Ruth Whiting, 37, müsste eigentlich glücklich sein. Sie lebt im idyllischen Londoner Umland, hat drei gesunde Kinder, und ihr Zahnarztgatte kommt an den meisten Wochenenden heim. In Wahrheit langweilt sie sich zu Tode, ihr Leben ist eine endlose Aneinanderreihung von Verabredungen mit anderen Vorortfrauen, und bei Kuchen, Sherry und geistlosen Gesprächen verrinnt ihre Zeit. Als ihre 18-jährige Tochter ungewollt schwanger wird, erinnert sich Ruth daran, wie sie jung Mutter wurde, bevor sie überhaupt wusste, wer sie war. Jetzt will sie alles dafür tun, ihrer Tochter eine freie Entscheidung zu ermöglichen. In ihrem 1958 erstmals veröffentlichten Roman seziert Penelope Mortimer mit sarkastischem Humor die Abgründe eines unfreien Frauenlebens und zeigt zugleich den Schmerz ungewollter Mutterschaft. Ein aktuelles Thema, zeitlos brillant erzählt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Schweitzer blickt durch die Augen der Protagonistin in Penelope Mortimers Roman auf eine in Konventionen erstarrte Welt im England der fünfziger Jahre. Ruth Withing ist in ihrem drögen Alltag als Hausfrau gefangen, ohne Aussicht auf Veränderung, lesen wir. Das eingeschränkte Leben, in das sie von der Gesellschaft hineingedrängt wurde, entspricht ihr nicht und führt zu dauernden Nervositätszuständen, erzählt der Kritiker. Die große Stärke des erstmals 1958 erschienenen Romans sieht Schweitzer in Ruths distanziertem Blick auf die Umgebung, mit dem sie all die Versteckspiele, derer die Gesellschaft um sie herum bedarf, um zu funktionieren, in "beinahe ethnografischer Weise" analysiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2023Beobachterin der eigenen Lebenswelt
Penelope Mortimers "Bevor der letzte Zug fährt" seziert die englische Gesellschaft der Fünfziger und wartet auf eine neue Frauengeneration.
Von außen betrachtet, verspricht das Leben von Ruth Whiting nicht viel Aufregung. Sie ist 37 Jahre alt, ihre Kinder sieht sie nur in den Ferien, ihren Mann am Wochenende. Wo sich nicht viel ereignet, in der Stille, Leere und Abgeschiedenheit dörflicher Existenz, erwartet man ein der Reizarmut der Umgebung angeglichenes, gedämpftes Erleben. Dies gilt nicht für Ruth Whiting, die Protagonistin von Penelope Mortimers Roman "Daddy's Gone A-Hunting". In der Monotonie des Alltagslebens, der zähen Gewohnheiten nistet ein Gefühl ängstlicher Dauererregtheit, nicht enden wollender Furcht: "Sie hatte niemals keine Angst."
Unter dem Titel eines in Großbritannien bekannten Wiegenlieds 1958 im Englischen veröffentlicht, erscheint nun ein gut halbes Jahrhundert später die erste deutschsprachige Ausgabe des Romans. Kristine Kress übertrug ihn, und anstelle des Kinderreims heißt es bei ihr im Titel nun: "Bevor der letzte Zug fährt".
Das Leben der Romanfigur Ruth vollzieht und ereignet sich (mehr, als dass sie es führte) auf dem Common im Londoner Umland, in der Nachbarschaft anderer teilzeitverwitweter Hausfrauen mit ähnlichem Schicksal und unter Beobachtung von Ärzten sowie einer eigens für sie engagierten Hausdame. Über die Unfreiwilligkeit des eigenen Lebensentwurfs wird von Beginn an kein Zweifel gelassen. In jungen Jahren schwanger, schnell verheiratet, auf die erste Tochter folgten zwei Söhne. "Wird bei uns niemals etwas passieren, fragte sie sich. Wird das immer so weitergehen? Kann es sein, dass sich nie etwas ändert?" Die Routinen des bürgerlichen Hausfrauenlebens zwischen tea time, Kindererziehung und Dinnerparty signalisieren, anders, als es Werbung und Magazine der damaligen Zeit verkündeten, weder Sicherheit noch Glück, sondern vor allem fortdauernde Ödnis.
