Andrzej Stasiuk, den es zuletzt immer stärker in die Ferne zog, richtet seinen Blick in der Beskiden-Chronik auf die nähere Umgebung: das heimatliche Polen, hier und heute. Ein Land, das sich auf eine ungeahnte Weise verändert. Ausgehend von seinem Dorf in den Beskiden, einer Bergregion an der Grenze zur Slowakei, nimmt er die Gegenwart in Augenschein. Der Band versammelt Feuilletons und poetische Miniaturen, die Stasiuk zwischen 2013-2018 für die Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny geschrieben hat. Darin kommentiert er polnische Belange und jene der Welt, die großen Tendenzen der Politik wie die kleinen Begebenheiten des alltäglichen Lebens.
Und manchmal entzieht sich Stasiuk dem Auftrag seines Redakteurs und verschreibt sich dem Reisen, nach Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan, oder der Natur, den Schafen, dem Wind.
Die Stücke der Beskiden-Chronik werfen ein oft ironisches, provokantes Schlaglicht auf polnische Belange und jene der Welt. Von neuer Schärfe, dabei gleichzeitig unprätentiös und von großen Leichtigkeit, erweist sich Stasiuk als ein durchdringender Beobachter der Gegenwart.
Und manchmal entzieht sich Stasiuk dem Auftrag seines Redakteurs und verschreibt sich dem Reisen, nach Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan, oder der Natur, den Schafen, dem Wind.
Die Stücke der Beskiden-Chronik werfen ein oft ironisches, provokantes Schlaglicht auf polnische Belange und jene der Welt. Von neuer Schärfe, dabei gleichzeitig unprätentiös und von großen Leichtigkeit, erweist sich Stasiuk als ein durchdringender Beobachter der Gegenwart.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andrzej Stasiuk kann Feuilleton, hält Rezensent Gerhard Gnauck nach der Lektüre der hier versammelten Kolumnen fest, die in der intellektuellen Krakauer Wochenzeitschrift "Tygodnik Powszechny" erschienen. Der Zeitschrift, die sich durch Weltoffenheit und kritischen Katholizismus auszeichnete und die über Polen hinaus seit Jahrzehnten höchstens Ansehen genoss, wurden inzwischen von der Amtskirche die Redaktionsräume gekündigt, klärt der Kritiker auf, der in den Texten die für Stasiuk typische Mischung aus "Melancholie und Sarkasmus" entdeckt. Der polnische Autor schreibt hier über seine Wahlheimat, die Beskiden, aber auch über Identitäten und Migration, Polen und Europa. Und wenn Stasiuk in einem der Texte die Charlie-Hebdo-Karikaturisten als "arrogante Schnösel" mit "eurozentrisch-provinziellem" Weltbild bezeichnet, die zu Unrecht zu "Märtyrern des freien Wortes" erklärt würden, erkennt der Rezensent verständnisvoll nickend Stasiuks Verständnis für die Bedeutung von Religion und Tradition.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2021Ihn treibt der Dämon der Sehnsucht
Andrzej Stasiuks "Beskiden-Chronik" versammelt die Kolumnentexte des polnischen Schriftstellers.
Als der Pole Andrzej Stasiuk vor gut zwanzig Jahren seinen Siegeszug zu den Lesern quer durch Europa antrat, führte er sich als Schriftsteller ein, der road novels schreibt. Oder der von Ländern und "ganz gewöhnlichen" Leuten, vor allem jenen im Osten und Südosten Europas, berichtet, erzählt, reflektiert. Damals sagte er programmatisch, er wolle sich befreien "von der Tradition der polnischen Literatur, immer die großen Ereignisse zu verhandeln . . . Ich will die Welt beschreiben, wie sie jetzt ist." Die Welt, das war für ihn in seinen ersten Büchern vor allem sein eigenes Land. Er nahm es mit den Augen des Aussteigers wahr, der in den Achtzigerjahren, als die Diktatur alt und grau geworden war, aus einem unattraktiven Warschauer Stadtteil umgesiedelt war in die tiefste Provinz: in die Beskiden, also ein Teilgebirge der Karpaten am Südrand Polens. Ein poetischer Blick von der Peripherie her - auf Polen, dann auch auf eine Region namens Mitteleuropa, schließlich auch ein Blick weit in den Osten, nach Russland, Zentralasien, auch China wurde gestreift. Seit er im Jahre 2000 "Die Welt hinter Dukla" erkundete, hat er Romane und Erzählungen geschrieben, die in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden.
