Frei von materiellen Sorgen und ohne eine wirkliche Aufgabe loten James' Helden ihre Bestimmung vornehmlich auf Reisen aus: auf dem Weg von der Neuen in die Alte Welt, von der Stadt aufs Land. So flieht der kunstsinnige Mr. Locksley nach einer Trennung aus der von gesellschaftlichen Pflichten regierten Metropole New York in die ländliche Idylle Neuenglands. Die Liebe zu einer unschuldigen Fischertochter bahnt sich an. Doch nichts ist, wie es zunächst scheint.
Trug oder Wirklichkeit? Drama oder Lustspiel? Trotz großer realistischer Genauigkeit gelingt es Henry James, die Gefühle seiner Helden und den Ausgang der Handlung in der Schwebe zu halten. In den hier ausgewählten Kabinettstücken, die zwischen 1866 und 1884 entstanden, treibt er gewohnt virtuos sein Spiel mit Ahnung und Zweifel der Leser.
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Zu viel Ehrlichkeit schadet der Braut: In seinen frühen, nun erstmals ins Deutsche übersetzten Erzählungen erweist sich Henry James als durchtriebener Darsteller des Liebes- und Ehelebens.
Von Jürgen Kaube
Erinnern Sie sich noch, wie die Verlobung des jungen Locksley platzte, als er mitbekam, dass Josephine Leary es auf sein Geld abgesehen hatte? Haben Sie schon gehört, dass Diana Belfield einen Todkranken geheiratet hat, nur damit er glücklich sollte sterben können? Aber dass Ambrose Tester jetzt doch sein Eheversprechen eingelöst hat, das wissen Sie? Nur die Gräfin, die hat ihren Benvolio nach all dem Hin und Her am Ende doch verloren.
Die hier erstmals und von Ingrid Rein sehr gelungen ins Deutsche übersetzten Geschichten, die Henry James erzählt, sind ihrem Stoff nach Klatschgeschichten. Sie handeln von Personen, die interessante Liebesirrtümer begehen. Indem sie etwas Echtes suchen und nicht merken, dass nur komplizierte Leute einfach leben wollen ("Ein Landschaftsmaler"). Oder indem sie sich Frauen als Träger ihrer Phantasien vorstellen und darum die Zahl der Frauen, die sie brauchen wie Polytheisten die ihrer Götter, nach der Zahl der Phantasien festlegen ("Benvolio"). Oder indem sie selbst in ihren Entscheidungen zwischen Ehe und Liebe - "er entschuldigte seine Unbeständigkeit in einer Sache damit, dass er in einer anderen sehr beharrlich war" - sich als entschlussunfähig erweisen ("Der Weg der Pflicht").
Klatschgeschichten entstehen daraus, weil James das Moralisieren, das sie begleitet, selber völlig moralfrei behandeln kann. Klatsch ist Ausbeutung der Moral. Anders als bei der Henry James so sehr verwandten Jane Austen hängt zur Zeit der Entstehung seiner Erzählungen, zwischen 1866 und 1884, nicht mehr viel gesellschaftlich Entscheidendes an den Liebesumwegen und Heiraten. Letztere sind über Vermögensunterschiede hinweg denkbar. Wenn einmal erwähnt wird, eine Frau sei von vornehmer Herkunft, folgt daraus wenig für ihren komparativen Standesvorteil im Liebeswerben. Die meisten Beteiligten sind ohnehin Rentiers, denn es ist die Zeit der arbeitslosen Einkommen, in der sie leben. Entsprechend wird nicht um die Ehen gekämpft, und fast scheint es, als wolle James mitteilen, dass die Vorstellung und der Wille allein der Paarbildung noch keine Kraft verleihen. Dass sie einander gefallen, steht mitunter außer Frage, aber was sie miteinander anfangen wollen, ist meistens völlig unklar.
