Ein dramatisches Schicksal überschattet die Liebe von Beren und Lúthien. Sie gehört den unsterblichen Elben an, während er ein Sterblicher ist. In seiner tiefen Abneigung gegen alle Menschen zwingt ihr Vater, ein großer Elbenfürst, Beren eine unlösbare Aufgabe auf: Bevor dieser Lúthien heiraten darf, muss er von Melkors Krone einen Silmaril rauben. Den Leser erwartet die schönste Geschichte Tolkiens. Unerschrocken macht sich Beren auf den Weg, den Silmaril für seine Liebe zu gewinnen. Da setzt Melkor, auch Morgoth der Schwarze Feind genannt, die fürchterlichsten Kreaturen - skrupellose Orks und schlaue Wölfe - gegen Beren ein. Aber die Liebe zwischen Lúthien und Beren reicht buchstäblich über den Tod hinaus. Diese ohne Übertreibung schönste Geschichte Tolkiens ist in nicht endgültiger Form Bestandteil des »Silmarillion«, des »Buchs der Verschollenen Geschichten« und des »Leithian Liedes«. Christopher Tolkien hat versucht, die Erzählung von Beren und Lúthien aus dem umfangreichen Werk, in das sie eingebettet ist, herauszulösen. Er erzählt sie mit den Worten seines Vaters: zunächst in ihrer ursprünglichen Form, dann gemäß späteren Texten. So wird sie in ihrem Wandel dargestellt. Die hier erstmals zusammen präsentierten Texte enthüllen Aspekte, die sowohl was die Handlung, als auch was die erzählerische Unmittelbarkeit anbelangt, später verlorengegangen sind.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2017Ein Silmaril von Melkos Krone? Wenn's weiter nichts ist!
Diese Orks sind schon so fies wie im "Herrn der Ringe": Christopher Tolkien versammelt die "Beren und Lúthien"-Dichtungen seines Vaters
Wenn die Not groß ist, wenn der Feind irgendwo da draußen lauert, aber noch keine Anstalten macht, sich zu zeigen, wenn das Warten allzu zermürbend ist, dann schadet Ablenkung nicht. Der Waldläufer Aragorn jedenfalls, der mit seinen Reisegefährten, den Hobbits, auf einem Bergvorsprung namens Wetterspitze rastet, singt für sie ein altes Lied, das in einer Reihe von Varianten in ganz Mittelerde verbreitet ist. Es handelt von den Liebenden Beren und Lúthien, einem Menschen und einer Elbenfrau, und dass Aragorn darin seiner eigenen hoffnungslosen Liebe zur Elbin Arwen gedenkt, können die arglosen Hobbits nicht wissen.
Bekanntlich fußt J. R. R. Tolkiens großer Roman "Der Herr der Ringe" auf einer Privatmythologie, die er in lebenslanger Schreibseligkeit entwickelte, zum allergrößten Teil nie publizierte und die trotzdem in Form von Anspielungen oder Zusammenfassungen Eingang in sein veröffentlichtes Werk fand. Nach seinem Tod übernahm es sein 1924 geborener Sohn Christopher Tolkien, den Nachlass zu sichten und wiederum in Teilen herauszugeben - was das für eine Arbeit bedeutet, wie disparat das verstreute Material auf zum Teil mehrfach beschriebenen Zetteln mit seinen vielfach korrigierten Fragmenten ist, lassen Stoßseufzer des Editors erahnen, die sich in den Vorworten zu der inzwischen stattlichen Reihe von posthumen Tolkien-Bänden finden. Die meisten von ihnen enthalten tatsächlich Texte, die den Hintergrund zu den im "Herrn der Ringe" geschilderten Ereignissen aufhellen, meist im sogenannten Ersten Zeitalter angesiedelt: Da sind die Wanderungen diverser Elbenvölker, die sich in den Wäldern Mittelerdes verlieren oder den Weg übers Meer einschlagen und dann in geringerer Zahl wieder zurückkehren, da sind die magischen Steine, die Silmarilli, um deren Besitz Elben untereinander und mit dem bösen Melko (oder Morgoth) streiten, und da sind Menschen, die in tragischer Verstrickung untergehen, wobei Tolkien ganz offensichtlich die "Kullervo"Episode aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala" zum Ausgangspunkt seiner eigenen Dichtung machte.
Ein wesentlicher Erzählstrang unter diesen Geschichten, die J. R. R. Tolkien selbst zu Zyklen zusammenstellte oder dies wenigstens beabsichtigte und die Christopher Tolkien dann unter Titeln wie "Die Geschichte von Mittelerde" oder "Das Silmarillion" bearbeitete und herausgab, ist eben die von Beren und Lúthien. Dieser Tage erscheinen die Textzeugnisse dazu in Auswahl in einem eigenen Band, und der mittlerweile 92 Jahre alte Herausgeber beschreibt in seinem Vorwort den Zweck dieser Ausgabe, die sämtlich bereits bekannte Texte bündele, im Bemühen, gerade die Metamorphose dieses Stoffs unter der Hand seines Vaters anschaulich zu machen. Das jedenfalls gelingt, zudem erscheinen wesentliche Elemente des Beren-Mythos hier erstmals auf Deutsch. Die Frage ist allerdings, ob diese Erweiterung der Textgrundlage in literarischer Hinsicht ein Gewinn ist.
