Inzwischen ist es knapp hundert Jahre alt: Franz Bleis «Großes Bestiarium der Literatur», jenes legendäre Buch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das bei Rowohlt viele Auflagen erlebt hat. Ein neues Bestiarium tritt ihm jetzt an die Seite. Fritz J. Raddatz hat es verfaßt: mit dem nachlässigen Glanz liebevoller Parodie und dem scharfen Blick der Satire, mit Hellsicht, mit Witz, mit märchenhaften, ja phantastischen Pointen überall. Die Größen der deutschen Literatur erscheinen hier als Fabelwesen; der Leser trifft die nach Wien verirrte Möwe Jelinek, eine Meisterin der Resteverwertung, und die Trockenqualle Lenz, die, sobald zerrieben, Grundstoffe für die Farben Emil Noldes bildet. Der Enzensberger und der Goetz treten auf, Grass als Aal, der onanierende Pimpfe verschlingt, oder Martin Mosebach, der «Andenflamingo» genannte Vogel mit dem gravitätischen Gang. Ulla Hahn ist eine Schleichkatze, die Mayröcker ein Silberlöwe, der nicht brüllen kann, und der Ruge ein Seehase. Und das Habermas, eine possierlich-aggressive Primatenart, kann sich durch besondere Ruflaute zum Clanherrscher aufschwingen. Raddatz gelingt ein genußreiches Portrait vieler wichtiger Autoren unserer Zeit: eine Sammlung dichter Leseerfahrung und Leselust, von Klaus Ensikat meisterhaft illustriert.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Martin Halter ist enttäuscht: so schön giftig wie die Tagebuchnotizen von Raddatz liest sich dieses Bestiarium bei weitem nicht. "Flügellahme Literatursatire" statt scharfer Pointen, klagt er. Und bei den Frauen langt Raddatz gern auch mal ganz daneben: "Damenimitator" ist nicht satirisch, sondern nur uncharmant. Da hält sich der Rezensent lieber an die Illustrationen von Klaus Ensikat: der weiß nämlich, was eine spitze Feder ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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