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Rachsucht gehört dazu: Neueditionen von Aufzeichnungen über Bismarck und eine Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs.
Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 war das Herzogtum Lauenburg an Preußen gekommen. Im September 1865 sollten die Stände dem neuen Herrn den Treueid leisten, aber da die Wahrung gewisser alter Rechte noch nicht zugesagt war, schien es zweifelhaft, ob die Eidesleistung zustande kommen werde. Doch Bismarck sorgte vor. Für den Fall einer Verzögerung war er entschlossen, das gesamte anwesende Volk schwören zu lassen; eine dazu vorbereitete Eidesformel nahm er mit in die Kirche, wo die Zeremonie stattfand. Das Ganze war womöglich nur eine Drohung, aber etwas von der rücksichtslosen Entschlossenheit Bismarcks ist zu erkennen: Dieser Mann war bereit, alle Minen hochgehen zu lassen. Den Eid nicht von den Ständen als den traditionellen Repräsentanten des Landes entgegenzunehmen, sondern vom ganzen Volk, das wäre eine revolutionäre Wendung gewesen. Aber dass nicht etwa der Eindruck von Bismarcks tiefer Volksfreundschaft entsteht: Als es Ende der 1880er Jahre um ein Schweineeinfuhrverbot ging, da sah er allein auf die Interessen der heimischen Landwirtschaft, "ob die Montanindustriebevölkerung billigeres Schweinefleisch habe, sei ihm gleichgültig".
Die beiden Vorfälle finden sich in den Bismarck-Erinnerungen von Robert von Keudell und Robert Lucius von Ballhausen, die nun wiederveröffentlicht wurden. Die beiden Bücher, zuerst 1901 und 1921 erschienen, sind immer gern benutzte Quellen für die Persönlichkeit Bismarcks gewesen. Ganz neue Eindrücke sind ihnen nicht abzugewinnen, aber der erste Nachdruck seit hundert und mehr Jahren ist doch zu begrüßen. Die tief widersprüchliche Person Bismarcks tritt in diesen Erinnerungen deutlich hervor. Genauer: bei Lucius von Ballhausen. Für Keudell gilt das nur eingeschränkt. Er war einige Jahre Bismarcks Privatsekretär, bevor er in den diplomatischen Dienst wechselte, sein Buch ist aus tiefer Bewunderung für den alten Chef geschrieben. Das Vorwort endet mit der Überzeugung, dass die langen Zitate aus den Briefen der "edlen Frau" (Bismarcks Gattin) "viele Seelen zu herzlicher Verehrung anregen" werden.
Ansichten eines Landedelmanns.
Da ist Lucius von Ballhausen nüchterner, reeller. Auch er bewundert Bismarck, ist regelmäßig dessen Gast und darf sich als Freund fühlen. Er empfindet den Reiz der bismarckschen Persönlichkeit, die Kunst der Menschenbehandlung, die Klugheit. Aber als wichtiger Reichstagsabgeordneter der Freikonservativen und ab 1879 preußischer Landwirtschaftsminister hat er eigene politische Aufgaben und sieht auch Bismarcks dunkle Seiten. Vor allem dessen enorme Reizbarkeit fällt ihm immer wieder auf: "Die Neigung, aus jeder Kleinigkeit einen Konfliktfall zu machen, ist fast krankhaft und führt zu ewigen Friktionen." Dazu der Unwille, einen Rat anzunehmen, auch wenn es um Gegenstände geht, die ihm wenig vertraut sind, wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Selbst die Bekämpfung der Tollwut wird zu einem Problem, weil der Kanzler die neuen Erkenntnisse über die Verbreitung der Seuche (durch den Biss infizierter Tiere) ablehnt und als alter Landedelmann an Anschauungen festhält, wonach das Wetter ein ausschlaggebender Faktor sei.
Die Konfliktfreude, gesteigert bis zur Hasslust, trübt den Blick. Bismarcks Verhältnis zum Katholizismus hat etwas vom Verschwörungswahn, wenn er glaubt, die Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit am 18. Juli 1870 und die französische Kriegserklärung am 19. Juli stünden in einem ursächlichen Zusammenhang. Während der Streiks 1886 möchte er bei jeder Gelegenheit den Belagerungszustand erklären lassen, um die Bevölkerung die Nachteile sozialdemokratischer Agitation spüren zu lassen, man müsse "rachsüchtig sein". Die parlamentarischen Gegner haben nichts Besseres zu erwarten. Jedes Zugeständnis lehnt Bismarck ab, "man dürfe gegen eine gewisse Klasse von Menschen nicht gerecht, billig, vernünftig sein".
