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Heinrich Deterings Analyse von Brechts Taoismus
Was der Göttinger Literaturwissenschaftler auf kaum mehr denn hundert Seiten als Konzentrat vorlegt, wiegt leicht dicke Monographien auf. Wer Texte so subtil und klar wie Heinrich Detering von literaturgeschichtlichen, ästhetischen, philosophischen, religions- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen her zu deuten versteht, kann auf angestrengte literaturtheoretische Klimmzüge verzichten. Sein Buch "Bertolt Brecht und Laotse" räumt mit der Vorstellung einer klaren Entwicklungslinie vom vitalistischen Brecht zum Parteigänger des "Proletariats" endgültig auf und führt den Beweis am Fallbeispiel seines berühmten Gedichts "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration" (1938).
Brecht selbst bestätigt schon in einer Tagebuchaufzeichnung vom September 1920 seine Übereinstimmung mit dem chinesischen Philosophen aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. Kennengelernt hat er die Sprüche des Laotse in der Übersetzung des Sinologen Richard Wilhelm (1911). Dessen Übertragung nähert sich immer wieder Begriffen und Gleichnissen der Bibel (zumal der Lutherbibel), von deren Sprache, nach eigenem Zeugnis, Brechts Dichtung mitgeprägt worden ist.
Die Rezeption von Gedanken Laotses hat, obwohl sie später als die des Buddhismus und des Hinduismus einsetzt, ihre europäische Geschichte. Detering rollt sie in einem faszinierenden Überblick auf. Mit dem französischen Autor einer Abhandlung über Laotse, Abel-Rémusat, korrespondiert Wilhelm von Humboldt, eine erste freie Übersetzung des Taoteking in Deutschland erscheint 1870. Nun folgen mehrere Übersetzungen und Einführungen, bis, wie Max Weber 1920 bemerkt, die "Beschäftigung mit dem Taoismus ... fast Mode geworden" ist. Zum dichterischen Propheten Laotses wird Klabund, Döblin legt in seinem Roman "Die drei Sprünge des Wang-Iun" (1915) die Prinzipien taoistischen Denkens einer neuen Erzähltechnik zugrunde; bei Brecht weisen vor allem die frühe Lyrik der "Hauspostille" oder das Drama "Baal" "Züge einer genuin taoistischen Poesie" auf. Im September 1920 bekundet Brecht sein Grauen vor den "Kontrollsystemen" der Wirtschaftsorganisationen in Sowjetrussland, vor einer "tatsächlich erreichten Unordnung".
Deterings Analyse der "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking ..." ist zugleich von bestechender Lesbarkeit und Folgerichtigkeit. Sie sucht weitgreifende Stützung der Argumente und prüft philologisch genau die Abweichungen zwischen den Manuskriptfassungen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich Brecht mit den Versen "Dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt" den 78. Spruch des Laotse, überhaupt den Taoismus, zu eigen macht. Quintessenz der Einsicht und Maxime Laotses ist das Nichthandeln, eine andere Art von pazifistischem Verhaltensmuster (Siegen ohne Gewalt!), das dem "revolutionären" Handeln entgegensteht.
Laotse und Lenin also verkörpern zwei grundverschiedene Modelle. So bricht die "Weisheit" des Philosophen in Brechts "Legende" mit der Theorie des "Klassenkampfes". Genauer: Brecht vergisst, bei der Einfügung "klassenbewusster" Elemente die taoistische Motivation zu tilgen. Sichtbar wird so, dass sich die Spannung zwischen Ideen des Taoismus und des Marxismus erhalten hat. Deterings anschließende Untersuchung der Verskunst zeigt, in welchem Maße es Brecht gelingt, im Gedicht ein Muster "taoistischer Metrik" und Poetik zu schaffen. - Dieser große Essay ist ein Markstein in der Brecht-Forschung. Beste Göttinger Schule!
In einem anderen bekannten Gedicht aus dem dänischen Exil, "An die Nachgeborenen", schreibt Brecht mit Blick auf die "finsteren Zeiten": "Ich wäre gern auch weise. / In den Büchern steht, was weise ist ... / Alles das kann ich nicht." In der literarischen Fiktion, in der Figur des Philosophen Laotse, konnte er es.
WALTER HINCK
Heinrich Detering: "Bertolt Brecht und Laotse". Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 112 S., br., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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