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Johannes Grave sucht nach einer angemessenen Beschreibung unseres Betrachtens von Bildern
Das neue Buch von Johannes Grave trägt den Titel "Bild und Zeit - Eine Theorie des Bildbetrachtens". In universitäre Terminologie übersetzt, geht es darin um eine "Theorie der rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes". Die Ausarbeitung einer solchen Theorie betreibt Grave schon seit mehreren Jahren. Daher kann er bei mehreren der elf Kapitel auf bereits publizierte Vorstudien zurückgreifen, die sich nun, dem Anlass entsprechend überarbeitet, zu einer stringenten und klar artikulierten Argumentation zusammenfügen.
Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass die Rede von einer "Temporalität des Bildes" nur dann sinnvoll sein kann, wenn man das Adjektiv "rezeptionsästhetisch" hinzufügt. Das Bild selbst verlangt nach seiner Rezeption, denn eigentlich wird ein Bild erst dadurch zu einem Bild, dass es von jemandem wahrgenommen wird.
In dieser Wahrnehmung macht sich sofort eine grundlegende "Dualität" bemerkbar, denn Bilder zeigen in ihrer eigenen sichtbaren Gestalt immer zugleich etwas anderes: das durch sie Abgebildete. Ein Blick auf den Umschlag des Buches genügt, um das zu verdeutlichen. Man sieht darauf unter anderem einen schlanken Mann in schwarzer Kleidung mit grauen Haaren. Wer ihn sieht, sieht aber zugleich ein glattes Stück Papier mit einem länglichen Fleck aus schwarzer Druckerfarbe, der unten in zwei breiten Streifen ausläuft und oben mit einem kleinen ovalen Muster aus grauen Strichen verbunden ist. Man sieht also die abgebildete Figur und auch ihr materielles Substrat. Der "Widerstreit" zwischen beidem kann dann zur Triebfeder einer zeitlichen Dynamik der Betrachtung werden, deren Dauer sich ausdehnen oder abkürzen lässt. So realisiert sich die latente Temporalität des Bildes in seiner Rezeption.
Um zu beschreiben, was dabei passiert, geht Grave über das bisher verfügbare Repertoire der etablierten - vor allem von Wolfgang Kemp begründeten - Rezeptionsästhetik hinaus. Er möchte auch neuere "Theorieangebote" berücksichtigen wie etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour. Zusätzlich macht sich Grave auch die Einsichten der philosophischen Phänomenologie zunutze. Daraus übernimmt er (mit besonderer Berufung auf Mikel Dufrenne) sogar die seltsame Vorstellung, wonach durch die Interaktion von Bild und Betrachter ein eigenes "Bildobjekt" hervorgebracht wird.
Es spricht einiges dafür, auf das Postulat eines solchen Objekts zu verzichten, denn das, was damit erklärt werden soll, lässt sich viel einfacher beschreiben. Grave geht es dabei vor allem um den Nachweis, dass die Bildwahrnehmung kein passives Entgegennehmen oder bloßes Nachvollziehen ist, sondern eine kreative Aktivität, die verschiedene Personen mit ihren jeweiligen Dispositionen, Kompetenzen und Interessen in spezifischen sozialen Kontexten ausüben. Wer ein Bild betrachtet, macht etwas mit diesem Bild, doch umgekehrt macht ein Bild auch etwas mit denen, die es betrachten. Die Rede von einem "Bildakt" hält Grave jedoch für übertrieben, und den gegenwärtig so beliebten Hymnen auf die "agency" des Bildes möchte er sich auch nicht anschließen. Er spricht stattdessen vom "Eigensinn" der Bilder und von ihrer "Macht", die der Willkür der Betrachtung eine Grenze setzt und uns zu einer verlängerten Auseinandersetzung mit dem Bild motiviert.