Trübe auch die unkollegiale Art, Minister zu eigenständigen Entscheidungen aufzufordern, um später seine Empörung zu äußern. Und wenn man sich fragt, wie ein Regierungschef mit solchen Tendenzen zu Rücksichtslosigkeit und auch Willkür so lange bestehen konnte, wird man auf sein außenpolitisches Ansehen in ganz Europa verweisen, aber auch darauf, dass seine Zeit einen enormen Nervenverschleiß für alle bedeutete, nicht zuletzt für Wilhelm I. Dass dieser trotz so vieler und oft genug dramatisch ausgespielter Konflikte das Vertrauen zu seinem Kanzler nicht verlor, ist eine ganz eigene Leistung. Noch einmal tritt aus einer unverdächtigen Quelle vor Augen, dass das Ende Bismarcks 1890 nicht allein aus dem Unverstand Wilhelms II. zu erklären ist. Zuletzt hatte sich der Kanzler bei allen verhasst gemacht.
Das ist nicht unbekannt, und doch ist es interessant, in einem Tagebuch davon zu lesen. Die kurztaktige Beschreibung gibt einen Eindruck von den unendlich vielen Verzögerungen, Verwirrungen, Verstimmungen, mit denen Politik zu kämpfen hat, selbst wenn sie von einem Regierungschef geführt wird, der lange über eine ungewöhnliche Autorität verfügte. Was den ewigen Wunsch nach "Konzepten" oder "Perspektiven" anlangt, die gute Politik zu entwickeln habe - da buk Bismarck schon 1870 kleinere Brötchen: "Je länger er in der großen Politik arbeite, umso kürzer stecke er sich seine Ziele."
Wie man Beamte los wird.
Bemerkenswert, wie rasch Wilhelm II. in der Achtung sinkt. Gilt er zunächst noch als Hoffnung, fällt bald schon auf, wie schlecht er vorbereitet ist, wie wenig er über Staat und Politik weiß, wie fremd ihm die Bindung durch das Recht ist. Und dann macht man in solchen Aufzeichnungen immer Funde, die aus aktuellem Interesse freuen, etwa dass die deutschen Staaten in das neue Reichsland Elsass-Lothringen speziell jene Beamten schickten, die man selbst nicht brauchen konnte. Sehr beachtenswert auch die Bemerkung der Kaiserin Augusta über das Haus Orleans: "Ihr Eifer, das konfiszierte Vermögen zurückzuerhalten, sei unschicklich gewesen." Bedauerlich allerdings, dass die Edition ohne Kommentierung daherkommt. Der Arbeitsaufwand wäre sicher groß gewesen und vom Verlag allein nicht zu finanzieren. Aber dass keine andere Möglichkeit gefunden wurde, das ist doch schade.
Zur Komplettierung seines Reichsgründungsgedenkens hat der Verlag in ähnlicher Ausstattung wie die beiden Quellenbände auch noch eine voluminöse Darstellung der Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs herausgebracht, verfasst von Oliver F. R. Haardt, Historiker in Cambridge. Haardt untersucht nicht allein den Text der Reichsverfassung und andere juristische Dokumente, er will vielmehr aus der politischen Praxis wie aus der Lektüre der rechtswissenschaftlichen Literatur eine umfassende Geschichte des Verfassungslebens geben; als methodisches Vorbild schimmert E. R. Huber durch. "Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs", die der Untertitel verspricht, ist die Arbeit aber nur mit Einschränkungen. Vieles, was hier ausgebreitet wird, die große unitarische Tendenz des politischen Lebens und also die politisch schwache Rolle der Einzelstaaten und des Bundesrats, in dem sie ihre Vertretung hatten, die allmähliche Verreichung Preußens, die verfassungsrechtliche Unklarheit des Reiches, das kennt man eigentlich.
Haardt neigt nicht zu effektvoller Thesenbildung, er ist ein Mann der Umsicht und des Abwägens. Möglicherweise hat diese Tugend dazu beigetragen, das Buch über viele hundert Seiten dahinlaufen zu lassen, ohne dass aus den vielen Beobachtungen sich eine klare Kontur entwickelte. Die innere Ordnung ist undeutlich - 850 Seiten Text in zehn Kapiteln ohne Untergliederung - , auch das wohl Symptom eines zu schwachen staatsrechtlichen Erkenntnis- oder Begriffsbildungsehrgeizes. Der Leser bewundert die Arbeitskraft des Autors, er erfährt auch interessante Dinge, aber er muss sich ausführliche Notizen machen. Sonst wird er später nichts mehr wiederfinden.
STEPHAN SPEICHER.
Begegnungen mit Bismarck. Bd. 1: Robert von Keudell: Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 - 1872. Mit einer Einführung von Oliver F. R. Haardt.
Bd. 2: Robert Lucius von Ballhausen: Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Robert Lucius von Ballhausen 1871 - 1890. Mit einem Nachwort von Christopher Clark. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. Zus. 895 S., geb., 85,- Euro.
Oliver R. Haardt: "Bismarcks ewiger Bund".
Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. 944 S., geb., 40,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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