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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
War Briefeschreiben in den achtziger Jahren nicht längst so tot wie Käseigel? Gerhard Henschel lässt seinen Romanzyklushelden Martin Schlosser mit heißem Bemüh'n studieren.
Für sein Lied "Love Minus Zero / No Limit" müsste man Bob Dylan mit einer Zuckerstange verprügeln. Kitsch as Kitsch can. Im "Bildungsroman" - das Wort ist Titel und Genre - von Gerhard Henschel sieht der junge Protagonist Martin Schlosser das aber anders. Sein Geschmack ist noch nicht ganz ausgereift.
Martin Schlosser kennt man schon aus mehreren anderen Romanen. Sein Lebenslauf ähnelt verblüffend dem Lebenslauf seines Autors. Man ahnt allerdings auch ein Quentchen Selbstironie und Parodie. Das Wort "Bildungsroman" will uns auch ganz banal sagen, dass Martin endlich die höheren Bildungsanstalten besuchen kann. Und eines muss man besonders hervorheben: In den achtziger Jahren, in denen der Roman spielt, konnte man noch klassisch studieren, ohne bloß ein Datensatz auf einer Festplatte zu sein. Man sollte jedem der Politiker, die sich die Bologna-Reform ausgedacht haben, ein Exemplar des Buchs aushändigen und ihn damit eine Woche lang in einen Karzer sperren.
Martin studiert Germanistik und die Frauen. Im Fach Gynosophie kann man seine Leistungen aber bestenfalls mit einer 3,7 benoten. Liebe ist ein hehrer Begriff. Bei Martin klappt es aber noch nicht einmal mit der reziproken Vernarrtheit. Mit Zitaten aus populären Liedern kommentiert er, der Ich-Erzähler, die romantischen Niederlagen. Sein Musikgeschmack ist für seine Generation circa fünfzehn Jahre zu alt. Dylan, Leonard Cohen, die frühen Beatles. Und zu diesen Niederlagen passen am besten sanfte melancholische Songs wie Dylans "One Too Many Mornings". Das oben erwähnte "Love Minus Zero / No Limit" ist dabei eher eine Ausnahme; in der Regel ist Martins Auswahl angemessen.
So viel zu Martins vertonten Herzensangelegenheiten. Der Klappentext verspricht sehr spannend für das Ende noch eine Affäre, die Martins Leben verändern wird. Mit wem wohl? Mit der redseligen, aber leider platonischen Gudrun, mit der rothaarigen Katja oder gar mit der geheimnisvollen Corinna? Lassen wir uns überraschen. Nicht vorblättern!
Martin studiert Germanistik mit Nebenfächern. Erst in Bielefeld, dann in Berlin. Da er zu den wenigen Germanistikstudenten gehört, die gern lesen, müssen wir uns wohl keine großen Sorgen machen, dass er irgendwann einmal Taxi fahren wird. Er liest Belletristik, Zeitungen, Zeitschriften, Fachliteratur. Mit Freunden oder auch nur Bekannten kommuniziert er meistens per Brief. Es sind erstaunlich viele Briefe, und auch die Antworten sind erstaunlich lang. Kann das denn wahr sein? Der Brief war doch seinerzeit schon tot wie der Käseigel.
Wenn Martin irgendwo zu Besuch ist, inspiziert er erst das Bücherregal, dann öffnet er die Bierflasche. Die "Titanic" liest und zitiert er besonders gern. Fast ahnt man schon, dass er im nächsten oder übernächsten Roman dort landen wird. Martin hat einen guten, aber limitierten Geschmack. Sein Favorit ist Arno Schmidt. Was er an deutschen Texten liest, ist bedeutend, aber das Spektrum ist nicht sehr groß. Englisches oder Französisches liest er fast gar nicht. Auch als bescheidener Freizeitleser kennt man fast jeden Namen. Jörg Drews, Bert Brecht, Theodor W. Adorno, Eckhard Henscheid, Ernst Jandl, Peter Rühmkorf. Autoren, die nicht so häufig im Feuilleton erwähnt werden, ignoriert Martin eher.
Er besitzt einen eingebauten Humbug-Detektor. Der bewertet nicht nur Schriftsteller, sondern auch Politiker, Fernsehen, Kino, Popmusik, Professoren. Der Detektor klingelt übrigens auch bei einem bekannten Autor dieser Zeitung (ich habe leider den Namen vergessen, und man kann 573 Seiten ja schließlich nicht noch einmal schnell durchblättern). Nicht so gut ist Martin darin, auch einmal in der Backlist ein gutes Buch zu entdecken. Er erkennt zwar im Blaubart den Mörder, aber nicht im Drosselbart den König. Solche Leute braucht die "Titanic".
Ansonsten ist er ständig auf Reisen. Per Anhalter, weil das Geld sonst nicht reicht. Er besitzt eine umfassende verstreute Großfamilie. Es gibt noch zwei Omas. Mama und Papa leben in Meppen in einem Eigenheim und schauen sich böse an. Martin ist ein Nestflüchter. Außerdem sucht er sowieso, wie wir wissen, nach einer Partnerin, die auf seine schüchternen unbeholfenen Annäherungsversuche eingeht. Das erfordert bundesweite, allerdings immer erfolglose Reisen.
Die Mutter hat kleinere literarische Ambitionen. Sie versucht, ihre Reisebilder und die Übersetzungen von altenglischen Gedichten gewissen überregionalen Qualitätszeitungen zu verkaufen, doch sie bekommt immer nur freundliche, aber nichtssagende Absagen. Irgendwie hat sie da ein Gen an den Sohn weitergegeben, das sich bei diesem nur etwas anders manifestiert.
