Angola zurzeit des Kolonialkriegs. Ein afrikanischer Junge ist der einzige Überlebende, als sein Dorf von portugiesischen Soldaten gebrandschatzt wird. Ausgerechnet der Mann, der seine Eltern getötet hat, nimmt den Jungen mit nach Portugal zurück, doch er wird von der Familie in Lissabon nie richtig akzeptiert. Und die Erinnerungen an den Krieg verfolgen sowohl den Vater als auch mit den Jahren zunehmend den Adoptivsohn. Als im Heimatdorf des Vaters am Fuß der Berge das alljährliche Schlachtfest stattfindet, kulminert dieses intensive, eindringliche Sprachkunstwerk über die Grauen des Krieges.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Paul Ingendaay spricht gleichzeitig Warnung vor und Werbung für António Lobo Antunes' neuen Roman aus. Denn das, was diesen Roman um einen Leutnant, der aus dem Angola-Krieg einen Jungen mit nach Lissabon nimmt, kennzeichnet - Schrecken, tiefe Trauer, Ekel, wahnhaft-rasende Sprache - kennzeichne eben auch alle anderen Bücher von Lobo Antunes und könne durchaus auch Erschöpfung und Überdruss hervorrufen; der Kritiker selbst jedenfalls findet immer wieder zurück zu diesem großen Autor, auch wenn seine Welt eben eine "hässliche" sei. Dieses Mal hält er zudem eine Trigger-Warnung vor dem N-Wort für angemessen. Größten Respekt hat Ingendaay sowohl vor Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann als auch vor dem Luchterhand-Verlag, die sich weiterhin dieser anstrengenden Übersetzungs- und Verlegearbeit annehmen - Lobo Antunes' Bücher haben es verdient, findet auch der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2021Opern des Verfalls
Grandios und erschöpfend zugleich: António Lobo Antunes beschwört in seinem neuen Roman die Dämonen des Angola-Kriegs.
Zwischen Januar 1971 und März 1973 lebte der Schriftsteller António Lobo Antunes als Militärarzt in Angola, wo er die Spätphase des portugiesischen Kolonialkriegs miterlebte. Erst sehr viel später, 2005, veröffentlichte dieser phänomenale Dauerschreiber die "Briefe aus dem Krieg", die er in den frühen Siebzigerjahren an seine Frau geschickt hatte. Es sind fünfhundert Seiten voller Sehnsucht, Schrecken, Ekel und Langeweile.
Es würde Zeit kosten, die fast dreißig Romane des heute neunundsiebzigjährigen Schriftstellers zu durchforsten, um herauszufinden, in welchen von ihnen dieser Krieg keine Rolle spielt. Angola, das "portugiesische Vietnam", ist neben den sozialpsychologischen Folgen der Salazar-Diktatur das große Thema geblieben, vor dessen Hintergrund sich die düsteren Familiendramen von Lobo Antunes abspielen. Der Roman "Der Judaskuss" verlegte das Kriegstrauma ins Gehirn eines betrunkenen Veteranen, der sich gegenüber einer Prostituierten an der Bar den Horror von der Seele redet, und löste in Portugal 1979 einen Skandal aus. Schon damals rang Lobo Antunes um die angemessene Form für seine rasenden Monologe. Noch behielt er die üblichen Satzzeichen bei; auch nachfolgende Romane wie "Die Vögel kehren zurück" (Deutsch 1989) oder "Reigen der Verdammten" (1991) folgten den typographischen Konventionen.