Ruths eigene Geschichte wird sich alsbald wiederholen: Angela, ihre achtzehnjährige Tochter, kommt während des Semesters frühzeitig aus ihrem Studienort Oxford ins heimische Dorf zurück, um der Mutter eine Mitteilung zu machen. Sie ist schwanger. Erstaunlich unüberrascht von der ihr anvertrauten Botschaft und doch zwangsweise zurückerinnert an die eigene ungewollte Schwangerschaft, schließt sich Ruth dem Wunsch der Tochter an und organisiert die im England der Fünfzigerjahre verbotene Abtreibung. Doch auch diese Entscheidung und die in Teilen durchaus radikale Umgehung aller Hürden und Widrigkeiten, zu der die Illegalität des Vorhabens nötigt, können nicht für ein Gefühl neu entflammter Handlungsmacht sorgen, sondern die von Beginn an geschilderte Wirklichkeitsbewältigung der Protagonistin nur verstärken: hektisch, heimlich, in immer neu ausbrechender Panik und Nervosität, dirigiert von Zwängen, Verpflichtungen, mal impliziten, mal ganz expliziten Erwartungen, vorbei an den Blicken des anderweitig beschäftigten Ehemanns, der übereifrigen Hausdame und der neugierigen Nachbarn.
Mag der Alltag ebenso unausstehlich wie unausweichlich sein - die innere Distanz und Entfremdung, die Ruth Whiting gegenüber dem empfindet, was ihr Leben ausmacht, verleiht ihr eine messerscharfe Beobachtungsgabe und ein unheimliches Gespür für den ritualhaften Charakter all der Versteckspiele und Verstellungen, derer es bedarf, um das soziale Gefüge der Dorfgesellschaft aufrechtzuerhalten. Darin liegt die Qualität des Romans: im analytischen, fast ethnographischen Blick auf die zum eigenen Beobachtungsobjekt erstarrte Lebenswelt, auf den Schrecken, der sich hinter dem "süßen Trost von Sherry" und der "Behaglichkeit von Käsestangen" verbirgt. Selten gänzlich nüchtern und völlig resigniert, immer wieder wütend, frustriert und noch als Teilnehmerin an den ihr so verhassten Pflichtveranstaltungen einer Ehefrau und Mutter.
Penelope Mortimer verfasste mehrere Romane, war Journalistin, Kritikerin, Drehbuchautorin und Biographin von Queen Mom. Selbst zweimal verheiratet und Mutter von insgesamt sechs Kindern, schrieb sie in eine Gesellschaft hinein, die Schwangerschaftsabbrüche erst ein Jahrzehnt später legalisieren sollte und der die Revolution des Familien- und Alltagslebens durch die zweite Frauenbewegung noch bevorstand. Die Kritik ihrer Zeit legte das Augenmerk auf die Verschränkung von Leben und Werk, auf die Verarbeitung des biographisch Erlebten im eigenen Schreiben. Der unzeitgemäße Charakter des damals Geschriebenen tritt auch in der nun vorliegenden deutschen Erstübersetzung klar hervor.
Zeitlos gerät die Erzählung nicht. Die Frage danach, wie die Zugehörigkeit zu einer Generation über ganze Lebenschancen entscheidet, macht am Ende den Unterschied aus. Wirkt die Tochter in ihrer Leichtigkeit dem Vorhaben gegenüber aus der Perspektive der Mutter noch so naiv, am Ende gelingt, was Ruth selbst verwehrt bleiben musste und ihr erst nach der geglückten Abtreibung umso tragischer bewusst wird: "Du verwechselst dich schon wieder mit Angela. Angela ist frei. Sie ist niemandem etwas schuldig." Sie selbst ist da schon wieder auf dem Weg zurück nach Hause, weiterhin mitsamt ihrer "lächerlichen Rüstung". TOBIAS SCHWEITZER
Penelope Mortimer: "Bevor der letzte Zug fährt". Roman.
Aus dem Englischen von Kristine Kress. Dörlemann Verlag, Zürich 2023. 300 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Penelope Mortimers "Bevor der letzte Zug fährt" seziert die englische Gesellschaft der Fünfziger und wartet auf eine neue Frauengeneration.
Von außen betrachtet, verspricht das Leben von Ruth Whiting nicht viel Aufregung. Sie ist 37 Jahre alt, ihre Kinder sieht sie nur in den Ferien, ihren Mann am Wochenende. Wo sich nicht viel ereignet, in der Stille, Leere und Abgeschiedenheit dörflicher Existenz, erwartet man ein der Reizarmut der Umgebung angeglichenes, gedämpftes Erleben. Dies gilt nicht für Ruth Whiting, die Protagonistin von Penelope Mortimers Roman "Daddy's Gone A-Hunting". In der Monotonie des Alltagslebens, der zähen Gewohnheiten nistet ein Gefühl ängstlicher Dauererregtheit, nicht enden wollender Furcht: "Sie hatte niemals keine Angst."
