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Franz Biberkopfs späte Erbin: Das Romandebüt der aus Russland stammenden Nellja Veremej ist eine verzaubernde Liebeserklärung an eine rauhe Stadt.
Auf dem Nachttisch von Herrn Seitz liegt ein zerlesenes Exemplar von "Berlin Alexanderplatz". Sein Vater kommt im Buch als einer der vielen Komparsen vor, er springt mit zwei gelben Paketen im Arm am Rosenthaler Platz von der Tram und hat dabei, wie es bei Döblin mit den Worten des Schupos heißt, "Schwein gehabt mit seine Pakete". Herr Seitz ist auch jenseits von Alfred Döblins Werken ziemlich bildungsfest, er war Journalist bei einer Ostberliner Zeitung, mit Büro in der Karl-Liebknecht-Straße und Blick auf den Alex. Dann kam die Wende und für Herrn Seitz die Frührente. Das ist jetzt fast ein viertel Jahrhundert her, und inzwischen benötigt der ältere Herr Hilfe in den Dingen des täglichen Lebens.
Die bekommt er von Lena, die auch belesen ist, weil sie einst in Leningrad Philologie studiert hat. Ihre Wende hieß Perestroika, der folgten Chaos und die Idee, mit Mann und Tochter nach Deutschland auszuwandern. Schura, ihr Mann, ist ein Hallodri, ein windiger Geschäftemacher, der nach jedem kaufmännischen Flop für Wochen in die Depression absackt. Seit Jahren leben beide getrennt. Längst hat Lena ihre hochfliegenden Träume von Kunst und Kommerz auf den Schultern der begabten Tochter abgelegt, und wie so viele Neuberliner aus fernen Landen die Not in eine Tugend verwandelt. Seit geraumer Zeit pflegt sie die kränkelnden und vergesslichen Rentner der Stadt. Wie einst Döblins Biberkopf, so begleiten wir heute die schöne Mittvierzigerin aus dem Osten ein gutes Jahr durch die urbane Landschaft ihres unbehausten Lebens, von Weihnachten zu Weihnachten, von Hoffnung zu Hoffnung, von Dunkelheit zu Dunkelheit.
Lena und Herr Seitz teilen nicht nur die Liebe zur Kultur des Ostens, der Osten ist auch ein Schatten, den beide wie Adelbert von Chamissos Peter Schlehmil nicht loswerden. Sie haben einen Großteil ihres Lebens unter roten Fahnen verbracht, die Antennen bleiben noch immer nach links gerichtet, auch wenn sie sich alle Mühe geben, sie stets geradezu rücken. "Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und lächerlich waren."
In der Torstraße, im einstigen jüdisch geprägten Scheunenviertel, ist Ulf Seitz großgeworden, als ein Kind, das den Vater im Krieg und die Mutter an die Russen, die sie vergewaltigten, verlor. Doch dann schien es aufwärts zu gehen, mit Frau und Sohn lebte er bescheiden und glücklich weiter in jener Torstraßenwohnung, bis das Lebensglück zerbarst wie die ideologische Zukunftsvision. "Go West?" nannte er seine letzte große und ziemlich staatstragende Reportage über DDR-Flüchtlinge im Westen, für die der Konsum zum Tanz ums goldene Kalb geworden war. Wenig später tanzte der ganze Staat kollektiv gen Westen, nur Herr Seitz, so scheint es, ging nicht mit. Geblieben sind ihm die Wohnung und die Erinnerung und eine Unbehaustheit in den neuen Verhältnissen, an die er schließlich auch den Sohn am fernen Hindukusch verliert, jenen Sohn, der wie Lena im sowjetischen Leningrad studiert hatte und dann keinen rechten Fuß fasste in der neuen Zeit.
Aus einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, zaubert die 1963 in der Sowjetunion geborene Nellja Veremej eine wundervolle Berlin-Geschichte und einen lebensklugen Wenderoman, eine melancholische Symphonie dieser rauhen Großstadt, die in den vergangenen zwanzig Jahren nahezu die Hälfte ihrer Einwohnerschaft ausgetauscht hat. Es ist ein spätes, reifes Romandebüt, kein Fräuleinwunder- oder Hipster-Buch, eines, das unter den vielen neuen Berlin-Romanen wirklich gefehlt hat, eines, das beim Lesen unter die Haut geht.