Die Stoffgeschichte von "Beren und Lúthien" reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, als der jung verheiratete Autor, angeregt offenbar durch die Beobachtung seiner in einem Wäldchen tanzenden Frau Edith, eine analoge Szene der ersten Begegnung zwischen dem im Wald herumstreifenden Elben Beren und der Elbin Tinúviel (die spätere Lúthien) entwarf. Die allererste Fassung ist allerdings verloren: Tolkien hat sie ausradiert und bald darauf mit einer neuen Version überschrieben, die sich erhalten hat und den Auftakt zur jetzt vorgelegten Publikation bildet. Sie ist bekannt - eine längere Fassung von ihr findet sich im "Buch der verschollenen Geschichten", das Christopher Tolkien bereits 1983 vorgelegt hatte, zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters. In der ersten erhaltenen Fassung der Liebesgeschichte aber ist Beren noch kein Mensch, sondern Elbe, wenn auch der Hass zwischen den Stämmen kräftig ausgemalt wird, um den Abstand zwischen den beiden zu betonen, die später ein Paar werden sollen: "Furcht und Argwohn" herrschen zwischen den Völkern, und so stößt Beren bei Tinúviels Vater auf taube Ohren, als er um ihre Hand anhält: Er müsse ihm schon einen Silmaril von Melkos Krone bringen, sonst werde das mit der Hochzeit nichts, sagt der Vater feixend.
Tolkien zitiert hier ein uraltes Märchenmotiv: Um das Mädchen zu erringen, erhält der Junge eine unlösbare Aufgabe und macht sich trotzdem auf den Weg. Dazu kommt allerdings einiges von dem, was später Tolkiens Werk prägen sollte. Da sind etwa schon die Orks, "widerwärtige Ausgeburten Melkos, immer unterwegs, Melkos schmutzige Arbeit zu verrichten, Tieren, Elben und Menschen nachstellend, die sie packten und vor ihren Herrn schleppten". Da sind suggestive Schilderungen aus je eigenen kleinen Welten wie die aus dem Palast von Tevildo, dem Fürsten der Katzen: "Diese Hallen waren kaum erleuchtet, sondern erfüllt von Knurren und ohrenbetäubendem Schnurren. Katzenaugen leuchteten überall, wie rote, grüne oder gelbe Lampen glühend, wo die Katzen aus Tevildos Gefolge saßen und mit ihren prachtvollen Schwänzen schlugen oder peitschten; Tevildo selbst thronte über ihnen, eine riesige Katze, pechschwarz und bösartig anzuschauen." Und da sind Sätze, schlicht und gediegen, die ihr Autor direkt aus dem Märchenkosmos zu beziehen scheint, aber auf die ihm eigene Art umformt, etwa wenn Tinúviel von Berens Gefangenschaft erfährt und ruhig verkündet: "Dann muss ich gehen und ihm beistehen, denn ich kenne sonst niemanden, der das tun wird."
Eine der beeindruckendsten Szenen ist, wie sich Tinúviel selbst zu einer Art Rapunzel macht, indem sie ihr Haar mit einem Zauber belegt und fortan allen Segen, der auf ihrer gefährlichen Reise liegt, eben daraus bezieht. Mit Hilfe eines treuen, wild lebenden Hundes befreit sie Beren aus der Gefangenschaft der Katzen, dringt in Melkos Halle ein, tanzt ihn in den Schlaf, flieht gemeinsam mit Beren und einem gestohlenen Silmaril und muss am Ende erleben, wie ihr Geliebter im Kampf gegen einen tollwütigen Wachwolf, der Berens Hand mitsamt dem Silmaril verschlungen hatte, stirbt. Das Ende? Nein, so wird nun eine Variante der Geschichte zitiert, Tinúviel habe den Liebsten vom Totenherrscher erbeten, und der habe sich erweichen lassen.
Damit könnte es sein Bewenden haben, aber Christopher Tolkien zeigt nun in einer Reihe von weiteren Textzeugnissen die Wandlungen des Stoffes an: Namen verändern sich, die Katzen verschwinden, eine Art Proto-Sauron erscheint, andere Elbenherrscher kommen hinzu, und die Liebenden haben Nachkommen wie Elrond, der im "Herrn der Ringe" als Gastgeber der gegen Sauron Verschworenen fungiert. Der Stoff wird komplizierter, seine Formen werden es auch, etwa indem Tolkien ihn als Langgedicht darbietet.
Und das klingt dann so: "Sich selbst verfluchend hauchte graus / Gorlim zuletzt die Seele aus. / Barahir ward beraubt des Lebens, / alle Tapferkeit war vergebens. / Doch Morgoths arger Plan misslang, / die Feinde er nie ganz bezwang, / manche blieben im Widerstand / und lösten auf, was Bosheit band." Dass Tolkien als Lyriker, gerade auch wenn es um das Nachdichten tradierter Formen geht, Beachtliches leisten konnte, zeigen andere Nachlassdichtungen durchaus. Das Lied von Beren und Lúthien aber ist kein Ruhmesblatt, und so interessant der Vergleich mit der früheren Fassung in philologischer Hinsicht ist, so unbefriedigend ist er in ästhetischer.
Aufschlussreich ist immerhin, wie intensiv Tolkien auch noch in der Folge mit dem Stoff beschäftigt war, wozu sein Sohn und Nachlassverwalter eine Reihe von wiederum Prosafassungen anführt. Die Arbeit am "Herrn der Ringe" allerdings überlagerte dann alles. Es scheint so, als wäre das Entstehen des Romans mit dem Verlust weiterer "Beren und Lúthien"-Dichtungen nicht zu teuer bezahlt. Tolkien aber setzte auf den gemeinsamen Grabstein unter den Namen seiner Frau das Wort "Luthien". Und unter den eigenen Namen: "Beren".
TILMAN SPRECKELSEN
J. R. R. Tolkien: "Beren und Lúthien".
Hrsg. von Christopher Tolkien. Bilder von Alan Lee. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Orks sind schon so fies wie im "Herrn der Ringe": Christopher Tolkien versammelt die "Beren und Lúthien"-Dichtungen seines Vaters
Wenn die Not groß ist, wenn der Feind irgendwo da draußen lauert, aber noch keine Anstalten macht, sich zu zeigen, wenn das Warten allzu zermürbend ist, dann schadet Ablenkung nicht. Der Waldläufer Aragorn jedenfalls, der mit seinen Reisegefährten, den Hobbits, auf einem Bergvorsprung namens Wetterspitze rastet, singt für sie ein altes Lied, das in einer Reihe von Varianten in ganz Mittelerde verbreitet ist. Es handelt von den Liebenden Beren und Lúthien, einem Menschen und einer Elbenfrau, und dass Aragorn darin seiner eigenen hoffnungslosen Liebe zur Elbin Arwen gedenkt, können die arglosen Hobbits nicht wissen.
Bekanntlich fußt J. R. R. Tolkiens großer Roman "Der Herr der Ringe" auf einer Privatmythologie, die er in lebenslanger Schreibseligkeit entwickelte, zum allergrößten Teil nie publizierte und die trotzdem in Form von Anspielungen oder Zusammenfassungen Eingang in sein veröffentlichtes Werk fand. Nach seinem Tod übernahm es sein 1924 geborener Sohn Christopher Tolkien, den Nachlass zu sichten und wiederum in Teilen herauszugeben - was das für eine Arbeit bedeutet, wie disparat das verstreute Material auf zum Teil mehrfach beschriebenen Zetteln mit seinen vielfach korrigierten Fragmenten ist, lassen Stoßseufzer des Editors erahnen, die sich in den Vorworten zu der inzwischen stattlichen Reihe von posthumen Tolkien-Bänden finden. Die meisten von ihnen enthalten tatsächlich Texte, die den Hintergrund zu den im "Herrn der Ringe" geschilderten Ereignissen aufhellen, meist im sogenannten Ersten Zeitalter angesiedelt: Da sind die Wanderungen diverser Elbenvölker, die sich in den Wäldern Mittelerdes verlieren oder den Weg übers Meer einschlagen und dann in geringerer Zahl wieder zurückkehren, da sind die magischen Steine, die Silmarilli, um deren Besitz Elben untereinander und mit dem bösen Melko (oder Morgoth) streiten, und da sind Menschen, die in tragischer Verstrickung untergehen, wobei Tolkien ganz offensichtlich die "Kullervo"Episode aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala" zum Ausgangspunkt seiner eigenen Dichtung machte.
Ein wesentlicher Erzählstrang unter diesen Geschichten, die J. R. R. Tolkien selbst zu Zyklen zusammenstellte oder dies wenigstens beabsichtigte und die Christopher Tolkien dann unter Titeln wie "Die Geschichte von Mittelerde" oder "Das Silmarillion" bearbeitete und herausgab, ist eben die von Beren und Lúthien. Dieser Tage erscheinen die Textzeugnisse dazu in Auswahl in einem eigenen Band, und der mittlerweile 92 Jahre alte Herausgeber beschreibt in seinem Vorwort den Zweck dieser Ausgabe, die sämtlich bereits bekannte Texte bündele, im Bemühen, gerade die Metamorphose dieses Stoffs unter der Hand seines Vaters anschaulich zu machen. Das jedenfalls gelingt, zudem erscheinen wesentliche Elemente des Beren-Mythos hier erstmals auf Deutsch. Die Frage ist allerdings, ob diese Erweiterung der Textgrundlage in literarischer Hinsicht ein Gewinn ist.