Dass dies nur von Vorteil sein kann, ist für Grave so evident, dass er auf eine ausführliche Begründung verzichtet. Es zeugt daher von Souveränität, wenn er nicht verschweigt, dass man auch anderer Ansicht sein kann. Er zitiert sogar aus den Schriften von Roger de Piles und Johann Gottfried Herder, die sich beide der Maxime "Je länger, umso lieber" versagen und darauf bestehen, Kunstwerke auch nach dem ersten Eindruck zu beurteilen. Ein heute noch prominenter Vertreter dieser Überzeugung wird von Grave allerdings nicht erwähnt. Es ist Clement Greenberg, von dem wir wissen, dass er sich bei Atelierbesuchen die Augen zuhielt, bis man ein neues Gemälde vor ihm aufgestellt hatte, worauf er die Hände für den Bruchteil einer Sekunde zur Seite nahm, um es allein aufgrund seines allerersten Eindrucks zu beurteilen. Die Prozedur wirkt bizarr, ist aber zur Bewertung des Gesamteindrucks eines Bildes tatsächlich angemessen. Wie bei der Liebe auf den ersten Blick, zählt auch hier nur der erste Moment, in dem man entweder fasziniert ist oder auch nicht.
Eine Person, die sich auf den ersten Blick verliebt, möchte den Anblick, der sie so betört, dann aber meistens auch so lange wie möglich genießen. Alle Lust will Ewigkeit, und das scheint Graves Auffassung wieder zu bestätigen. Es erweist sich dabei aber auch, dass es immer darauf ankommt, welchem Zweck eine kurze oder lange Bildbetrachtung jeweils dienen soll. Offensichtlich gibt es hier sehr verschiedene Möglichkeiten. Wer auf einem Gemälde von Pieter Bruegel alle 118 darauf dargestellten niederländischen Sprichwörter ausfindig machen will, braucht eine Menge Zeit. Aber es dauert auch eine ganze Weile, bis man die subtilen Veränderungen bemerkt, die sich bei einer ausgedehnten Betrachtung der schwarzen Bilder von Ad Reinhardt ergeben.
Zu solchen Varianten einer zeitlich gedehnten Bildbetrachtung sagt Grave nicht viel, und mit konkreten Analysen hält er sich generell eher zurück. Auf einige in seinem Buch reproduzierte Bilder verweist er nur ganz kurz. Das liegt daran, dass es hier um systematische Fragen geht. Es wäre aber gerade im Kontext seiner systematischen Analyse sinnvoll gewesen, wenn Grave seine interessanten Beobachtungen an Bildern von Giovanni Bellini und Paul Klee - seinem eigenen Credo gemäß - noch ein wenig erweitert hätte.
Bedauerlich ist auch, dass man nur wenig zu einem Problem erfährt, das bereits im Umschlagbild des Buches angedeutet wird. Man sieht darauf den eingangs erwähnten schwarz gekleideten Mann, der im Museum vor einem Bild steht, in dem derselbe Mann eine stark vergrößerte Reproduktion eines eigentlich sehr kleinen Gemäldes von Caspar David Friedrich aus dem Essener Folkwang-Museum betrachtet. Wir sehen also einen Mann, der sich beim Betrachten selbst betrachtet. Wie (und ob) ein solcher Übergang auf die Metaebene möglich ist, wird im letzten Kapitel des Buches lediglich angedeutet.
Ganz ans Ende seiner Darlegungen stellt der Autor zwei Empfehlungen, die sich vor allem, aber nicht nur an Studierende der Kunstgeschichte richten. Man sollte sich - erstens - die Zeit nehmen, Bilder lange und eingehend zu betrachten, und man sollte sich - zweitens - bemühen, mit anderen in ein Gespräch über diese Bilder zu kommen. Beide Empfehlungen gelten mutatis mutandis auch für die Lektüre dieses Buchs. KARLHEINZ LÜDEKING
Johannes Grave: "Bild und Zeit". Eine Theorie des Bildbetrachtens.
C. H. Beck Verlag, München 2022.
270 S., Abb., geb.,
28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
WELT AM SONNTAG, Swantje Karich
"Johannes Grave sucht nach einer angemessenen Beschreibung unseres Betrachtens von Bildern ... Eine stringente und klar artikulierte Argumentation"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Karlheinz Lüdeking
"öffnet den Blick auf eine Vielzahl von Ansätzen aus Bildwissenschaft, Kunstgeschichte und -theorie ... vertieftes Erkenntnisvergnügen"
Falter, Thomas Leitner