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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In der Evolution ist jede taugliche Strategie willkommen: Lucy Cooke zeigt, wie Vorurteile den nüchternen Blick auf das weibliche Tier verstellen.
Vor Kurzem erzählte die amerikanische Anthropologin und Primatologin Sarah Blaffer Hrdy der BBC, wie sie als junge Mutter in den Siebzigerjahren davon überzeugt war, uneingeschränkt für ihr Baby da sein zu müssen, so wie es aus der Bindungstheorie des von ihr bewunderten Psychoanalytikers John Bowlby zu folgern war. Nur passten ihre ambivalenten Gefühle gegenüber dem Nur-Mutter-Sein nicht so richtig zu der Theorie. Das veranlasste sie zu eigenen Forschungen über elterliche Fürsorge und der viel beachteten These, dass Frühmenschen nicht auf exklusive Betreuung setzten, sondern auf die gemeinsame Betreuung des Nachwuchses, wie sie etwa auch Krallenaffen betreiben, und dass aus dieser geteilten Verantwortung soziales Verhalten entstand.
Sarah Blaffer Hrdy, heute 77 Jahre alt, ist eine Protagonistin in dem an Protagonisten nicht armen Buch "Bitch" der britischen Zoologin, Dokumentarfilmerin und Autorin Lucy Cooke. Es ist, und das macht einen großen Teil seines Reizes aus, in gleichem Maß ein Ritt durch neue Sichtweisen auf das weibliche Tier, die sich in Evolutionsbiologie und Zoologie herausbilden, wie Wissenschaftsgeschichte: Was Forschungsgegenstand wird, ist, wie Sarah Blaffer Hrdys Erzählung zeigt, auch vom Erfahrungshorizont der Forscher abhängig. Das waren die längste Zeit überwiegend Männer, mit dem Ergebnis, dass erstens der männliche Teil der Tierwelt mehr Beachtung erfuhr und zweitens, was Schlussfolgerung sein sollte, oft Bestätigung bestehender Ideen über Geschlechterrollen war. Das Stereotyp weiblicher Passivität und männlicher Tatkraft konnte sich so seit Charles Darwin verfestigen.
Wie diese und andere Annahmen seit einiger Zeit infrage gestellt werden, beschreibt Lucy Cooke mit Schwung, Humor und Tiefe. Auf der ganzen Welt trieb sie Wissenschaftler und ihre Forschungsobjekte auf. Man weiß kaum, wen man mehr bestaunen soll: Lemuren-Weibchen, die ihre Führungsrolle mit solcher Vehemenz behaupten, dass den Männchen der Gruppe nur vom Baum geworfene Essensreste und Schlafplätze auf dem Boden bleiben? Spinnenmännchen, die sich einem Weibchen zur Begattung erst nähern, wenn dieses gegessen hat, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass sie selbst zur Mahlzeit werden? Die Biologin Patricia Brennan, die mithilfe künstlicher Entenvaginen nachwies, dass Enten die Befruchtung durch Erpel, die die Kopulation erzwungen haben, zu verhindern wissen? Oder Patricia Gowaty, die das Fruchtfliegen-Experiment von 1948 wiederholte, das zum Siegeszug des gern auf den Menschen übertragenen Bateman-Prinzips geführt hatte - Männchen haben aus Reproduktionsgründen ein Interesse daran, sich mit möglichst vielen Weibchen zu paaren - und gravierende Verzerrungen aufdeckte?
Gut getan hätte eine Reflexion darüber, inwieweit das seit zwei Forschergenerationen betriebene Zurechtrücken misogyner Annahmen selbst die Gefahr einer "confirmation bias" birgt, die jene Informationen bevorzugt, die zum gewünschten Ergebnis passen. Doch die Bilanz ist eindeutig: Das weibliche Tier wurde auf folgenreiche Weise missverstanden. In elf Kapiteln durchforstet Lucy Cooke alle Aspekte einer Tierexistenz, deren Interpretation Korrekturen erfährt oder bislang zu kurz kam: Promiskuität, Dominanz, Wettbewerb, Aggression, und, als erste Weichenstellung, die den Zug direkt auf den falschen Kurs setzte, die Partnerwahl.