Die Stoffgeschichte von "Beren und Lúthien" reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, als der jung verheiratete Autor, angeregt offenbar durch die Beobachtung seiner in einem Wäldchen tanzenden Frau Edith, eine analoge Szene der ersten Begegnung zwischen dem im Wald herumstreifenden Elben Beren und der Elbin Tinúviel (die spätere Lúthien) entwarf. Die allererste Fassung ist allerdings verloren: Tolkien hat sie ausradiert und bald darauf mit einer neuen Version überschrieben, die sich erhalten hat und den Auftakt zur jetzt vorgelegten Publikation bildet. Sie ist bekannt - eine längere Fassung von ihr findet sich im "Buch der verschollenen Geschichten", das Christopher Tolkien bereits 1983 vorgelegt hatte, zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters. In der ersten erhaltenen Fassung der Liebesgeschichte aber ist Beren noch kein Mensch, sondern Elbe, wenn auch der Hass zwischen den Stämmen kräftig ausgemalt wird, um den Abstand zwischen den beiden zu betonen, die später ein Paar werden sollen: "Furcht und Argwohn" herrschen zwischen den Völkern, und so stößt Beren bei Tinúviels Vater auf taube Ohren, als er um ihre Hand anhält: Er müsse ihm schon einen Silmaril von Melkos Krone bringen, sonst werde das mit der Hochzeit nichts, sagt der Vater feixend.
Tolkien zitiert hier ein uraltes Märchenmotiv: Um das Mädchen zu erringen, erhält der Junge eine unlösbare Aufgabe und macht sich trotzdem auf den Weg. Dazu kommt allerdings einiges von dem, was später Tolkiens Werk prägen sollte. Da sind etwa schon die Orks, "widerwärtige Ausgeburten Melkos, immer unterwegs, Melkos schmutzige Arbeit zu verrichten, Tieren, Elben und Menschen nachstellend, die sie packten und vor ihren Herrn schleppten". Da sind suggestive Schilderungen aus je eigenen kleinen Welten wie die aus dem Palast von Tevildo, dem Fürsten der Katzen: "Diese Hallen waren kaum erleuchtet, sondern erfüllt von Knurren und ohrenbetäubendem Schnurren. Katzenaugen leuchteten überall, wie rote, grüne oder gelbe Lampen glühend, wo die Katzen aus Tevildos Gefolge saßen und mit ihren prachtvollen Schwänzen schlugen oder peitschten; Tevildo selbst thronte über ihnen, eine riesige Katze, pechschwarz und bösartig anzuschauen." Und da sind Sätze, schlicht und gediegen, die ihr Autor direkt aus dem Märchenkosmos zu beziehen scheint, aber auf die ihm eigene Art umformt, etwa wenn Tinúviel von Berens Gefangenschaft erfährt und ruhig verkündet: "Dann muss ich gehen und ihm beistehen, denn ich kenne sonst niemanden, der das tun wird."
Eine der beeindruckendsten Szenen ist, wie sich Tinúviel selbst zu einer Art Rapunzel macht, indem sie ihr Haar mit einem Zauber belegt und fortan allen Segen, der auf ihrer gefährlichen Reise liegt, eben daraus bezieht. Mit Hilfe eines treuen, wild lebenden Hundes befreit sie Beren aus der Gefangenschaft der Katzen, dringt in Melkos Halle ein, tanzt ihn in den Schlaf, flieht gemeinsam mit Beren und einem gestohlenen Silmaril und muss am Ende erleben, wie ihr Geliebter im Kampf gegen einen tollwütigen Wachwolf, der Berens Hand mitsamt dem Silmaril verschlungen hatte, stirbt. Das Ende? Nein, so wird nun eine Variante der Geschichte zitiert, Tinúviel habe den Liebsten vom Totenherrscher erbeten, und der habe sich erweichen lassen.
Damit könnte es sein Bewenden haben, aber Christopher Tolkien zeigt nun in einer Reihe von weiteren Textzeugnissen die Wandlungen des Stoffes an: Namen verändern sich, die Katzen verschwinden, eine Art Proto-Sauron erscheint, andere Elbenherrscher kommen hinzu, und die Liebenden haben Nachkommen wie Elrond, der im "Herrn der Ringe" als Gastgeber der gegen Sauron Verschworenen fungiert. Der Stoff wird komplizierter, seine Formen werden es auch, etwa indem Tolkien ihn als Langgedicht darbietet.
Und das klingt dann so: "Sich selbst verfluchend hauchte graus / Gorlim zuletzt die Seele aus. / Barahir ward beraubt des Lebens, / alle Tapferkeit war vergebens. / Doch Morgoths arger Plan misslang, / die Feinde er nie ganz bezwang, / manche blieben im Widerstand / und lösten auf, was Bosheit band." Dass Tolkien als Lyriker, gerade auch wenn es um das Nachdichten tradierter Formen geht, Beachtliches leisten konnte, zeigen andere Nachlassdichtungen durchaus. Das Lied von Beren und Lúthien aber ist kein Ruhmesblatt, und so interessant der Vergleich mit der früheren Fassung in philologischer Hinsicht ist, so unbefriedigend ist er in ästhetischer.
Aufschlussreich ist immerhin, wie intensiv Tolkien auch noch in der Folge mit dem Stoff beschäftigt war, wozu sein Sohn und Nachlassverwalter eine Reihe von wiederum Prosafassungen anführt. Die Arbeit am "Herrn der Ringe" allerdings überlagerte dann alles. Es scheint so, als wäre das Entstehen des Romans mit dem Verlust weiterer "Beren und Lúthien"-Dichtungen nicht zu teuer bezahlt. Tolkien aber setzte auf den gemeinsamen Grabstein unter den Namen seiner Frau das Wort "Luthien". Und unter den eigenen Namen: "Beren".
