Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim Nachbar Ege darf es so lange schauen, wie es will. Ege ist ein Medientheoretiker mit philosophischer Praxis, die nie jemand aufsucht. Seine Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will. Das Mädchen darf in Eges Filmen mitspielen. Hinter der Kamera steht Gisela, seine Partnerin. Das Lebenswerk muss vorangebracht werden. Aber meist sitzt Ege in seiner verdunkelten Wohnung, verachtet die Welt und trinkt. Nur das aufgeweckte Nachbarsmädchen bringt etwas Freude in sein Leben. Gisela wohnt im oberen Stock und entsorgt die leeren Weinflaschen. Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm. Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen im Stande ist. Und von der Großmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem großen Aufbruch der Sechzigerjahre.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Paul Jandl staunt über dieses Debüt der Schweizer Multikünstlerin Sarah Elena Müller gleich in mehrfacher Hinsicht: Die junge Autorin greift hier das Thema Pädophilie im linksalternativen Milieu auf und verknüpft es mit einer "Medientheorie des Missbrauchs", erläutert der Kritiker. Erzählt wird die Geschichte eines Kindes, das in den neunziger Jahren von seinen Altachtundsechziger-Eltern vernachlässigt wird und deshalb viel Zeit beim Nachbarn verbringt, der offenbar kinderpornografische Videos dreht, die das Kind zu sehen bekommt. Das vestörte Kind wird in der Schule gemobbt, nachdem alternative Heilungsmethoden mit Algenöl nicht anschlagen, ziehen sich die Eltern ratlos zurück, resümiert Jandl. Schon die filmischen Schilderungen, die auf "Drastik" verzichten und den Leser umso mehr in die Geschichte ziehen, beeindrucken den Kritiker. Vor allem aber bewundert er, wie Müller in ihrem auf wahren Ereignissen beruhenden Roman das Selbstbild eines Milieus zerlegt - und dabei einfache Urteile ausspart.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH