Die Frage einer biologischen Rassenzugehörigkeit der Juden galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als brisantes, ungelöstes wissenschaftliches Problem. Wissenschaftler mit jüdischem Familienhintergrund sahen sich vor einem Dilemma, denn sie waren zugleich Subjekt und Objekt der Forschung.Die Studie zeichnet diese wissenschaftliche Debatte nach und beleuchtet dabei insbesondere die Positionen von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft. Wie reflektierten diese ihre Identität im Rahmen biologischer Theorien und wie gestaltete sich die Auseinandersetzung mit nichtjüdischen Kollegen? Zudem werden die Versuche einiger dieser Wissenschaftler beschrieben, Institutionen für die Erforschung der »Biologie der Juden« zu gründen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2009Vermessene Körper
In dem neuen Roman der israelischen Autorin Edna Mazya, "Über mich sprechen wir ein andermal", muss sich ein jüdischer Professor für Genetik an der Universität Heidelberg nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten in Palästina als Schullehrer durchs Leben schlagen. Es ist beileibe kein fiktives Einzelschicksal. Dass jüdische Forscher zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Gebiet der Humanbiologie, die damals von der Rassen- und Vererbungslehre geprägt war, tätig waren, zeigt eine Berliner wissenschaftsgeschichtliche Dissertation (Veronika Lipphardt: "Biologie der Juden". Jüdische Wissenschaftler über "Rasse" und Vererbung 1900-1935. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 360 S., geb., 39,90 [Euro]).
In der Arbeit werden insgesamt etwa vierhundertfünfzig Biowissenschaftler mit jüdischen Wurzeln, die in der Zeit zwischen 1900 und 1935 publizistisch aktiv waren, ermittelt. Die Darstellung beschränkt sich allerdings auf einige wenige herausragende Forscher, die von der Autorin für bestimmte Sichtweisen und Identitätsentwürfe als repräsentativ angesehen werden.
Zu ihnen zählt beispielsweise Elias Auerbach (1882-1971), der sich bereits als junger Mediziner und überzeugter Zionist an der Debatte über die Frage, ob die Juden eine eigene "Rasse" seien, beteiligte. Er vertrat die Meinung, dass die Juden kein "Rassengemisch" seien, wie sein einflussreicher Lehrer Felix von Luschan behauptet hatte, sondern eine "reine jüdische Rasse", deren natürlicher "Lebensraum" Palästina sei.
Doch die von Auerbach so vehement bekämpfte Annahme, dass es sich bei den Juden um ein "Rassengemisch" handele, sollte sich in der ersten Phase der Debatte, die nach Lipphardt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs reicht, durchsetzen. In dieser zumeist in Fachzeitschriften ausgetragenen Forschungskontroverse schwankte auch das Urteil über die angeblich typischen Körpermerkmale von Juden (Nase, Gesicht, Schädelform).
Der jüdische Körper wurde damals wissenschaftlich vermessen, fotografiert und kartiert. Sogar in Laborexperimenten versuchte man zu klären, ob etwas Besonderes an jüdischem Blut feststellbar sei. Auch die Erforschung "jüdischer Gehirne" sollte eine Zeitlang helfen, eine humanbiologische Frage zu klären, die reichlich Zündstoff für den zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer heftiger werdenden Antisemitismus lieferte.
In der zweiten Phase der Debatte, in der es weiterhin um die Biologisierung des Jüdischen ging, verschärfte sich der Ton. Die jüdischen Humanbiologen gerieten angesichts der antisemitischen Atmosphäre auch unter den Wissenschaftlern immer mehr in die Defensive. Sie mussten zusehen, wie die These von der "jüdischen Fremdartigkeit" und der Schädlichkeit der "Mischehen" rassenbiologisch angeblich untermauert wurde. Ihre Einwände, die in derselben wissenschaftlichen Sprache formuliert waren, die damals die Rassen- und Vererbungsforschung prägte, fanden kein Gehör mehr.