TILMAN SPRECKELSEN
J. R. R. Tolkien: "Beren und Lúthien".
Hrsg. von Christopher Tolkien. Bilder von Alan Lee. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2017Edelstein in
verlorener Hand
Eine abenteuerliche Liebesgeschichte aus
dem Nachlass von J. R. R. Tolkien
VON BURKHARD MÜLLER
Wer seinen Stephen King liebt, dessen Lesehunger wird zuverlässig jedes Jahr mit einem neuen dicken Roman gestillt. Was aber macht, wer J. R. R. Tolkien verehrt? Tolkien ist fast ein halbes Jahrhundert tot, seine große Tetralogie vom Herrn der Ringe einschließlich des Kleinen Hobbit abgeschlossen und nicht erweiterbar. Dazu gibt es für besonders treue Gefolgsleute noch das „Silmarillion“, das die ganze Geschichte jener Welt erzählt, in der die Hobbits und der Ring nur einen späten Spezialfall darstellen. Aber dann?
Dass auch dann der Zustrom an Lektüre nicht versiegt, hat sich Christopher Tolkien zur Lebensaufgabe gemacht, der Sohn; er hat darüber selbst inzwischen das 93. Lebensjahr erreicht. Es ist noch nicht allzu lang her, seit er aus dem Nachlass ein unabgeschlossenes Epos des Vaters über König Artus herausgegeben hat; nun folgt die Geschichte von Beren und Lúthien.
Diese Edition gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Denn zum einen hat J. R. R. Tolkien den Stoff ungezählte Male auf verschiedene Weise in Angriff genommen, in Prosa, Notizen, epischen Gedichten; keine Version stimmt mit der anderen völlig überein, und keine erzählt die Geschichte ganz. Zum anderen hat sie eine abgeschlossene Fassung dann eben doch gefunden; sie ist eingegangen ins „Silmarillion“, und dem Sohn bleibt nichts übrig, als dieses Ganze zu filetieren und Passagen herauszulösen, die er für seinen eingeschränkten Zweck verwenden kann. Immer wieder schaltet sich der Herausgeber mit Kommentaren ein, die den Status des jeweiligen Texts erläutern und von den Umständen sprechen, die Tolkiens bedachtsame und doch chaotische Zettelwirtschaft dem Sichtenden bereitet.
Es geht (dies stellt den unveränderlichen Kern dar) um die Liebe eines ungleichen Paars, der Elbin Lúthien und des Menschen Beren. Beren belauscht Lúthien eines Tages zufällig beim Tanzen, verfällt rettungslos ihrem Charme, gewinnt ihre Gunst, stößt aber auf den Widerstand ihres königlichen Vaters. Dieser stellt ihm eine offensichtlich unmögliche Aufgabe: Nur dann soll er die Tochter erhalten, wenn es ihm gelingt, aus der eisernen Krone des Tyrannen Morgoth einen der drei Silmarils herauszubrechen, Edelsteine, in die das Urlicht der Schöpfung eingeschlossen ist. Beren muss, so der Wortlaut, mit eigener Hand das Kleinod packen. Beren gelingt das Unwahrscheinliche; aber dann beißt ein monströser Wolf ihm die Hand ab, die den Edelstein umschlossen hält. Vors Antlitz des Vaters zurückgekehrt, erklärt Beren, er habe die Bedingung des eigenhändigen Besitzes erfüllt – nur stehe ihm seine Hand leider nicht zur Verfügung, da sie sich im Magen besagten Wolfs befinde. Der Vater, in mythischer Buchstäblichkeit an sein Wort gefesselt, muss ihm die Tochter zähneknirschend überlassen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute? Das entspräche nicht Tolkiens tragischer Weltsicht. Lúthien ist unsterblich, Beren, der von nun an der Einhändige heißt, nicht. Um ihrer Liebe willen opfert sie ihre Unsterblichkeit. Das wäre eigentlich ein wunderbarer Schluss. Doch es handelt sich eben nicht um ein belletristisches, sondern um ein philologisches Buch. Die Gewissenhaftigkeit des Sohnes hat keine Wahl als das Flick- und Stückwerk. Darunter aber verbirgt sich ein tieferes Problem des Vaters, ein unlösbares Formproblem. Von ihm legt die Vielzahl seiner herumtastenden Versuche unfreiwilliges Zeugnis ab.
Tolkien ist der Ahnherr jenes inzwischen zu unvorstellbarer Breite gediehenen Genres, das den Namen der Fantasy trägt. Alle diese Autoren denken sich Stoffe aus, die in einem nicht näher recherchierten Frühmittelalter spielen, und treten diese unbedenklich breit gemäß den Konventionen der zeitgenössischen Romanliteratur. Tolkien hingegen fühlte sich seinem Stoff mit Ernst verpflichtet. Er glaubte an die tiefe Wahrheit, und vielleicht sogar an die Wirklichkeit dessen, was er sagte. Damit aber geriet er in einen Widerstreit zwischen dem Geist seiner Erzählung, der in den Mythen und Sagen der Völkerwanderungszeit wurzelt, und der Notwendigkeit, sich einem Publikum des 20. Jahrhunderts verständlich zu machen.