Unter dem Titel eines in Großbritannien bekannten Wiegenlieds 1958 im Englischen veröffentlicht, erscheint nun ein gut halbes Jahrhundert später die erste deutschsprachige Ausgabe des Romans. Kristine Kress übertrug ihn, und anstelle des Kinderreims heißt es bei ihr im Titel nun: "Bevor der letzte Zug fährt".
Das Leben der Romanfigur Ruth vollzieht und ereignet sich (mehr, als dass sie es führte) auf dem Common im Londoner Umland, in der Nachbarschaft anderer teilzeitverwitweter Hausfrauen mit ähnlichem Schicksal und unter Beobachtung von Ärzten sowie einer eigens für sie engagierten Hausdame. Über die Unfreiwilligkeit des eigenen Lebensentwurfs wird von Beginn an kein Zweifel gelassen. In jungen Jahren schwanger, schnell verheiratet, auf die erste Tochter folgten zwei Söhne. "Wird bei uns niemals etwas passieren, fragte sie sich. Wird das immer so weitergehen? Kann es sein, dass sich nie etwas ändert?" Die Routinen des bürgerlichen Hausfrauenlebens zwischen tea time, Kindererziehung und Dinnerparty signalisieren, anders, als es Werbung und Magazine der damaligen Zeit verkündeten, weder Sicherheit noch Glück, sondern vor allem fortdauernde Ödnis.
Ruths eigene Geschichte wird sich alsbald wiederholen: Angela, ihre achtzehnjährige Tochter, kommt während des Semesters frühzeitig aus ihrem Studienort Oxford ins heimische Dorf zurück, um der Mutter eine Mitteilung zu machen. Sie ist schwanger. Erstaunlich unüberrascht von der ihr anvertrauten Botschaft und doch zwangsweise zurückerinnert an die eigene ungewollte Schwangerschaft, schließt sich Ruth dem Wunsch der Tochter an und organisiert die im England der Fünfzigerjahre verbotene Abtreibung. Doch auch diese Entscheidung und die in Teilen durchaus radikale Umgehung aller Hürden und Widrigkeiten, zu der die Illegalität des Vorhabens nötigt, können nicht für ein Gefühl neu entflammter Handlungsmacht sorgen, sondern die von Beginn an geschilderte Wirklichkeitsbewältigung der Protagonistin nur verstärken: hektisch, heimlich, in immer neu ausbrechender Panik und Nervosität, dirigiert von Zwängen, Verpflichtungen, mal impliziten, mal ganz expliziten Erwartungen, vorbei an den Blicken des anderweitig beschäftigten Ehemanns, der übereifrigen Hausdame und der neugierigen Nachbarn.
Mag der Alltag ebenso unausstehlich wie unausweichlich sein - die innere Distanz und Entfremdung, die Ruth Whiting gegenüber dem empfindet, was ihr Leben ausmacht, verleiht ihr eine messerscharfe Beobachtungsgabe und ein unheimliches Gespür für den ritualhaften Charakter all der Versteckspiele und Verstellungen, derer es bedarf, um das soziale Gefüge der Dorfgesellschaft aufrechtzuerhalten. Darin liegt die Qualität des Romans: im analytischen, fast ethnographischen Blick auf die zum eigenen Beobachtungsobjekt erstarrte Lebenswelt, auf den Schrecken, der sich hinter dem "süßen Trost von Sherry" und der "Behaglichkeit von Käsestangen" verbirgt. Selten gänzlich nüchtern und völlig resigniert, immer wieder wütend, frustriert und noch als Teilnehmerin an den ihr so verhassten Pflichtveranstaltungen einer Ehefrau und Mutter.
Penelope Mortimer verfasste mehrere Romane, war Journalistin, Kritikerin, Drehbuchautorin und Biographin von Queen Mom. Selbst zweimal verheiratet und Mutter von insgesamt sechs Kindern, schrieb sie in eine Gesellschaft hinein, die Schwangerschaftsabbrüche erst ein Jahrzehnt später legalisieren sollte und der die Revolution des Familien- und Alltagslebens durch die zweite Frauenbewegung noch bevorstand. Die Kritik ihrer Zeit legte das Augenmerk auf die Verschränkung von Leben und Werk, auf die Verarbeitung des biographisch Erlebten im eigenen Schreiben. Der unzeitgemäße Charakter des damals Geschriebenen tritt auch in der nun vorliegenden deutschen Erstübersetzung klar hervor.
