Der wissenschaftspolitische Druck nach quantitativ messbaren und ökonomisch verwertbaren Erkenntnissen drängt auch sozial- und geisteswissenschaftliche Denkbewegungen zunehmend zur Revision ihrer zentralen Konzepte. Nachdem bereits der Identitätsbegriff neurokonstruktivistisch durchmustert wurde und das Ich-Bewusstsein als Hervorbringung des Gehirns als beinahe ausverhandelt gilt, erscheint es nur konsequent, dass auch der ohnehin problembeladene Begriff der Entfremdung - als Negativum von Identität - den Anspruch eingebüßt hat, als Globalkategorie anthropologische oder gar metaphysische Verbindlichkeiten zur Frage bereitstellen zu können, was der Mensch sei. Die groß angelegte Studie von Dieter Treu steuert diesem Trend zum Reduktionismus des Seelischen entgegen und bietet mit einem in der Ontologie der Zeit verwurzelten Verständnis des Wahrnehmungsgeschehens einen diskursübergreifenden Maßstab der Entfremdungskritik an. Der Ausgangsthese des Autors zufolge oszilliert menschliche Wahrnehmung dauerhaft zwischen einer ereignishaften, fast bewusstlosen Teilhabe an der Bewegung, und der willentlichen Intention zur Formbildung, die Distanz zum Sinnlichen voraussetzt. Die alltägliche Wahrnehmung mischt sich aus der Immanenz von Bildern (reine Wahrnehmung) und der Transzendenz von Ideen (reines Denken). Die dauerhafte Vereinseitigung der Wahrnehmung innerhalb dieses Möglichkeitsraumes manifestiert sich entweder in einer haltlosen Sinnlichkeit, als ein präpsychotisches Leben ohne Form; oder aber sie erzeugt mit der übersteigerten Filterung der Wahrnehmung nach Verwertungsgesichtspunkten immer neue Formen ohne Leben.
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