Das vorliegende Buch ist anders: Hier spricht Stasiuk als Feuilletonist (wie man in Polen Kolumnisten im allgemeinen nennt). Die Texte, fast alle nur drei bis vier Seiten lang, sind in den letzten Jahren im Krakauer Tygodnik Powszechny (Allgemeines Wochenblatt) erschienen. Das Markenzeichen dieser intellektuellen Zeitschrift aus Krakau ist ein weltoffener, gegenüber der Amtskirche kritischer Katholizismus - weswegen ihr immer mehr Leser zulaufen und die Amtskirche ihr gerade die Redaktionsräume gekündigt hat. In solchen Texten ist der Autor gezwungen, die "heutige Welt" stärker oder anders wahrzunehmen als in seinen früheren Büchern. Kann Stasiuk also Feuilleton? Ja, er kann. Seine von früher bekannte Melancholie und sein Sarkasmus scheinen freilich auch jetzt gelegentlich durch.
Auch seine Verbundenheit mit seiner Wahlheimat, den Beskiden und ihrer Flora und Fauna, und insbesondere mit den Schafen, die er sich dort hält, bricht sich hin und wieder Bahn. In imaginierten Dialogen mit seinen Tieren schüttet der Autor sein Herz aus. Früher oder später kommen hier die Zustände in seinem Land ins Spiel: Stasiuk klagt Mania, dem ältesten Schaf, sein Volk sei "feige und hat die Hosen voll" wegen ein paar Tausend hungriger Migranten, die womöglich nach Polen kommen wollten. Deshalb riefen jene, die sich am meisten ängstigten, "einen Hitler zu Hilfe". Sie fürchteten vor allem, durch einen Zustrom von Migranten ihre eigene Identität zu verlieren. Mania schüttelt darüber den Kopf: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich aufhören könnte, ein Schaf zu sein. Es sei denn, es kommt ein Hitler, das heißt ein Wolf."
Um Identitäten geht es auch in einem Text, der zunächst etwas pauschal vom "globalen Geschwätz" handelt. Dann aber kommt Stasiuk auf den islamistischen Mordanschlag auf die Pariser Zeitschrift Charlie Hebdo von 2015 zu sprechen. Natürlich sei er dagegen, Menschen zu erschießen, weil sie Mohammed-Karikaturen publizierten, auch wenn diese womöglich dumm und "überhaupt nicht witzig" seien. "Aber sie zu ,Märtyrern für die Freiheit des Wortes' zu erklären scheint mir ein Missverständnis zu sein, wenn nicht gar eine Dreistigkeit." Die Karikaturisten seien eher unverantwortliche, eurozentrisch-provinzielle "arrogante Schnösel" gewesen, unter deren Aktivitäten jetzt Menschen in anderen Weltgegenden zu leiden hätten, "denen es nie einfallen würde, mit dem Feuer zu spielen und Dinge zu verspotten, die für andere grundlegende Bedeutung haben". Hier spricht einer, der zur Kirche ein distanziertes Verhältnis hat, der jedoch zugleich spürt, was Religion und Tradition für viele Menschen bedeuten.
Stasiuk spricht gerne spöttisch über Polen; über Europa, das er als alten, reichen, satten und matten Kontinent empfindet, redet er skeptisch und manchmal mit einem gleichsam antikolonialistischen Einschlag. Auch die "weltweite Katastrophe" der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten kommt kurz zur Sprache; ausführlicher widmet sich Stasiuk der Reise des "naiven" John Steinbeck 1947 durch die Sowjetunion. Oder er zitiert den Bericht des jungen Czeslaw Milosz, der 1930, mittellos und abenteuerlustig, durch Westeuropa trampte und in Wäldern übernachtete. Stasiuk fühlt sich vor allem im Osten wohl, wie er schreibt. Das Einzige, was ihn dort stört, "ist die unablässige, düstere Gegenwart der Machthaber. Vor allem derjenigen in Uniform." Dennoch treibt ihn ein "Dämon der Sehnsucht" immer wieder dorthin. In dem gleichnamigen Text erinnert er sich an den seinem Wohnort am nächsten gelegenen Grenzübergang, der in die Slowakei führte und der dank EU und Schengen-System nach und nach abstarb. Und er lässt Nostalgie und Fantasie spielen: ob nicht eines Tages die Schlagbäume, die Schalterhäuschen, die Zollbeamten zurückkehren würden? In der Tat: Die Migrationswellen der letzten Jahre und die Pandemie haben gezeigt, dass die Geschichte manchmal rückwärtslaufen kann.
GERHARD GNAUCK
Andrzej Stasiuk: "Beskiden-Chronik". Nachrichten aus Polen und der Welt.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 303 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrzej Stasiuks "Beskiden-Chronik" versammelt die Kolumnentexte des polnischen Schriftstellers.
Als der Pole Andrzej Stasiuk vor gut zwanzig Jahren seinen Siegeszug zu den Lesern quer durch Europa antrat, führte er sich als Schriftsteller ein, der road novels schreibt. Oder der von Ländern und "ganz gewöhnlichen" Leuten, vor allem jenen im Osten und Südosten Europas, berichtet, erzählt, reflektiert. Damals sagte er programmatisch, er wolle sich befreien "von der Tradition der polnischen Literatur, immer die großen Ereignisse zu verhandeln . . . Ich will die Welt beschreiben, wie sie jetzt ist." Die Welt, das war für ihn in seinen ersten Büchern vor allem sein eigenes Land. Er nahm es mit den Augen des Aussteigers wahr, der in den Achtzigerjahren, als die Diktatur alt und grau geworden war, aus einem unattraktiven Warschauer Stadtteil umgesiedelt war in die tiefste Provinz: in die Beskiden, also ein Teilgebirge der Karpaten am Südrand Polens. Ein poetischer Blick von der Peripherie her - auf Polen, dann auch auf eine Region namens Mitteleuropa, schließlich auch ein Blick weit in den Osten, nach Russland, Zentralasien, auch China wurde gestreift. Seit er im Jahre 2000 "Die Welt hinter Dukla" erkundete, hat er Romane und Erzählungen geschrieben, die in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden.
Das vorliegende Buch ist anders: Hier spricht Stasiuk als Feuilletonist (wie man in Polen Kolumnisten im allgemeinen nennt). Die Texte, fast alle nur drei bis vier Seiten lang, sind in den letzten Jahren im Krakauer Tygodnik Powszechny (Allgemeines Wochenblatt) erschienen. Das Markenzeichen dieser intellektuellen Zeitschrift aus Krakau ist ein weltoffener, gegenüber der Amtskirche kritischer Katholizismus - weswegen ihr immer mehr Leser zulaufen und die Amtskirche ihr gerade die Redaktionsräume gekündigt hat. In solchen Texten ist der Autor gezwungen, die "heutige Welt" stärker oder anders wahrzunehmen als in seinen früheren Büchern. Kann Stasiuk also Feuilleton? Ja, er kann. Seine von früher bekannte Melancholie und sein Sarkasmus scheinen freilich auch jetzt gelegentlich durch.