Charles Darwin benannte die sexuelle Selektion als evolutionäre Kraft, die erklärt, warum es so exzentrische Accessoires wie Pfauenfedern gibt, er gestand den Weibchen auch einen gewissen Anteil an der Entscheidung zu, welches Männchen seine Eizelle befruchtet. Vor allem aber sah er Konkurrenz unter männlichen Tieren als treibenden Faktor für auffällige sekundäre Geschlechtsmerkmale, was im viktorianischen England auch viel mehr einleuchtete.
Die Weibchenwahl ist ein aktuell intensiv beforschtes Feld, Zwischenbilanz: Es gibt sie, und sie wurde oft schlicht übersehen - was schon mal passieren kann, wenn man Beifußhähnen dabei zusieht, wie sie sich, die Kehlsäcke ballongroß aufgeblasen und mit rhythmischem Ploppen aneinanderschlagend, voreinander produzieren. Nicht die protzigsten Hähne machen aber das Rennen, sondern die, die auf Signale der unauffälligen Hennen zu reagieren wissen. Auch an anderer Stelle sind Beifußhennen aktiver als gedacht: Sie paaren sich, wie 90 Prozent der weiblichen Vögel, mit mehreren Männchen.
Bei allen Wirbeltiergruppen erwies sich die Annahme als falsch, aus der unterschiedlichen Beschaffenheit der Gameten - wenige große Eizellen versus viele kleine Spermien - lasse sich auf das Verhalten schließen: Zurückhaltung beim Weibchen, Promiskuität beim Männchen. Die unerschrockene Sarah Blaffer Hrdy, in den frühen Siebzigerjahren die einzige Frau in ihrer Harvard-Abschlussklasse, sah in dem ausschweifenden Sexualverhalten etwa von Languren-Weibchen in Indien einen Weg, die Vaterschaft zu verschleiern und die nicht seltenen Infantizide abzuwenden: Die Kinder von Weibchen, mit denen sie kopuliert haben, töten Langurenmännchen nicht.
Weibliche Tiere, das wird mit der Lektüre klar, üben nicht weniger Kontrolle über den Fortpflanzungsprozess aus als die Männchen. Sie tun es oft auf dezentere Weise, aber nicht immer. Erdmännchen-Matriarchinnen, die die eigenen Töchter umbringen, oder Nacktmullköniginnen, die Konkurrentinnen totbeißen, sind nur besonders drastische Beispiele weiblicher Dominanz und Aggressivität.
Vor allem zeigt "Bitch" auf angenehm unaufgeregte Weise: Der Evolution ist jede Strategie recht. Wenn die Umweltbedingungen es erfordern, werden binäre Geschlechterkonstellationen ersetzt durch das, was eben besser passt. Rennechsen sind unisexuell mit wechselnden Geschlechterrollen. Albatros-Weibchen werden zum Paar, wenn es nicht genügend Männchen gibt. Jungferngecko-Weibchen klonen sich gleich selbst.
Wer Argumente für traditionelle heterosexuelle Rollenverteilungen oder gegen variable Geschlechtsidentitäten sucht, sollte sich besser nicht auf die Tierwelt berufen. Zu finden ist da vielmehr, was Charles Darwin in einem Brief zu den ihn faszinierenden Rankenfußkrebsen schrieb, eine meist hermaphroditische Krebsart, deren Penis achtmal so lang ist wie ihr Körper: "Wahrhaftig, die Pläne und Wunder der Natur sind unbegrenzt." PETRA AHNE
Lucy Cooke: "Bitch". Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich.
Malik Verlag, München 2023. 432 S., geb., 22,- Euro.
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