Tolkien ging (was seine Nachfolger niemals tun) von der Sprache aus. Sie ist ihm Organ seiner Sehnsucht, reines Gefäß jenes Unwiederbringlichen, das nie stattgefunden hat. Er hatte eine Professur für Altenglisch inne, lernte Altgälisch und Altfinnisch hinzu und ersann schließlich das Altelbische. Bloß, wer sollte so etwas lesen? Unter dem Druck der Lektoren ging er den Kompromiss seines Hauptwerks ein, ein Kompromiss, der von ungeheurem Erfolg gekrönt war, der ihn aber gequält haben muss: eine Gegenwartssprache mit einem gerüttelt Maß an stachligem Altertum darin, sodass das Werk sich einem weiten Leserkreis öffnete und doch die Anmutung des „Es war einmal“ behielt. Insbesondere die Unzahl der Eigennamen sorgte dafür, dass die Geschwindigkeit der Lektüre sank und sich ein holdes Verweilen einstellte.
Diesen Kompromiss hat Tolkien in seinen anderen, zunächst nicht publizierten Texten aufgekündigt; er strebte darin eine Sprachgestalt an, die sich dichter am Mittelalter hielt, vor allem in der radikalen Knappheit des Ausdrucks. Die literarischen Formen des Mittelalters waren eher kurz gewesen; doch da es erhebliche Zeit in Anspruch nahm, wenn einer vorlas oder vorsang, während die anderen zuhörten, hatte keiner die Empfindung, dass etwas fehlte. Unter den Bedingungen der Moderne – der stillen Lektüre, der nüchtern-komplexen Syntax – kann solche Kürze nicht mehr die gleiche Wirkung tun. Es hört sich bei Tolkien so an: „Das war ein großer Kummer für Beren, der diesen Ort nicht verlassen mochte, weil er hoffte, dieses schöne Elbenmädchen noch einmal tanzen zu sehen, und auf der Suche nach Tinúviel (= Lúthien) durchstreifte er die wilden Wälder Tag für Tag.“ Vom Hauptsatz hängt ein Relativsatz ab, von diesem ein Kausalsatz, von dem wiederum ein Infinitiv der Absicht, es folgt ein Präpositionalausdruck und ein zweites Hauptsatzprädikat. Sehen, fühlen wir bei solcher Prosa unmittelbar den Schmerz und die Klage? Schwerlich.
Also dann: das epische Lied, der Lay, paargereimte vierhebige Jamben. Hier kommen nun die Übersetzer, Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch, unter erheblichen Druck, da sie diese Form im Deutschen genau so beibehalten wollen. Unter dieser Voraussetzung muss man, was sie zustandebringen, unübertrefflich nennen. „Tinúviel sprach mit schrillem Klang, / der durch das tiefe Schweigen drang: / ,Billig ist’s, was mich hergebracht. / Von Thûs habe aufgemacht / ich mich, von Taur-na-Fuins Schatten, / um dir hier Meldung zu erstatten.‘“
Operation gelungen, Patient tot, möchte man sagen. Die einander dicht folgenden Reime ziehen alle Energie des Textes auf sich, so sehr, dass man kaum noch mitkriegt, worum es in den Versen eigentlich geht. Hinzu kommt, dass diese Form im Deutschen völlig andere Assoziationen weckt als im Englischen. Wilhelm Busch klingt hier für unsere Ohren an, Eugen Roth, die Büttenrede, eine Tradition der schmunzelnden Virtuosität, die dem Tolkien’schen Ernst ins Gesicht schlägt. Wäre es nicht klüger gewesen, zugunsten des Sinns auf den Reim zu verzichten und sich allein mit dem leicht erfüllbaren Metrum zu begnügen?
Die unglückliche Form verdeckt die starken Emotionen, die sich für den Autor mit diesem Stoff verbanden. Beren und Lúthien, das sind er und seine Frau Edith. Edith hatte ihn als ganz jungen Mann durch ihren Tanz und Gesang in Bann geschlagen, er hatte, um sie zu erringen, den starken Widerstand seines Vormunds überwinden müssen, mit ihr verbrachte er mehr als sechzig Jahre. Auf den gemeinsamen Grabstein setzte er unter den Namen seiner Frau „Lúthien“ und sorgte dafür, dass unter seinem eigenen (er überlebte sie nur um zwei Jahre) der Name „Beren“ stand. So fand er am Ende doch die knappe, gültige Textgestalt, um die er sein ganzes Leben gerungen hatte.
J. R. R. Tolkien: Beren und Lúthien. Hg. v. Christopher Tolkien. Mit Illustrationen von Alan Lee. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch. Klett-Cotta 2017, 304 S.
Es handelt sich hier um ein
philologisches, nicht um ein
belletristisches Werk
Tolkien ging immer von der
Sprache aus. Sie ist ihm
das Organ seiner Sehnsucht
Die fast unerreichbare Frau: Edmund Blair Leightons Gemälde „My Fair Lady“ (1914).