Auch seine Verbundenheit mit seiner Wahlheimat, den Beskiden und ihrer Flora und Fauna, und insbesondere mit den Schafen, die er sich dort hält, bricht sich hin und wieder Bahn. In imaginierten Dialogen mit seinen Tieren schüttet der Autor sein Herz aus. Früher oder später kommen hier die Zustände in seinem Land ins Spiel: Stasiuk klagt Mania, dem ältesten Schaf, sein Volk sei "feige und hat die Hosen voll" wegen ein paar Tausend hungriger Migranten, die womöglich nach Polen kommen wollten. Deshalb riefen jene, die sich am meisten ängstigten, "einen Hitler zu Hilfe". Sie fürchteten vor allem, durch einen Zustrom von Migranten ihre eigene Identität zu verlieren. Mania schüttelt darüber den Kopf: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich aufhören könnte, ein Schaf zu sein. Es sei denn, es kommt ein Hitler, das heißt ein Wolf."
Um Identitäten geht es auch in einem Text, der zunächst etwas pauschal vom "globalen Geschwätz" handelt. Dann aber kommt Stasiuk auf den islamistischen Mordanschlag auf die Pariser Zeitschrift Charlie Hebdo von 2015 zu sprechen. Natürlich sei er dagegen, Menschen zu erschießen, weil sie Mohammed-Karikaturen publizierten, auch wenn diese womöglich dumm und "überhaupt nicht witzig" seien. "Aber sie zu ,Märtyrern für die Freiheit des Wortes' zu erklären scheint mir ein Missverständnis zu sein, wenn nicht gar eine Dreistigkeit." Die Karikaturisten seien eher unverantwortliche, eurozentrisch-provinzielle "arrogante Schnösel" gewesen, unter deren Aktivitäten jetzt Menschen in anderen Weltgegenden zu leiden hätten, "denen es nie einfallen würde, mit dem Feuer zu spielen und Dinge zu verspotten, die für andere grundlegende Bedeutung haben". Hier spricht einer, der zur Kirche ein distanziertes Verhältnis hat, der jedoch zugleich spürt, was Religion und Tradition für viele Menschen bedeuten.
Stasiuk spricht gerne spöttisch über Polen; über Europa, das er als alten, reichen, satten und matten Kontinent empfindet, redet er skeptisch und manchmal mit einem gleichsam antikolonialistischen Einschlag. Auch die "weltweite Katastrophe" der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten kommt kurz zur Sprache; ausführlicher widmet sich Stasiuk der Reise des "naiven" John Steinbeck 1947 durch die Sowjetunion. Oder er zitiert den Bericht des jungen Czeslaw Milosz, der 1930, mittellos und abenteuerlustig, durch Westeuropa trampte und in Wäldern übernachtete. Stasiuk fühlt sich vor allem im Osten wohl, wie er schreibt. Das Einzige, was ihn dort stört, "ist die unablässige, düstere Gegenwart der Machthaber. Vor allem derjenigen in Uniform." Dennoch treibt ihn ein "Dämon der Sehnsucht" immer wieder dorthin. In dem gleichnamigen Text erinnert er sich an den seinem Wohnort am nächsten gelegenen Grenzübergang, der in die Slowakei führte und der dank EU und Schengen-System nach und nach abstarb. Und er lässt Nostalgie und Fantasie spielen: ob nicht eines Tages die Schlagbäume, die Schalterhäuschen, die Zollbeamten zurückkehren würden? In der Tat: Die Migrationswellen der letzten Jahre und die Pandemie haben gezeigt, dass die Geschichte manchmal rückwärtslaufen kann.
GERHARD GNAUCK
Andrzej Stasiuk: "Beskiden-Chronik". Nachrichten aus Polen und der Welt.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 303 S., geb., 23,- [Euro].
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»Hier spricht Stasiuk als Feuilletonist (wie man in Polen Kolumnisten im Allgemeinen nennt). ... Kann Stasiuk also Feuilleton? Ja, er kann.« Gerhard Gnauck Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210608