Zeitlos gerät die Erzählung nicht. Die Frage danach, wie die Zugehörigkeit zu einer Generation über ganze Lebenschancen entscheidet, macht am Ende den Unterschied aus. Wirkt die Tochter in ihrer Leichtigkeit dem Vorhaben gegenüber aus der Perspektive der Mutter noch so naiv, am Ende gelingt, was Ruth selbst verwehrt bleiben musste und ihr erst nach der geglückten Abtreibung umso tragischer bewusst wird: "Du verwechselst dich schon wieder mit Angela. Angela ist frei. Sie ist niemandem etwas schuldig." Sie selbst ist da schon wieder auf dem Weg zurück nach Hause, weiterhin mitsamt ihrer "lächerlichen Rüstung". TOBIAS SCHWEITZER
Penelope Mortimer: "Bevor der letzte Zug fährt". Roman.
Aus dem Englischen von Kristine Kress. Dörlemann Verlag, Zürich 2023. 300 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Absolut meisterlich wie Penelope Mortimer eine in Einsamkeit, Routine, Langeweile und Nichtigkeit erstarrte Existenz erfahrbar, ja fühlbar macht.« Katharina Straub / P.S. Die linke Zürcher Zeitung
»Eine Entdeckung aus den 50er Jahren!« Elke Heidenreich / Spiegel Online
»Darin liegt die Qualität des Romans: im analytischen, fast ethnographischen Blick. ... Der unzeitgemäße Charakter des damals Geschriebenen tritt auch in der deutschen Erstübersetzung klar hervor.« Tobias Schweitzer / FAZ
»... so lesen wir einen couragierten Roman, der von Beschönigungen nichts hält und seiner Zeit ein gutes Stück voraus ist ... Er reiht sich gut ein in die Reihe lesenswerter Neu- bzw. Wiederentdeckungen. Vor allem aber weckt er die Neugier und die Lust auf weitere Bücher von Penelope Mortimer.« Rainer Moritz / NZZ
»Bevor der letzte Zug fährt beeindruckt ... mit bissigen Dialogen und bildkräftigen Milieuschilderungen ... Mortimer ist eine blendende Stilistin ... Eine unbedingte Leseempfehlung.« Claudia Fuchs / SWR2
»Von dem Drama, das sich abspielt, wenn etwas ungeplant passiert, davon handelt auch der Roman der englischen Autorin Penelope Mortimer Bevor der letzte Zug fährt.« Edelgard Abendstein / WDR 3
»Penelope Mortimer hat ein mutiges Buch geschrieben, das der damaligen Zeit weit voraus gewesen ist.« Priska Friedli / Münstergass-Buchhandlung Bern
»Eine wunderbare Wiederentdeckung aus dem Jahr 1958, die gerade erstmals auf Deutsch erschienen ist ... In Bevor der letzte Zug fährt entzaubert die britische Journalistin und Schriftstellerin Penelope Mortimer (1918-1999) das vermeintlich glückliche Hausfrauenleben der 1950er-Jahre.« Katja Schönherr / SRF
»Eine Entdeckung aus den 50er Jahren!« Elke Heidenreich / Spiegel Online
»Darin liegt die Qualität des Romans: im analytischen, fast ethnographischen Blick. ... Der unzeitgemäße Charakter des damals Geschriebenen tritt auch in der deutschen Erstübersetzung klar hervor.« Tobias Schweitzer / FAZ
»... so lesen wir einen couragierten Roman, der von Beschönigungen nichts hält und seiner Zeit ein gutes Stück voraus ist ... Er reiht sich gut ein in die Reihe lesenswerter Neu- bzw. Wiederentdeckungen. Vor allem aber weckt er die Neugier und die Lust auf weitere Bücher von Penelope Mortimer.« Rainer Moritz / NZZ
»Bevor der letzte Zug fährt beeindruckt ... mit bissigen Dialogen und bildkräftigen Milieuschilderungen ... Mortimer ist eine blendende Stilistin ... Eine unbedingte Leseempfehlung.« Claudia Fuchs / SWR2
»Von dem Drama, das sich abspielt, wenn etwas ungeplant passiert, davon handelt auch der Roman der englischen Autorin Penelope Mortimer Bevor der letzte Zug fährt.« Edelgard Abendstein / WDR 3
»Penelope Mortimer hat ein mutiges Buch geschrieben, das der damaligen Zeit weit voraus gewesen ist.« Priska Friedli / Münstergass-Buchhandlung Bern
»Eine wunderbare Wiederentdeckung aus dem Jahr 1958, die gerade erstmals auf Deutsch erschienen ist ... In Bevor der letzte Zug fährt entzaubert die britische Journalistin und Schriftstellerin Penelope Mortimer (1918-1999) das vermeintlich glückliche Hausfrauenleben der 1950er-Jahre.« Katja Schönherr / SRF