Lena wollte immer nach Westen, der Westen aber rückte mit jeder Etappe der Wanderschaft weiter von ihr weg. Im Ural, wo sie geboren wurde, begann er noch gleich hinter den Bergen, vom Nordkaukasus aus betrachtet war Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, ein Stück der weiten Welt, und von dort wiederum schien Berlin im gelobten Abendland zu liegen. Jetzt klebt Lena der Osten am Gaumen und an den Sohlen. Im russischen Lebensmittelladen "Heimat" in der Torstraße essen die Neuberliner Salami mit Brot und lästern über Trennkost, deutsche Geschmacksverstärker, das verworrene Schulsystem hierzulande und saure deutsche Heringe, "aber da, wo die Heringe salzig und die Halwa süß ist, wollen wir eigentlich nicht hin. Haben wir dafür Tausende Kilometer zurückgelegt?"
Heimat ist eben eine ziemlich vertrackte Sache, sie ist irgendwie immer da, wo man gerade nicht ist. Mit dem Erfolg und der Liebe verhält es sich in aller Regel ebenso. Ein Arzt aus München kommt mit dem ersten Schnee, doch dann ist alles plötzlich schon wieder ganz anders. Als die Mutter im Kaukasus einsam in einem Krankenhaus stirbt, pflegt Lena die Alten in Berlin. Als sie zurück im Haus ihrer Kindheit einsame Nächte verbringt, fühlt sie sich fremder denn je. Das Leben ist eine Kette von Niederlagen, deren Herausforderung darin besteht, sie in einen wenn auch noch so kleinen Sieg zu verwandeln.
In Nellja Veremejs erstem Roman geht es um Lebenslügen und Selbstbetrug, falsche Hoffnungen und richtige, wenn auch späte Einsichten, um Sehnsucht und darum, wie man das Flüchtige der Städte bewohnt. Berlin, jene Durchgangsstation, wie Joseph Roth es einmal formulierte, in der man aus zwingenden Gründen länger bleibt, bietet dafür wie vor fast hundert Jahren eine grandiose Bühne. Dass dieses Buch bei Jung und Jung, einem in Salzburg und Wien ansässigen Verlag mit großartigem Gespür für literarische Talente, erscheint, ist für das kulturell so selbstbewusst auftrumpfende und protzende Berlin kein Ruhmesblatt. Berlin liegt zwar schon im Osten, aber Wien liegt eben doch noch ein bisschen östlicher.
SABINE BERKING
Nellja Veremej: "Berlin liegt im Osten". Roman.
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2013. 315 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zumindest für Lena aus Wladiwostok in Nellja Veremejs komprimiertem Roman „Berlin liegt im Osten“. Inklusive One-Night-Stand
Vielleicht geht es gar nicht anders. Vielleicht muss man wie die 1963 in der UdSSR geborene Schriftstellerin Nellja Veremej wirklich erst durch die harte Schule des Historischen Materialismus gegangen sein, um so einfühlsam über das Private schreiben zu können. In Nellja Veremejs Debütroman „Berlin liegt im Osten“, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, sind die besten Momente jedenfalls jene, die der Ich-Erzählerin Lena, einer russischen Emigrantin, die in Berlin als Altenpflegerin arbeitet, eigentlich peinlich sind. Etwa wenn sie sich gegen jedes Selbstverständnis auf ein romantisches Verhältnis zu ihrem greisen Schützling Ulf Seitz einlässt. Oder wenn der alleinerziehenden Mittvierzigerin ein berauschender One-Night-Stand unterläuft, dessen größter Makel darin besteht, am Ende gerade eben nicht verhängnisvoll, sondern so ganz erwartbar auch schon wieder vorbei zu sein. Oder wenn sie sich im russischen Delikatessenladen in der Torstraße unter ihresgleichen so ärgerlich wohlfühlt. Oder wenn sie wieder einmal Schura davonjagt, den charmanten, begabten, nachlässigen Vater ihrer Tochter, in den sie sich schon in der Schule verliebt hat und der heute einer dieser windigen Glücksritter ist, die im Kapitalismus entweder verhungern oder steinreich werden. Schura, so viel sei hier verraten, tendiert zum Verhungern, deshalb taucht er immer wieder in der Plattenbauwohnung auf, die Lena mit ihrer Tochter bewohnt, und bittet um eine Anschubfinanzierung für sein nächstes Millionenprojekt.