Foto: Mauritius Images
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verlorener Hand
Eine abenteuerliche Liebesgeschichte aus
dem Nachlass von J. R. R. Tolkien
VON BURKHARD MÜLLER
Wer seinen Stephen King liebt, dessen Lesehunger wird zuverlässig jedes Jahr mit einem neuen dicken Roman gestillt. Was aber macht, wer J. R. R. Tolkien verehrt? Tolkien ist fast ein halbes Jahrhundert tot, seine große Tetralogie vom Herrn der Ringe einschließlich des Kleinen Hobbit abgeschlossen und nicht erweiterbar. Dazu gibt es für besonders treue Gefolgsleute noch das „Silmarillion“, das die ganze Geschichte jener Welt erzählt, in der die Hobbits und der Ring nur einen späten Spezialfall darstellen. Aber dann?
Dass auch dann der Zustrom an Lektüre nicht versiegt, hat sich Christopher Tolkien zur Lebensaufgabe gemacht, der Sohn; er hat darüber selbst inzwischen das 93. Lebensjahr erreicht. Es ist noch nicht allzu lang her, seit er aus dem Nachlass ein unabgeschlossenes Epos des Vaters über König Artus herausgegeben hat; nun folgt die Geschichte von Beren und Lúthien.
Diese Edition gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Denn zum einen hat J. R. R. Tolkien den Stoff ungezählte Male auf verschiedene Weise in Angriff genommen, in Prosa, Notizen, epischen Gedichten; keine Version stimmt mit der anderen völlig überein, und keine erzählt die Geschichte ganz. Zum anderen hat sie eine abgeschlossene Fassung dann eben doch gefunden; sie ist eingegangen ins „Silmarillion“, und dem Sohn bleibt nichts übrig, als dieses Ganze zu filetieren und Passagen herauszulösen, die er für seinen eingeschränkten Zweck verwenden kann. Immer wieder schaltet sich der Herausgeber mit Kommentaren ein, die den Status des jeweiligen Texts erläutern und von den Umständen sprechen, die Tolkiens bedachtsame und doch chaotische Zettelwirtschaft dem Sichtenden bereitet.
Es geht (dies stellt den unveränderlichen Kern dar) um die Liebe eines ungleichen Paars, der Elbin Lúthien und des Menschen Beren. Beren belauscht Lúthien eines Tages zufällig beim Tanzen, verfällt rettungslos ihrem Charme, gewinnt ihre Gunst, stößt aber auf den Widerstand ihres königlichen Vaters. Dieser stellt ihm eine offensichtlich unmögliche Aufgabe: Nur dann soll er die Tochter erhalten, wenn es ihm gelingt, aus der eisernen Krone des Tyrannen Morgoth einen der drei Silmarils herauszubrechen, Edelsteine, in die das Urlicht der Schöpfung eingeschlossen ist. Beren muss, so der Wortlaut, mit eigener Hand das Kleinod packen. Beren gelingt das Unwahrscheinliche; aber dann beißt ein monströser Wolf ihm die Hand ab, die den Edelstein umschlossen hält. Vors Antlitz des Vaters zurückgekehrt, erklärt Beren, er habe die Bedingung des eigenhändigen Besitzes erfüllt – nur stehe ihm seine Hand leider nicht zur Verfügung, da sie sich im Magen besagten Wolfs befinde. Der Vater, in mythischer Buchstäblichkeit an sein Wort gefesselt, muss ihm die Tochter zähneknirschend überlassen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute? Das entspräche nicht Tolkiens tragischer Weltsicht. Lúthien ist unsterblich, Beren, der von nun an der Einhändige heißt, nicht. Um ihrer Liebe willen opfert sie ihre Unsterblichkeit. Das wäre eigentlich ein wunderbarer Schluss. Doch es handelt sich eben nicht um ein belletristisches, sondern um ein philologisches Buch. Die Gewissenhaftigkeit des Sohnes hat keine Wahl als das Flick- und Stückwerk. Darunter aber verbirgt sich ein tieferes Problem des Vaters, ein unlösbares Formproblem. Von ihm legt die Vielzahl seiner herumtastenden Versuche unfreiwilliges Zeugnis ab.
Tolkien ist der Ahnherr jenes inzwischen zu unvorstellbarer Breite gediehenen Genres, das den Namen der Fantasy trägt. Alle diese Autoren denken sich Stoffe aus, die in einem nicht näher recherchierten Frühmittelalter spielen, und treten diese unbedenklich breit gemäß den Konventionen der zeitgenössischen Romanliteratur. Tolkien hingegen fühlte sich seinem Stoff mit Ernst verpflichtet. Er glaubte an die tiefe Wahrheit, und vielleicht sogar an die Wirklichkeit dessen, was er sagte. Damit aber geriet er in einen Widerstreit zwischen dem Geist seiner Erzählung, der in den Mythen und Sagen der Völkerwanderungszeit wurzelt, und der Notwendigkeit, sich einem Publikum des 20. Jahrhunderts verständlich zu machen.
