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Die Bioethik kommt um die Umständlichkeiten ihrer Argumentationen nicht herum. Jeder Versuch, das Grundsätzliche zu vermeiden, wirft nur neue Fragen auf, wie Marcus Düwells Vorschlag zeigt.
Das international einflussreichste Lehrbuch der Bioethik stammt von den beiden amerikanischen Wissenschaftlern Tom Beauchamp und James Childress. Angesichts des Befundes, dass den rasch expandierenden Lebenswissenschaften auf Seiten der Bioethik eine fragmentierte Forschungslandschaft mit einer großen Vielfalt von unterschiedlichen moralischen Überzeugungen und theoretischen Ansätzen gegenüberstand, die eine Einigung im Grundsätzlichen als ausgeschlossen erscheinen ließ, entschlossen sich Beauchamp und Childress zu einer folgenschweren Frontbegradigung.
Sie verzichteten darauf, ihre Konzeption auf eine ethische Großtheorie zu stützen, und beriefen sich stattdessen auf eine Mehrzahl von Prinzipien mittlerer Reichweite, die alle ihre relative Berechtigung hätten. Neben das Prinzip der Patientenautonomie stellten sie die traditionelle Bestimmung des ärztlichen Handelns, das Nicht-Schädigen, den Heilungsauftrag des Arztes und den Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit. Sollte das Ausbuchstabieren solcher Teilkonsense nicht genügen?
Der Utrechter Moralphilosoph Marcus Düwell zeigt, dass diese Rechnung nicht aufgeht. So speist sich die Sterbehilfediskussion wesentlich aus dem Gegensatz zwischen dem Autonomieprinzip und dem Schädigungsverbot. Wer über das Verhältnis dieser Grundsätze nur zu sagen weiß, dass ihnen beiden eine gewisse Berechtigung zukomme, vermag einen solchen Konflikt nicht in einer rational stringenten Weise aufzulösen. Er wird vielmehr bei einer Abwägung enden, in der er zwar zunächst jeder Seite seine Reverenz erweist, hernach aber so entscheidet, wie er es von vornherein für richtig gehalten hat. Damit mag man rechtspolitisch punkten können, philosophischen Begründungsansprüchen genügt ein solches Vorgehen hingegen nicht.
"Wer also eine Theorie mittlerer Prinzipien vertritt, der beruft sich nicht auf eine moralphilosophisch anspruchslose Theorie, die keiner weiteren Begründung bedarf, sondern er lädt sich alle moralphilosophischen Nachfragen auf." Spätestens an diesem Punkt aber kehrt die Pluralität der Positionen, die in der Moralphilosophie eine Rolle spielen, unweigerlich in die bioethische Diskussion zurück. "Im Dickicht bioethischer Diskussionen gibt es also keine Abkürzungen - keinen shortcut - zur Vermeidung grundlegender moralphilosophischer Kontroversen."
Zum Ausgangspunkt seiner eigenen bioethischen Überlegungen erklärt Düwell im Anschluss an den amerikanischen Philosophen Alan Gewirth "die Befähigung der Einzelnen zu einer selbstbestimmten Lebensführung". Das Autonomieprinzip, bei Beauchamp und Childress noch ein Grundsatz unter anderen, steigt demnach bei Düwell im Einklang mit einer verbreiteten Tendenz in der heutigen Bioethik zur beherrschenden Leitidee auf. Autonomie wird von ihm zudem nicht, wie es der kantischen Tradition entspricht, als bloßes Recht zur Abwehr unerwünschter Angriffe verstanden, sondern als Leistungsrecht. "Die Befähigung, ein Leben zu führen, das wir als lebenswert erfahren können und in dem wir uns als selbstbestimmte Wesen verwirklichen können, ist gewissermaßen der Wert, den wir mit der Hochschätzung der Autonomie schützen und realisieren wollen."
Damit handelt Düwell sich freilich sämtliche Probleme ein, die mit einer Konzeption positiver Freiheit verbunden sind. Das erste dieser Probleme ist die potentielle Schrankenlosigkeit eines so begründeten Anspruchs. Kann der Einzelne die Ermöglichung selbstbestimmten Lebens buchstäblich um jeden Preis verlangen? Dass dies angesichts der wachsenden Diskrepanz zwischen dem medizinisch Möglichen und dem Bezahlbaren ausgeschlossen ist, liegt auf der Hand und wird auch von Düwell nicht in Zweifel gezogen. Sein Hinweis, dass in diesen Fällen ein "gerechter Ausgleich" stattfinden müsse, gibt dem Leser jedoch Steine statt Brot.
Noch gewichtiger ist ein zweites Folgeproblem. Was bedeutet Düwells Leitprinzip für diejenigen Patienten, die so krank sind, dass für sie die Rückkehr zu einer auch nur halbwegs selbstbestimmten Lebensgestaltung ausgeschlossen ist? Erweist sich das vordergründig so menschenfreundliche Autonomieprinzip in diesen Fällen womöglich als eine Legitimationsfigur zum Ausschluss derer, die in ihrer Not Hilfe und Beistand am nötigsten haben? Zu Recht hält Düwell die Auffassung, einen Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium "gar nicht als moralisch relevantes Wesen anzuerkennen", für monströs. Die Frage, wie er sie angesichts seines eigenen Ansatzes vermeiden kann, lässt Düwell hingegen unerörtert.
Vielleicht steckt in der traditionellen ärztlichen Ethik des Nicht-Schädigens und Wohltuns mehr Weisheit, als der heutige bioethische Mainstream mit seiner Konzentration auf den Selbstbestimmungsgedanken einzuräumen bereit ist. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob die Bioethik ihren gegenwärtigen Weg begrifflicher Selbstradikalisierung weitergehen oder ob sie auf lebenspraktisch angemessenere Positionen einschwenken wird. Wer auf ein Plädoyer für Letzteres hofft, wird Düwells Buch enttäuscht aus der Hand legen. Wer sich dagegen über den aktuellen Diskussionsstand mit seinen Glanzpunkten und blinden Flecken unterrichten will, ist mit der Darstellung Düwells bestens bedient.
MICHAEL PAWLIK
Marcus Düwell: "Bioethik". Methoden, Theorien und Bereiche. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/ Weimar 2008. 276 S., br., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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