Insofern hält der Klatsch auch legitimerweise sein Gericht über Gefühle, die eigentlich mehr vorläufige Entschlussfassungen zu Gefühlen sind. Henry James verfügt über eine hinreißend bösartige Dezenz im Kommentieren dieser Art von Dummheit. Der junge Locksley, der sich aus Enttäuschung über die Geldgier seiner Ex-Verlobten an einen Strand flüchtet, an dem er Selbstfindung spielt - "Ich habe einen Neubeginn gewagt. Ich habe beschlossen, einzig und allein auf meine eigenen Verdienste zu bauen. Scheitere ich damit, werde ich auf meine Millionen zurückgreifen" -, wird ganz zu Recht von einer Kapitänstochter geentert, die ihm voraus hat, dass sie sich über die Täuschungsabsichten in jedem Flirt nicht täuscht.
Oder nehmen wir das durchtriebenste Stück des Bandes, "Der Weg der Pflicht". Ein junger Mann ist in eine Lady verliebt, die aber ist verheiratet. Als sein Vater ihn drängt, eine Ehe einzugehen, wählt er ein Mädchen, das den Nachteil hat, alle Vorzüge zu besitzen, außer den, von ihm geliebt zu werden. Da stirbt der Gatte der Lady, und der junge Mann entscheidet sich um. Aber das kann er der Verlobten nicht selber sagen. Doch wo kämen wir denn hin, fragt die leicht eifersüchtige Erzählerin, in die sich James verwandelt, wenn man Versprechen nur so lange hielte, wie es einem gerade passt? Es ist dieselbe Erzählerin, die dem jungen Mann vorhält, Ehrlichkeit gegenüber der Braut brächte sie, die Braut, ziemlich sicher um.
Wäre es aber andererseits nicht ebenso ruchlos, an der geplanten Heirat festzuhalten und dann eine Affäre nebenher laufen zu lassen? Das Mitgefühl der Beobachter verteilt sich so auf alle drei Beteiligten. Doch auch das überzieht James noch mit Zweifeln: Steckt im Rat der Außenstehenden in Liebesdingen nicht in erster Linie das Bedürfnis danach, klatschfähige Verhältnisse herbeizuführen? Sie rufen "Folge deinem Gefühl!", aber nicht um des Gefühls willen, sondern weil das die Spannung erhalten würde.
Dann stirbt der Vater der Verlobten, was ein wenig Aufschub bringt. Den nutzt der junge Mann, um seiner Vertrauten nahezulegen, sie möge der Lady klarmachen oder besser: ihr gegenüber bestätigen, dass er die Verlobte ehelichen müsse, alles andere würde sie töten. Ebendas geschieht. Die Lady findet sehr demonstrativ, dass sie es sich schuldig ist, nichts Unrichtiges zu tun, und verzichtet. Aber nicht ohne eine Paarbildung höherer Stufe durchzusetzen. Sie tritt in heftigen Briefwechsel mit ihrem Entsagungsgenossen: "offenkundig waren die beiden entschlossen, sich von nun an gegenseitig davon zu überzeugen, dass die Fackel der Tugend ihnen mit ihrem Schein den Weg wiese, und offenkundig konnten sie sich gegenseitig gar nicht genug davon überzeugen." Das geheiratete Mädchen hingegen wird unglücklich und verwelkt, weil ihr Mann und die Lady nunmehr ganz damit beschäftigt sind, die Monstranz der Tugendnormerfüllung vor sich herzutragen.
Bis auf den Schluss, den man nur erzählen kann, ist das im Grunde ein Bühnenwerk. An Henry James, einem Bruder Hendrik Ibsens, ist ein großer Dramatiker verlorengegangen. Mit Ibsen teilt er den Sinn für den Begriff "Lebenslüge". Wie sich kleine Alltagsverlogenheiten, um die niemand herumkommt, zu kompakten Irrtumsbiographien entwickeln können, hat er am besten dargestellt. Insofern ist hier ein bissiger, kluger Autor zu entdecken.
In seinem schönen instruktiven Nachwort notiert Elmar Krekeler, dass einem James in seiner eigenen Unentschiedenheit zwischen Konvention und Normverstoß sowohl an die Nieren wie auf die Nerven geht. Das stimmt zumindest, was die Nerven betrifft. Jede dieser Geschichten liest man mit der Frage, weshalb so viel Unverstand in dem sich äußert, was für alle das Wichtigste scheint: im Liebesleben.
Henry James: "Benvolio". Erzählungen. Aus dem Englischen von Ingrid Rein. Mit einem Nachwort von Elmar Krekeler. Manesse Verlag, München 2009. 416 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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