Dann war es damit vorbei. Lobo Antunes gab seinem Schreiben Platz und den Figuren weitere Assoziationsräume, getreu Faulkners berühmtem Satz, die Vergangenheit sei niemals tot, ja nicht einmal vergangen. Er zerschlug die Chronologie, um die scharfkantigen Bruchstücke der Zeit neu zusammenzusetzen, und sprengte die Form, um das Unmögliche zu schaffen: ständige Gegenwart des Schmerzes, getaucht in eine unentrinnbare, albtraumhafte Vergangenheit. Die Dialoge lösten sich auf und ließen suggestive Gesprächsfetzen zurück, die zum Markenzeichen dieses Autors geworden sind. Genauso, wie sie auf den Seelen ihrer Sprecher lasten, jagen sie über die Buchseite - Formel, Mantra und Fluch in unendlicher Wiederholung, etwas, dem man nicht entrinnen kann, etwas, an das man sich klammert. Punkte als Satzzeichen gibt es seitdem nur noch am Ende eines Kapitels; Kommata dienen der Rhythmisierung, fehlen aber oft, um die Atemlosigkeit der Rede nicht zu stören.
Da die innere Handlung der Bücher die äußere um ein Vielfaches übertrifft, reichen für den neuesten Roman, "Bis die Steine leichter sind als Wasser", ein paar Sätze der Zusammenfassung. Ein Leutnant hat in Angola, nach einem Massaker unter der einheimischen Dorfbevölkerung, ein Kind verschont und es mit nach Lissabon genommen. "Diesen Jungen tötet ihr nicht der ist für mich": So lautet einer der kommalosen Sätze, die diesen Roman heimsuchen. Schon auf der ersten Seite erzählt Lobo Antunes, dass der Junge seinerseits, als er zum Mann geworden ist, seinen Stiefvater beim Schweineschlachten tötet, und rollt dann das Beziehungsgeflecht in der kleinen Familie auf: Vater, Mutter, Tochter, der schwarze Stiefsohn und dessen entfremdete Ehefrau. Das Ende des Romans läuft abermals auf die Tötungsszene zu, doch jetzt weiß man, wie es dazu kommen konnte. Rassismus, koloniales Denken und Depression erscheinen hier nackt, im gedankenlosen Daherreden einer Gesellschaftsschicht, die ihre Verstricktheit nicht bereut, sondern nur endlos vor sich ausbreiten kann. Wer empfindlich mit dem N-Wort ist, sollte diesen Roman nicht anrühren.
Wie man es aus früheren Werken des Autors kennt, sind die Figuren einander entfremdet oder einander überdrüssig, auch wenn sie durch Ehe oder Familienbande aneinandergekettet sind. Die physischen Orte wiederum wirken verkommen, was immer die Reste bürgerlicher Kultur einmal versprochen haben, die Möbel zerkratzt und verschlissen, die Farben stumpf. Alle Romane dieses Autors schwingen sich zu Arien des Verfalls auf, alle ähneln einander und schöpfen ihre Energie aus derselben Quelle, die schon die Liebesbriefe des damals Dreißigjährigen ahnen ließen: Schrecken, Ekel, Langeweile.
Ist das Werbung oder Warnung? Es ist, notgedrungen, beides. Denn die Bücher von Lobo Antunes sind mit nichts anderem zu vergleichen: hier grandiose Sprachmacht, dort das obsessiv bearbeitete und immer wieder heruntergeleierte Thema. Erinnerungen schieben sich ineinander und erzeugen bei der Lektüre den für Lobo Antunes typischen Sog, aber eben auch Überdruss und Erschöpfung. So arbeitet der Autor seit Jahrzehnten, Tag für Tag, mit Kugelschreiber auf billigen Notizblöcken, und so wird er arbeiten, bis ihm der Stift aus der Hand fällt. Dies ist nun einmal seine Welt, und sie ist hässlich.
Bei jedem Roman sage ich mir: Das war jetzt der letzte. Doch eine merkwürdige Faszination treibt immer wieder zu ihnen zurück, und die Bewunderung für den Künstler, der diese Kompositionen schuf, ist grenzenlos. Vielleicht hat es etwas zu sagen, dass der Hörbuchmarkt um Lobo Antunes einen großen Bogen macht: Dies ist Literatur für hartgesottene Gemüter, nichts zum Vorlesen.
