Eine Familienaufstellung
Lilia Hassaine schaffte es mit diesem Roman in die Vorauswahl des renommierten Prix Goncourt. Sie gibt einen neuen Blick frei in die Parallelgesellschaft der eingewanderten Algerier und ihr Leben in den berüchtigten Banlieus, die man auch als Ghettos bezeichnen könnte.
Der
Roman besteht aus mannigfaltigen Zutaten wie dem Generationenkonflikt in der ursprünglich…mehrEine Familienaufstellung
Lilia Hassaine schaffte es mit diesem Roman in die Vorauswahl des renommierten Prix Goncourt. Sie gibt einen neuen Blick frei in die Parallelgesellschaft der eingewanderten Algerier und ihr Leben in den berüchtigten Banlieus, die man auch als Ghettos bezeichnen könnte.
Der Roman besteht aus mannigfaltigen Zutaten wie dem Generationenkonflikt in der ursprünglich patriarchalischen Gesellschaft, den der erhofften Aufstiegschancen und der Sehnsucht nach Anerkennung, der Ambivalenz nur „geduldet“ zu sein, der Einsicht des Scheiterns.
Er ist zudem ein gut ausgeleuchtetes Psychogramm einer typischen algerischen Familie, die jedoch eine Besonderheit aufweist: die Präsenz des zwei-eiigen Zwillingspaars Amir und Daniel, die durch die Entscheidung des Vaters getrennt und in unterschiedlichen Welten aufwachsen.
Der Vater Saíd lebt in einem typischen Banlieu-Milieu mit seiner Frau Nadscha und seinen drei Töchtern Maryama, Sonia und Nour. Seinen Bruder Kader hat es durch die Heirat mit der Französin Ève in eine ganz anderes Umfeld verschlagen: in ein eigenes Haus mit Garten, mit vielen Büchern und statt wie Saíd sich in einer Fabrik stumpf und kaputt zu arbeiten, ist er für seinen Schwiegervater in dessen Schokoladenfabrik tätig.
Auch wenn Amir und Daniel die Hauptdarsteller in diesem kleinen Familiendrama sind, werden auch die Schicksale der Töchter angerissen: Maryama, die nach Algerien verheiratet wird, Sonia, die von ihrem „importierten“ algerischen Mann nach seiner Ankunft im „Gelobten Land“ verlassen wird und Nour, die Rebellische, die sich gegen ihr Frausein mit Brustbandagen und Hunger wehrt. Die von ihrem Vater „Kleiner Mann“ genannt wird. Die mit 18 Jahren das Haus verlässt, um frei zu sein von der Verachtung dem Vater gegenüber, der sich immer duckt, um bloß nicht aufzufallen, frei von der Unterwürfigkeit der Mutter.
Da Ève und Kader keine Kinder bekommen können, sollen sie das Baby, das Nadscha erwartet, adoptieren. Doch aus einem Baby werden zwei, nämlich Amir und Daniel.
Amir bleibt bei den Eltern, während Daniel seine Lebensreise bei Ève und Kader antritt. Im Laufe des Romans zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Außenhüllen ihres Lebens, sondern auch die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge. Amir ist ein introvertiertes stilles Kind, das mit vier Jahren immer noch nicht spricht, Daniel ist ein forderndes Kind, aufrecht und stolz. Und doch sind sich die beiden Cousins, die nicht wissen, dass sie Brüder sind, tief und innig und unzertrennlich wie durch eine gemeinsame Nabelschnur verbunden.
Lilia Hassaine gelingt es meisterlich, die Schicksalsfäden zu verbinden, zu verknoten, so dass man sich bei der Lektüre eingebunden fühlt und die Empfindungswelten aller Personen nachvollziehen kann. Das Ende ist tragisch. Und doch fast erwartbar.
Mit dem Besuch Daniels und seiner kleinen Familie in Algerien (Orte sind Sprache der Erinnerung, auch wenn man nie dort war) schließt sich der Kreis und es gelingt ihm endlich, seinen Zorn und seine Schuldgefühle loszulassen.
So lösen sich die Knoten der Schicksalsfäden. Und so ist das Schicksal dieser zweiFamilien auch ein Pars pro toto: ein Gleichnis für die Zerrissenheit von Immigranten, nicht von hier und nicht von dort. Von Woanders. Aus einem Zwischenreich.