Babulya, eine Russlanddeutsche, verlässt mit ihrer nur wenige Monate alten Urenkelin ihre Heimat und übersiedelt wie viele andere auch nach Deutschland, der Heimat ihrer Vorfahren. Diese Russlanddeutschen sind keine Flüchtlinge und keine Vertriebenen, auch wenn vielen das Schicksal der Vertreibung
durch die Politik Stalins vertraut ist; sie sind Umsiedler bzw. Spätaussiedler, die im Zuge der…mehrBabulya, eine Russlanddeutsche, verlässt mit ihrer nur wenige Monate alten Urenkelin ihre Heimat und übersiedelt wie viele andere auch nach Deutschland, der Heimat ihrer Vorfahren. Diese Russlanddeutschen sind keine Flüchtlinge und keine Vertriebenen, auch wenn vielen das Schicksal der Vertreibung durch die Politik Stalins vertraut ist; sie sind Umsiedler bzw. Spätaussiedler, die im Zuge der Ostpolitik vor allem in den 80er Jahren in die Bundesrepublik wechselten.
Babulyas neue Heimat besteht aus einer Wohnung in einem Hochhaus an der städtischen Peripherie, in der sie zusammen mit anderen Russlanddeutschen lebt. Ihre Küche ist das Zentrum des Zusammenlebens mit ihrer Enkelin Nanush und auch das Zentrum für Begegnungen mit den anderen Bewohnern. Hier werden die Geschichten erzählt, die Babulya bewahrt hat und weitergibt und die mit diesem Buch dem Vergessen entrissen werden.
Die Geschichten Babulyas beschwören eine Vergangenheit herauf, die von Entbehrungen, Hunger, staatlicher Willkür, Verschleppungen und persönlichen Tragödien gekennzeichnet ist. Ihre Geschichten erzählen aber auch von Geheimnissen, phantastischen und ins Mythische überhöhten Ereignissen, von Traditionen, von Essgewohnheiten, Familienzusammenhalt und Zukunftsträumen.
Babulya und ihre Ur-Enkelin Nanush sind in fast symbiotischer Liebe miteinander verbunden. Inzwischen ist Babulya alt und pflegebedürftig, sodass sich ihre Rollen vertauschen. Nun ist es Nanush, die sich mit Hingabe um ihre Urgroßmutter kümmert, auch wenn sie dabei immer wieder an ihre Grenzen kommt.
Durch die Ich-Erzählerin Nanush erfährt der Leser auch die Gegenwart der russlanddeutschen Wohngenmeinschaft, z. B. ihre Puzzle-Bilder an der Wand, die Vorliebe für Plastikblumen, die Liebe zu den traditionellen kleinen Kopftüchern und zu eingelegten Salzgurken, ihren altertümlichen Dialekt, ihre beruflichen Träume und das häufige Platzen dieser Träume.
Die Autorin wählt für ihren Roman eine Sprache, die den Erzählungen Babulyas angepasst ist. Realität und Traumvorstellungen vermengen sich miteinander; Menschen verwandeln sich, und auch das Haus verwandelt sich zu einem Nadelbaum, der seine Äste in den Himmel streckt. Der Wald wird zu einem Bild des Todes, dem sich Babulya zum Zeitpunkt der Erzählung annähert, und die Krähen, die Todesbotinnen, warten bereits auf sie. Dazu passen auch die poetischen „Beschreibungen“ der Personen, die dem Leser nicht immer Konkretes bieten, aber doch einen Eindruck vermitteln. Vieles bleibt in Andeutungen stehen wie z. B. die Tatsache, dass Nanush bei der Umsiedlung auf die Begleitung ihrer Mutter verzichten musste. Auch die Erzählungen sind oft eher Fragmente und wirken wie schlaglichthafte Erinnerungen. Ein wenig mehr Ausgesprochenes hätte dem Roman mehr Konturen verliehen.
Die stets lyrische Sprache hat durchaus ihren Reiz. Sie wird verstärkt durch eingeschobene rechtsbündige Texte, durch eine Vielzahl von Metaphern und eigenwillige Satzstrukturen. Aber nicht alle Ereignisse sind wohl dazu geeignet, in einem poetischen Schwebezustand gehalten zu werden. Wenn z. B. der Junge Vitali, auf Aufforderung seiner Mutter hin, ein anderes Kind so zusammenschlägt, „bis der Boden vor unserem Haus rot war von Blut“, dann kommt die Poetik an ihre Grenzen. „Und Momes Wald. Reh Wolf Bär unsre Freunde. Das Licht uns golden im Haar“ – solche staccato-artigen Sätze und auch der Einsatz vieler stilistischer Mittel sind unbestritten kunstvoll, aber die Häufung wirkte auf mich nur maniriert und zu gewollt.
Bei aller Liebe zur Lyrik: mir war es zuviel.