Kaum einer der jüdischen Humanbiologen unterlag jedoch einer solchen Selbsttäuschung wie Otto Lubarsch (1860-1933), der 1917 auf den Lehrstuhl für Pathologie in Berlin berufen worden war, den kein Geringerer als Rudolf Virchow innegehabt hatte. Noch kurz vor seinem Tod soll der von Adolf Stöcker getaufte jüdische Forscher im Krankenbett einer Radioübertragung der Rede Hitlers am "Tag von Potsdam" (21. Mär 1933) "erwartungsvoll und in gehobener Stimmung" gelauscht haben. Lubarsch war zeitlebens der Auffassung, dass er trotz seiner Abstammung von jüdischen Eltern durch eigene Anstrengung und Vermeidung entsprechender Umwelteinflüsse sowie durch das Eingehen einer "Mischehe" seine jüdischen Eigenschaften abstreifen hatte können. Er starb früh genug, um die nationalsozialistische Rassengesetzgebung und die Vernichtungspolitik nicht mehr mitzuerleben.
Andere jüdische Wissenschaftler lebten zwar auch in "Mischehen", sahen darin aber durchaus kein Heilmittel gegen den Antisemitismus. Der Arzt und Zionist Max Nordau, der als Autor eines Buches über die "Entartung" bekannt wurde, von Lipphardt aber nur in einer Fußnote erwähnt wird, hatte am 20. Januar 1898 eine protestantische Witwe geheiratet. Obwohl es eine sehr glückliche Ehe werden sollte, brachte ihn die Heirat anfänglich in Erklärungsnot, auch sich selbst gegenüber. Denn zum Zeitpunkt der Heirat lehnte Nordau als Jude die "Mischehe" eigentlich ab.
Er schrieb deswegen an Herzl: "Würde ich meine Frau heute kennenlernen, hätte ich sie in den letzten anderthalb Jahren kennengelernt, ich hätte jede aufkeimende Neigung in mir mannhaft bekämpft und mir gesagt, dass ich als Jude nicht das Recht habe, meine Gefühle frei walten zu lassen." Der Zionistenführer wusste Nordau jedoch zu beruhigen mit der Feststellung: "In meinen Augen wird übrigens die Frau eines Juden eo ipso zur Jüdin durch die Ehe."
ROBERT JÜTTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In dem neuen Roman der israelischen Autorin Edna Mazya, "Über mich sprechen wir ein andermal", muss sich ein jüdischer Professor für Genetik an der Universität Heidelberg nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten in Palästina als Schullehrer durchs Leben schlagen. Es ist beileibe kein fiktives Einzelschicksal. Dass jüdische Forscher zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Gebiet der Humanbiologie, die damals von der Rassen- und Vererbungslehre geprägt war, tätig waren, zeigt eine Berliner wissenschaftsgeschichtliche Dissertation (Veronika Lipphardt: "Biologie der Juden". Jüdische Wissenschaftler über "Rasse" und Vererbung 1900-1935. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 360 S., geb., 39,90 [Euro]).
In der Arbeit werden insgesamt etwa vierhundertfünfzig Biowissenschaftler mit jüdischen Wurzeln, die in der Zeit zwischen 1900 und 1935 publizistisch aktiv waren, ermittelt. Die Darstellung beschränkt sich allerdings auf einige wenige herausragende Forscher, die von der Autorin für bestimmte Sichtweisen und Identitätsentwürfe als repräsentativ angesehen werden.
Zu ihnen zählt beispielsweise Elias Auerbach (1882-1971), der sich bereits als junger Mediziner und überzeugter Zionist an der Debatte über die Frage, ob die Juden eine eigene "Rasse" seien, beteiligte. Er vertrat die Meinung, dass die Juden kein "Rassengemisch" seien, wie sein einflussreicher Lehrer Felix von Luschan behauptet hatte, sondern eine "reine jüdische Rasse", deren natürlicher "Lebensraum" Palästina sei.
Doch die von Auerbach so vehement bekämpfte Annahme, dass es sich bei den Juden um ein "Rassengemisch" handele, sollte sich in der ersten Phase der Debatte, die nach Lipphardt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs reicht, durchsetzen. In dieser zumeist in Fachzeitschriften ausgetragenen Forschungskontroverse schwankte auch das Urteil über die angeblich typischen Körpermerkmale von Juden (Nase, Gesicht, Schädelform).
