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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kann ein Roman namens "Bienenstich" schlank geraten? Viktor Funks Neubearbeitung seines älteren Buches
"Die Rettung eines Ertrinkenden", heißt es in einem alten sowjetischen Witz, "ist die Aufgabe des Ertrinkenden selbst." Mit dieser fern ans fiktive Radio Eriwan erinnernden Weisheit ist der Weg, den der namenlose Ich-Erzähler in Viktor Funks Roman "Bienenstich" zurücklegen muss, glatt auf den Punkt gebracht. Natürlich, das wird rasch klar, droht hier nur ein metaphorisches Untergehen - obwohl sich das Nachwende-Deutschland dem elfjährigen Sohn einer Spätaussiedlerfamilie aus Kasachstan zunächst von seiner einnehmenden Seite zeigt: Lenin ist in diesem riesengroßen Kaufhaus nicht mehr im Angebot, dafür sind es Haribo-Teufel, Hamburger mit Röstzwiebeln und Überraschungseier. Im Zeitraffer erfahren wir von Jugend und erster, natürlich gescheiterter, Liebe, von einem Leben zwischen Wolfsburg, Hannover und Frankfurt am Main. Warm wird der Erzähler mit diesem Deutschland nicht; Fragen und Zweifel sind ständige Begleiter: "Spreche ich die fremden, kalten Wörter richtig aus? Habe ich die Erwartung Fremder an mich erfüllt?" Die neue Freiheit überfordert ihn, er sucht sein Heil in Anpassung.
Kann die Liebe zu Marie, die mit beachtlicher Kompromisslosigkeit und Härte gegen sich selbst ihre rumänischen Wurzeln zu kappen bereit ist, dem mittlerweile für eine Frankfurter Werbeagentur arbeitenden Erzähler in ein anderes, von Traditionen unbelastetes, erwachsen-abgeklärtes Beziehungsmodell katapultieren? Eines, das ihm auch hilft, seinen Frieden mit Deutschland zu machen? Marie, ebenso kosmopolitisch wie ehrgeizig, zieht nach einem Praktikum in Neu Delhi für den Job bei einem Projektentwickler nach Berlin; die Fernbeziehung der beiden steht indes unter keinem guten Stern. Wenn sie streiten, steht mehr zur Debatte als der Gegenstand, an dem sich die Auseinandersetzung entzündete: "Es ging auch immer um unsere Erfahrungen in Deutschland, um das, was wir sein wollten, was wir sein konnten und was wir sein durften."
In dieser latent frustrierenden Situation sorgt der Werbejob des Erzählers für einen überraschenden Twist - ihm wird ein Kunde aus Moskau zugeteilt; eine Dienstreise gibt ihm die Chance, seine alte Heimat und das neue Russland, das er bis dato nur durch die Brille westlicher Medien wahrnahm, neu kennenzulernen. Das Wiedersehen gerät zur verstörenden Erfahrung: Statt am Lenin-Mausoleum Schlange zu stehen, drängen sich solvente Moskauer vor den Sushi-Restaurants auf der Twerskaja; das Start-up, dem er deutsche Touristen zuführen soll, wirkt wie eine Behörde aus Breschnews Zeiten: "Die Leute ticken wie vor 30 Jahren und versuchen, so zu leben wie wir hier."
Wie aus seiner nur noch pro forma bestehenden Beziehung zu Marie zieht sich der Erzähler auch aus dem Russland-Job zurück: Fluchtreflexe, die tief sitzen. Der einzige Ort, an dem er ganz bei sich, mit sich im Reinen sein kann, sind die Flüsse, Weiher und Seen, die ihn - egal ob in Frankfurt-Höchst, wo die Nidda in den Main fließt, in Kischinau, auf Goa oder am Lac de Saint-Cassien - an den Balchaschsee in der kasachischen Steppe erinnern, wo er von seinem Großvater in die Mysterien des Angelns eingeweiht wurde. Aus seiner Kindheit sind ihm nur Opas Angelbuch und eine mehrfach abgebrochene Teleskop-Rute geblieben, die Verwandte aus Westdeutschland in die Sowjetunion geschickt hatten. In ihrem Griff sind die Gerüche der Kindheit konserviert: "Im Kork steckt eine Geschichte aus einem Land, das es nicht mehr gibt und das auf den wenigen Fotografien, die ich noch habe, verblasst."
Mit "Bienenstich" legt Viktor Funk, der wichtige biographische Eckpunkte mit dem Ich-Erzähler teilt, die überarbeitete Neuausgabe seines bereits 2017 im Frankfurter Größenwahn-Verlag unter dem Titel "Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich" erschienenen Romans vor. Schon der neue schlanke Titel lässt etwas vom geleisteten Komplettumbau am Textgebäude ahnen. Funks Protagonisten geben dem zwischen Assimilationsdruck und Heimatlosigkeit schwankenden Lebensgefühl einer ganzen Generation junger Menschen mit Migrationshintergrund eine Stimme. Das Vergangene ist dabei nicht tot, es ist, mit Faulkner und Christa Wolf, nicht einmal vergangen. Wenn Marie, beruflich wie in der Beziehung, alles auf einen Neustart in London setzt, erinnert das den Erzähler an die Träume seiner Vorfahren, die ehedem aus dem armen Süden Deutschlands in die Schwarzerde-Region des Zarenreichs gezogen waren: "Sie bekamen Land geschenkt, und die Freiheit, ihren Glauben auszuleben. Später, in der sowjetischen Verbannung, lockte der Traum von Freiheit und Wohlstand sie zurück nach Deutschland. Und dieses seit Generationen verinnerlichte Gefühl, dass es sich woanders besser, freier, leichter lebe, das verschwindet nicht. Es treibt uns an, es belebt. Und manchmal quält es uns."
Solche Tiefenbohrungen bekommen dem Buch gut, und gern folgt man den Stimmen, Lebensentwürfen und Träumen unter deutschen Dächern, die Viktor Funk mit leichter Hand teilt. Hin und wieder wird die Freude gedämpft - etwa wenn die Protagonisten passagenweise wie Fallbeispiele einer Sozialreportage agieren und sehr viel schablonenhaften Text à la "Die Fernbeziehung hatte Marie und mich verändert" aufsagen müssen. Trotz gelegentlicher Unwuchten schnurrt Funks Roman jedoch wie ein UAZ-Geländewagen aus sowjetischer Produktion über Stock und Stein. Wo auch immer es seinen sympathischen Helden, diesen Wanderer zwischen den Kulturen, hin verschlagen mag: Seine alte Angelausrüstung wird er dabeihaben. NILS KAHLEFENDT
Viktor Funk: "Bienenstich". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2023. 213 S., geb., 22,- Euro.
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