur der, der schließlich erwachsen wird.
TOMASZ KURIANOWICZ
László Végel: "Bekenntnisse eines Zuhälters". Roman.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Endlich ist Laszlos Vegels "großartiges" bereits 1968 erschienenes Romandebüt "Bekenntnisse eines Zuhälters" auf Deutsch erschienen, freut sich Rezensent Jörg Plath. Denn neben so viel "Nihilismus, Depression und Weltekel" erscheinen Plath heutige Romane wie "Kuschelliteratur". Der Rezensent begleitet Protagonist Blue und seine Freunde, Studenten in Zeiten des jugoslawischen Sozialismus, durch ihre trostlosen Erlebnisse am Rande der Gesellschaft. Voller Weltverachtung und in Ablehnung jeder Arbeit und jeglicher Nützlichkeit verbringen die Jugendlichen ihre Tage mit Erpressungen und flüchtigem Sex. Die Momente des Glücks sind kurz und als Auswege erscheinen häufig nur Drogen oder Selbstmord. Vegel schildere dies mit einer so "ruppigen Negativität", dass sich der Rezensent trotz aller Tragik dieses Romans bestens amüsiert hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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