"Nobelpreiskandidat", so nennt man Autoren wie António Lobo Antunes. Dass Maralde Meyer-Minnemann Jahr um Jahr mit solchen Texten ringt, um sie als tragische Opern vom Südwestrand Europas ins Deutsche zu übersetzen, ist ein Glücksfall. Auch der Luchterhand-Verlag hat eine Verbeugung verdient. Denn hartnäckig und mit der Beständigkeit eines Uhrwerks bringt er einen Roman nach dem anderen in einer Auflage von dreitausend Stück heraus und wird nicht allzu viele davon verkaufen. Vielleicht glauben sie im Verlag dasselbe wie Lobo Antunes' treueste Leser: Diese tieftraurigen Bücher verdienen einen Platz in der Ewigkeit, selbst wenn man hofft, dass es dort auch noch etwas anderes zu lesen gibt. PAUL INGENDAAY.
António Lobo Antunes: "Bis die Steine leichter sind als Wasser". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 528 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grandios und erschöpfend zugleich: António Lobo Antunes beschwört in seinem neuen Roman die Dämonen des Angola-Kriegs.
Zwischen Januar 1971 und März 1973 lebte der Schriftsteller António Lobo Antunes als Militärarzt in Angola, wo er die Spätphase des portugiesischen Kolonialkriegs miterlebte. Erst sehr viel später, 2005, veröffentlichte dieser phänomenale Dauerschreiber die "Briefe aus dem Krieg", die er in den frühen Siebzigerjahren an seine Frau geschickt hatte. Es sind fünfhundert Seiten voller Sehnsucht, Schrecken, Ekel und Langeweile.
Es würde Zeit kosten, die fast dreißig Romane des heute neunundsiebzigjährigen Schriftstellers zu durchforsten, um herauszufinden, in welchen von ihnen dieser Krieg keine Rolle spielt. Angola, das "portugiesische Vietnam", ist neben den sozialpsychologischen Folgen der Salazar-Diktatur das große Thema geblieben, vor dessen Hintergrund sich die düsteren Familiendramen von Lobo Antunes abspielen. Der Roman "Der Judaskuss" verlegte das Kriegstrauma ins Gehirn eines betrunkenen Veteranen, der sich gegenüber einer Prostituierten an der Bar den Horror von der Seele redet, und löste in Portugal 1979 einen Skandal aus. Schon damals rang Lobo Antunes um die angemessene Form für seine rasenden Monologe. Noch behielt er die üblichen Satzzeichen bei; auch nachfolgende Romane wie "Die Vögel kehren zurück" (Deutsch 1989) oder "Reigen der Verdammten" (1991) folgten den typographischen Konventionen.
Dann war es damit vorbei. Lobo Antunes gab seinem Schreiben Platz und den Figuren weitere Assoziationsräume, getreu Faulkners berühmtem Satz, die Vergangenheit sei niemals tot, ja nicht einmal vergangen. Er zerschlug die Chronologie, um die scharfkantigen Bruchstücke der Zeit neu zusammenzusetzen, und sprengte die Form, um das Unmögliche zu schaffen: ständige Gegenwart des Schmerzes, getaucht in eine unentrinnbare, albtraumhafte Vergangenheit. Die Dialoge lösten sich auf und ließen suggestive Gesprächsfetzen zurück, die zum Markenzeichen dieses Autors geworden sind. Genauso, wie sie auf den Seelen ihrer Sprecher lasten, jagen sie über die Buchseite - Formel, Mantra und Fluch in unendlicher Wiederholung, etwas, dem man nicht entrinnen kann, etwas, an das man sich klammert. Punkte als Satzzeichen gibt es seitdem nur noch am Ende eines Kapitels; Kommata dienen der Rhythmisierung, fehlen aber oft, um die Atemlosigkeit der Rede nicht zu stören.