Einmal besucht sie zusammen mit Martin ein fünftägiges Literaturseminar im Haus von Walter Kempowski, dem Vielgerühmten. Dadurch haben wir das Vergnügen, eine Manufaktur der Literatur besichtigen zu dürfen. Kempowski ist, wenn man mal nachrechnet, etwa 55. "Ein schmaler Herr mit Schlips und Brille und einer weichen Stimme." Man kann ihn auf Anhieb mögen, auch wenn er manchmal übertrieben empfindlich ist. Seine Helferinnen sind ausgewählt hübsche junge Frauen. Da hat er doch schon einmal ein gemeinsames Interesse mit Martin. Im Bücherregal steht ein Meter Arno Schmidt. Wer Schmidt liebt, der kann ja wohl kein schlechter Mensch sein. Die anderen Seminarteilnehmer werden, sagen wir es höflich, nie Anwärter auf den Walter-Kempowski-Literaturpreis der Hamburger Autorenvereinigung sein. Aber ein paar Tricks bringt ihnen der Meister bei.
Der Stil von Kempowskis Büchern ähnelt dem von Gerhard Henschel in der Familienchronik, über deren neuesten Band wir gerade reden. Das Erzählen ist linear in der Zeit und collagenhaft. Dabei entstehen die Collagen alle in Martins Kopf. Er liest etwas im "Spiegel" und zitiert dabei wörtlich daraus. Er hat Liebeskummer oder vielleicht auch nur ein posttraumatisches Infatuationsyndrom und erinnert sich daran, was Dylan in solchen Fällen gesungen hat. Er liest Briefe. Er ist in einer gefährlichen Situation und stellt sich vor, was die Zeitung schreiben würde, wenn es böse endete: "Göttingen (Eigenbericht). Aus bislang ungeklärten Ursachen setzten sich zwei Personen am Sonntagabend, als ein schweres Gewitter über die Stadt hereinbrach, auf einem Spielplatz am Botanischen Garten der Gefahr aus, vom Blitz erschlagen zu werden. Ihre vollständig verkohlten Leichen haben vorläufig noch keinen Hinweis auf die Identität der Toten preisgegeben."
Nebenbei betreibt Martin auch noch sein Studium. In seinem Fach kann er ja viel zu Hause oder unterwegs lesen. Er bekommt sehr gute Noten, außer in Bloch. "Ubi Bloch, ibi Blech." Aber man weiß, er wird nie den Literaturnobelpreis bekommen. Dazu fehlt ihm das Haupttalent, die Ernsthaftigkeit. Mehr als ein halber Narr wird nie aus ihm werden. Gott sei Dank.
Der fast schon erwachsene Martin in dieser Folge der Romanserie ist ein Anhalter auf den Autobahnen der Kultur. Er hat immer ein Ziel, aber immer ein anderes. Man lernt viel an der Autobahn. Brocken der Wahrheit lägen aber auch anderswo herum: "The highway is for gamblers, better use your sense. Take what you have gathered from coincidence."
Der Begriff Bildungsroman ist etwas zu groß für dieses Werk. Das ist nur ein Kapitel in einem Bildungsroman. Die vorhergehenden Kapitel heißen "Die Liebenden" (2002), "Kindheitsroman" (2004), "Jugendroman" (2009) und "Liebesroman" (2010). Vielleicht wird Gerhard Henschel ja im Jahr 2062 das letzte Wort von "Schwesternschülerinnenroman" diktieren und dann mit einem ironischen Zug um den Mund sanft entschlafen.
ERNST HORST.
Gerhard Henschel: "Bildungsroman".
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 573 S., geb., 24,99 [Euro].
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Die frühe Kohl-Ära
revisited
Derzeit wird die alte BRD vermessen. Etwa von Frank Witzel und Philipp Felsch mit ihrem „BRD Noir“-Buch. Seit 2004 schreibt Gerhard Henschel schon an seiner autobiografisch eingefärbten, am Stil Walter Kempowskis geschulten Deutschland-Chronik. Martin Schlosser heißt das Alter Ego des ehemaligen Titanic-Redakteurs, dessen Leben in mittlerweile sechs Romanen von den Sechzigern bis (Stand heute) in die Achtzigerjahre ironiesatt und detailversessen ausgebreitet wird: Nach dem „Kindheitsroman“ folgten „Jugend-“, „Liebes-“, „Abenteuer-“ und „Bildungsroman“. Zuletzt erschien „Künstlerroman“. Das fünfte Buch ist ein lockeres Spiel mit der klassischen Gattung des Entwicklungsromans. Ich-Erzähler Schlosser studiert Germanistik, erst in Bielefeld, dann in Berlin. Er hört Musik – viel Dylan. Geht ins Kino zu Achternbusch, Helke Sander. Die Liebe sendet (Stör-)Signale, was sonst. Ob da ein Blick in „Die sexuelle Zwangswirtschaft“ von Otto Mainzer hilft? Gerhard Henschel lässt Martin haufenweise zitieren, legt ihm zudem tolle Wörter in den Mund. Da wird in Kartons „gekraßelt“ und in Betten „gemauselt“. Die frühe Kohl-Ära revisited.
FLORIAN WELLE
Gerhard Henschel:
Bildungsroman. dtv,
München 2016. 574 Seiten, 12,90 Euro.
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