Die Kompassnadel des Romans zeigt beharrlich nach Westen: Wir erfahren, dass Lena im sowjetischen Wladiwostok geboren wurde, jedoch so bald wie möglich mit Schura nach Leningrad gezogen ist, wo das junge Paar während der Perestroika Nacht für Nacht in den Diskotheken, die überall aus dem Boden schossen, „auf den Scherben des Imperiums“ getanzt hat. Als die Stadt wieder Sankt Petersburg hieß, zogen sie weiter nach Berlin. Mit ihrer kleinen Tochter landen sie zunächst in einem Auffanglager am westlichen Stadtrand und erkunden von dort die Stadt. Bei diesen Spaziergängen wähnen sie sich im Berlin des 19. Jahrhunderts, sie träumen von philosophischen Salons und Schlegel. Im Grunde also vom Deutschland Tolstois: Seitdem in „Anna Karenina“ die Fürstin Schtscherbazkaja ihre Tochter Kitty zu einem Kuraufenthalt nach Deutschland begleitet hat, ist kaum eine russische Romanfigur mehr so beseelt über deutsche Bürgersteige geschwebt. Später bezieht das Paar eine saubere Wohnung in einem Marzahner Plattenbau mit warmem Wasser und Zentralheizung. Sie stehen auf dem Balkon und können kaum fassen, dass der Westen tatsächlich seine Versprechen hält.
Im Roman-Jetzt ist das alles lange her, Schura ist aus dem Haus, die Tochter wächst als Deutsche auf und Lena kümmert sich um Herrn Seitz, die zweite Hauptfigur des Romans, den alten Mann, zu dem Lena eine quasi-erotische Beziehung aufbaut, für die sie sich von ihrer Tochter aufziehen lassen muss. Ulf Seitz ist in Berlin-Mitte geboren und war sein Leben lang ein redlicher Opportunist, der seine Anweisungen bevorzugt übererfüllte und es jenen verübelte, die es anders hielten. Auf diese Weise manövrierte er sich leidlich unversehrt durch eine Kindheit im späten Nationalsozialismus, eine Journalistenkarriere in der DDR und schließlich die Frührente in der BRD. Dabei verließ er selten einen Radius von vielleicht zwei Kilometern um den Berliner Alexanderplatz. Lena hat Tausende Kilometer zurückgelegt, nur um ihre Träume trotzdem nicht zu verwirklichen. Ulf Seitz ist der Verlauf der Geschichte nur so um die Ohren geflogen, ohne dass er dafür auch nur vor die Tür musste. Als sie sich begegnen, haben sich beide so weit mit ihrer eigenen Torheit versöhnt, dass sie die Kraft aufbringen, milde ihren Kindern hinterherzuschauen: Ulf Seitz’ Sohn nimmt eine Stelle bei „East Security Consulting“ in Karatschi an, Lenas Tochter spart auf einen Aufenthalt in den USA.
Obwohl der Roman nur von ein paar Wochen aus dem Leben der russischen Altenpflegerin Lena erzählt, umfasst er doch eine erzählte Zeit von vier Generationen. Der assoziative, nie plauderhafte Stil Veremejs beherrscht ganze Lebensläufe in wenigen Federstrichen. Wir reisen mit der Familie einmal um den Globus, von Wladiwostok über „Berlin Alexanderplatz“ in die USA, wohin es die Tochter alsbald verschlagen wird. Veremejs Erzähl-Ich dehnt und komprimiert die Zeit und den Raum nach Belieben, in jedem Blick eines Passanten verbirgt sich ein ganzes Jahrhundert, komplexe Lebensläufe kulminieren in einer Handbewegung. „Das Bewusstsein ist ein Ort außerhalb der Zeit“, heißt es bei Maurice Blanchot.
Bisweilen spürt man, dass die Autorin keine Muttersprachlerin ist und sich noch immer in einem Widerstreit mit der renitenten deutschen Sprache befindet. In den Momenten, in denen sie die Bestie bändigt, verfällt Veremej in das expressionistische Deutsch Alfred Döblins: „Kurz vor Weihnachten kommt hier alles in Bewegung: Es brummt, grölt, rollt, gleitet, saust – entschlossen und unabwendbar, wie laichende Lachse wallen die Menschenmengen durch die verstopften, unter dem hohen Druck leidenden Transportvenen.“ Das ist durchaus auch metaphorisch zu verstehen: Nellja Veremejs Figuren ächzen unter dem Gewicht ihrer eigenen Hinfälligkeit. Dass sie durch diesen Roman am Ende überleben werden, können sie nicht wissen.
FELIX STEPHAN
Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2013. 318 Seiten, 22 Euro .
Seit Tolstoi schwebte kaum eine
russische Romanfigur so beseelt
über deutsche Bürgersteige
Auf der Longlist des deutschen Buchpreises: Nellja Veremej.
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