Da die innere Handlung der Bücher die äußere um ein Vielfaches übertrifft, reichen für den neuesten Roman, "Bis die Steine leichter sind als Wasser", ein paar Sätze der Zusammenfassung. Ein Leutnant hat in Angola, nach einem Massaker unter der einheimischen Dorfbevölkerung, ein Kind verschont und es mit nach Lissabon genommen. "Diesen Jungen tötet ihr nicht der ist für mich": So lautet einer der kommalosen Sätze, die diesen Roman heimsuchen. Schon auf der ersten Seite erzählt Lobo Antunes, dass der Junge seinerseits, als er zum Mann geworden ist, seinen Stiefvater beim Schweineschlachten tötet, und rollt dann das Beziehungsgeflecht in der kleinen Familie auf: Vater, Mutter, Tochter, der schwarze Stiefsohn und dessen entfremdete Ehefrau. Das Ende des Romans läuft abermals auf die Tötungsszene zu, doch jetzt weiß man, wie es dazu kommen konnte. Rassismus, koloniales Denken und Depression erscheinen hier nackt, im gedankenlosen Daherreden einer Gesellschaftsschicht, die ihre Verstricktheit nicht bereut, sondern nur endlos vor sich ausbreiten kann. Wer empfindlich mit dem N-Wort ist, sollte diesen Roman nicht anrühren.
Wie man es aus früheren Werken des Autors kennt, sind die Figuren einander entfremdet oder einander überdrüssig, auch wenn sie durch Ehe oder Familienbande aneinandergekettet sind. Die physischen Orte wiederum wirken verkommen, was immer die Reste bürgerlicher Kultur einmal versprochen haben, die Möbel zerkratzt und verschlissen, die Farben stumpf. Alle Romane dieses Autors schwingen sich zu Arien des Verfalls auf, alle ähneln einander und schöpfen ihre Energie aus derselben Quelle, die schon die Liebesbriefe des damals Dreißigjährigen ahnen ließen: Schrecken, Ekel, Langeweile.
Ist das Werbung oder Warnung? Es ist, notgedrungen, beides. Denn die Bücher von Lobo Antunes sind mit nichts anderem zu vergleichen: hier grandiose Sprachmacht, dort das obsessiv bearbeitete und immer wieder heruntergeleierte Thema. Erinnerungen schieben sich ineinander und erzeugen bei der Lektüre den für Lobo Antunes typischen Sog, aber eben auch Überdruss und Erschöpfung. So arbeitet der Autor seit Jahrzehnten, Tag für Tag, mit Kugelschreiber auf billigen Notizblöcken, und so wird er arbeiten, bis ihm der Stift aus der Hand fällt. Dies ist nun einmal seine Welt, und sie ist hässlich.
Bei jedem Roman sage ich mir: Das war jetzt der letzte. Doch eine merkwürdige Faszination treibt immer wieder zu ihnen zurück, und die Bewunderung für den Künstler, der diese Kompositionen schuf, ist grenzenlos. Vielleicht hat es etwas zu sagen, dass der Hörbuchmarkt um Lobo Antunes einen großen Bogen macht: Dies ist Literatur für hartgesottene Gemüter, nichts zum Vorlesen.
"Nobelpreiskandidat", so nennt man Autoren wie António Lobo Antunes. Dass Maralde Meyer-Minnemann Jahr um Jahr mit solchen Texten ringt, um sie als tragische Opern vom Südwestrand Europas ins Deutsche zu übersetzen, ist ein Glücksfall. Auch der Luchterhand-Verlag hat eine Verbeugung verdient. Denn hartnäckig und mit der Beständigkeit eines Uhrwerks bringt er einen Roman nach dem anderen in einer Auflage von dreitausend Stück heraus und wird nicht allzu viele davon verkaufen. Vielleicht glauben sie im Verlag dasselbe wie Lobo Antunes' treueste Leser: Diese tieftraurigen Bücher verdienen einen Platz in der Ewigkeit, selbst wenn man hofft, dass es dort auch noch etwas anderes zu lesen gibt. PAUL INGENDAAY.
António Lobo Antunes: "Bis die Steine leichter sind als Wasser". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 528 S., geb., 24,- Euro.
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» Das kunstvolle Alterswerk eines Schriftstellers, der über Jahrzehnte hinweg ein ganz eigenes literarisches Universum erschaffen hat.« Dirk Fuhrig / Deutschlandfunk Kultur