Tolkien ging (was seine Nachfolger niemals tun) von der Sprache aus. Sie ist ihm Organ seiner Sehnsucht, reines Gefäß jenes Unwiederbringlichen, das nie stattgefunden hat. Er hatte eine Professur für Altenglisch inne, lernte Altgälisch und Altfinnisch hinzu und ersann schließlich das Altelbische. Bloß, wer sollte so etwas lesen? Unter dem Druck der Lektoren ging er den Kompromiss seines Hauptwerks ein, ein Kompromiss, der von ungeheurem Erfolg gekrönt war, der ihn aber gequält haben muss: eine Gegenwartssprache mit einem gerüttelt Maß an stachligem Altertum darin, sodass das Werk sich einem weiten Leserkreis öffnete und doch die Anmutung des „Es war einmal“ behielt. Insbesondere die Unzahl der Eigennamen sorgte dafür, dass die Geschwindigkeit der Lektüre sank und sich ein holdes Verweilen einstellte.
Diesen Kompromiss hat Tolkien in seinen anderen, zunächst nicht publizierten Texten aufgekündigt; er strebte darin eine Sprachgestalt an, die sich dichter am Mittelalter hielt, vor allem in der radikalen Knappheit des Ausdrucks. Die literarischen Formen des Mittelalters waren eher kurz gewesen; doch da es erhebliche Zeit in Anspruch nahm, wenn einer vorlas oder vorsang, während die anderen zuhörten, hatte keiner die Empfindung, dass etwas fehlte. Unter den Bedingungen der Moderne – der stillen Lektüre, der nüchtern-komplexen Syntax – kann solche Kürze nicht mehr die gleiche Wirkung tun. Es hört sich bei Tolkien so an: „Das war ein großer Kummer für Beren, der diesen Ort nicht verlassen mochte, weil er hoffte, dieses schöne Elbenmädchen noch einmal tanzen zu sehen, und auf der Suche nach Tinúviel (= Lúthien) durchstreifte er die wilden Wälder Tag für Tag.“ Vom Hauptsatz hängt ein Relativsatz ab, von diesem ein Kausalsatz, von dem wiederum ein Infinitiv der Absicht, es folgt ein Präpositionalausdruck und ein zweites Hauptsatzprädikat. Sehen, fühlen wir bei solcher Prosa unmittelbar den Schmerz und die Klage? Schwerlich.
Also dann: das epische Lied, der Lay, paargereimte vierhebige Jamben. Hier kommen nun die Übersetzer, Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch, unter erheblichen Druck, da sie diese Form im Deutschen genau so beibehalten wollen. Unter dieser Voraussetzung muss man, was sie zustandebringen, unübertrefflich nennen. „Tinúviel sprach mit schrillem Klang, / der durch das tiefe Schweigen drang: / ,Billig ist’s, was mich hergebracht. / Von Thûs habe aufgemacht / ich mich, von Taur-na-Fuins Schatten, / um dir hier Meldung zu erstatten.‘“
Operation gelungen, Patient tot, möchte man sagen. Die einander dicht folgenden Reime ziehen alle Energie des Textes auf sich, so sehr, dass man kaum noch mitkriegt, worum es in den Versen eigentlich geht. Hinzu kommt, dass diese Form im Deutschen völlig andere Assoziationen weckt als im Englischen. Wilhelm Busch klingt hier für unsere Ohren an, Eugen Roth, die Büttenrede, eine Tradition der schmunzelnden Virtuosität, die dem Tolkien’schen Ernst ins Gesicht schlägt. Wäre es nicht klüger gewesen, zugunsten des Sinns auf den Reim zu verzichten und sich allein mit dem leicht erfüllbaren Metrum zu begnügen?
Die unglückliche Form verdeckt die starken Emotionen, die sich für den Autor mit diesem Stoff verbanden. Beren und Lúthien, das sind er und seine Frau Edith. Edith hatte ihn als ganz jungen Mann durch ihren Tanz und Gesang in Bann geschlagen, er hatte, um sie zu erringen, den starken Widerstand seines Vormunds überwinden müssen, mit ihr verbrachte er mehr als sechzig Jahre. Auf den gemeinsamen Grabstein setzte er unter den Namen seiner Frau „Lúthien“ und sorgte dafür, dass unter seinem eigenen (er überlebte sie nur um zwei Jahre) der Name „Beren“ stand. So fand er am Ende doch die knappe, gültige Textgestalt, um die er sein ganzes Leben gerungen hatte.
J. R. R. Tolkien: Beren und Lúthien. Hg. v. Christopher Tolkien. Mit Illustrationen von Alan Lee. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch. Klett-Cotta 2017, 304 S.
Es handelt sich hier um ein
philologisches, nicht um ein
belletristisches Werk
Tolkien ging immer von der
Sprache aus. Sie ist ihm
das Organ seiner Sehnsucht
Die fast unerreichbare Frau: Edmund Blair Leightons Gemälde „My Fair Lady“ (1914).
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»Tolkien erzählt nicht nur eine romantische Geschichte von einer Liebe, die so stark ist, dass sie alle irdischen Hemmnisse, ja sogar selbst den Tod überwindet. Christopher Tolkiens wunderbar detailscharfe Edition von "Beren und Lúthien" lässt vor allem eines deutlich werden: wie komplex die Entstehungsgeschichte des erzählerischen Kosmos von Mittelerde verlief ... Das mitzuerleben ist eines der großen Leseabenteuer unserer Gegenwart.« Denis Scheck, Druckfrisch, 03.07.2017 Denis Scheck druckfrisch. Neue Bücher mit Denis Scheck 20170703