Der jüdische Körper wurde damals wissenschaftlich vermessen, fotografiert und kartiert. Sogar in Laborexperimenten versuchte man zu klären, ob etwas Besonderes an jüdischem Blut feststellbar sei. Auch die Erforschung "jüdischer Gehirne" sollte eine Zeitlang helfen, eine humanbiologische Frage zu klären, die reichlich Zündstoff für den zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer heftiger werdenden Antisemitismus lieferte.
In der zweiten Phase der Debatte, in der es weiterhin um die Biologisierung des Jüdischen ging, verschärfte sich der Ton. Die jüdischen Humanbiologen gerieten angesichts der antisemitischen Atmosphäre auch unter den Wissenschaftlern immer mehr in die Defensive. Sie mussten zusehen, wie die These von der "jüdischen Fremdartigkeit" und der Schädlichkeit der "Mischehen" rassenbiologisch angeblich untermauert wurde. Ihre Einwände, die in derselben wissenschaftlichen Sprache formuliert waren, die damals die Rassen- und Vererbungsforschung prägte, fanden kein Gehör mehr.
Kaum einer der jüdischen Humanbiologen unterlag jedoch einer solchen Selbsttäuschung wie Otto Lubarsch (1860-1933), der 1917 auf den Lehrstuhl für Pathologie in Berlin berufen worden war, den kein Geringerer als Rudolf Virchow innegehabt hatte. Noch kurz vor seinem Tod soll der von Adolf Stöcker getaufte jüdische Forscher im Krankenbett einer Radioübertragung der Rede Hitlers am "Tag von Potsdam" (21. Mär 1933) "erwartungsvoll und in gehobener Stimmung" gelauscht haben. Lubarsch war zeitlebens der Auffassung, dass er trotz seiner Abstammung von jüdischen Eltern durch eigene Anstrengung und Vermeidung entsprechender Umwelteinflüsse sowie durch das Eingehen einer "Mischehe" seine jüdischen Eigenschaften abstreifen hatte können. Er starb früh genug, um die nationalsozialistische Rassengesetzgebung und die Vernichtungspolitik nicht mehr mitzuerleben.
Andere jüdische Wissenschaftler lebten zwar auch in "Mischehen", sahen darin aber durchaus kein Heilmittel gegen den Antisemitismus. Der Arzt und Zionist Max Nordau, der als Autor eines Buches über die "Entartung" bekannt wurde, von Lipphardt aber nur in einer Fußnote erwähnt wird, hatte am 20. Januar 1898 eine protestantische Witwe geheiratet. Obwohl es eine sehr glückliche Ehe werden sollte, brachte ihn die Heirat anfänglich in Erklärungsnot, auch sich selbst gegenüber. Denn zum Zeitpunkt der Heirat lehnte Nordau als Jude die "Mischehe" eigentlich ab.
Er schrieb deswegen an Herzl: "Würde ich meine Frau heute kennenlernen, hätte ich sie in den letzten anderthalb Jahren kennengelernt, ich hätte jede aufkeimende Neigung in mir mannhaft bekämpft und mir gesagt, dass ich als Jude nicht das Recht habe, meine Gefühle frei walten zu lassen." Der Zionistenführer wusste Nordau jedoch zu beruhigen mit der Feststellung: "In meinen Augen wird übrigens die Frau eines Juden eo ipso zur Jüdin durch die Ehe."
ROBERT JÜTTE
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Humanbiologie forschende Juden Realität waren, kann Robert Jütte in diesem Band lernen. 450 zwischen 1900 und 1935 arbeitende Biowissenschaftler jüdischer Herkunft verzeichnet die wissenschaftshistorische Disseration von Veronika Lipphardt. Dass die Autorin von ihnen nur einige wenige (wie Elias Auerbach) auswählt, um sie "für bestimmte Sichtweisen und Identitätsentwürfe als repräsentativ" vorzustellen, scheint Jütte ein wenig zu bedauern. So stellt für ihn der von Lipphardt "nur in einer Fußnote" erwähnte Max Nordau ein Gegenbeispiel dar zum jüdischen Wissenschaftler, der die Mischehe als Heilmittel gegen den Antisemitismus sah.
© Perlentaucher Medien GmbH
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