The Sisters Of Mercy: die Gründerväter des Gothic Rock Anfang der Achtzigerjahre, beeinflusst vom kühlen Postpunk der damaligen Zeit, entstand in Großbritannien ein neues Musikgenre: Gothic. Nach The Cure, Joy Division und Siouxsie & The Banshees trat 1982 mit den Sisters Of Mercy eine neue Band ins Stroboskoplicht, die diese Musik und das dazugehörige Image entscheidend prägen sollte - und deren Einfluss auf die florierende deutsche Darkwave-Szene der Neunziger gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Hinter den Sisters steht bis heute eine der schillerndsten Figuren der Rockszene. Andrew Eldritch gab den eigentlich eher kühl und elektronisch karg aufgebauten Songs seiner Band mit seinem dramatischen Baritongesang eine überraschend emotionale Note, und darüber hinaus stilisierte er sich zum ultimativ geheimnisvollen Gothic-Zeremonienmeister, der nichts von sich preisgab und sich auf der Bühne hinter einer Wand aus Trockeneisnebel versteckte. Über sein Privatleben drang nie etwas an die Öffentlichkeit, und Fotos ohne Sonnenbrille gab es nicht. Eldritch zelebrierte das Mysterium des Rockstars, um es sich gleichzeitig in seiner Musik ironisch zu brechen. Dem Journalisten Mark Andrews ist es nun gelungen, Licht in das von Eldritch so sorgsam gehütete Dunkel zu bringen. Im nordenglischen Leeds, in dem die Sisters zwischen Punk, Glam und Electro ihre ersten Schritte unternahmen, ging er auf eine gründliche Spurensuche und förderte in Interviews mit alten Weggefährten und Musikschaffenden sowie dank Privatkontakte jede Menge neuer Informationen zutage, die selbst eingefleischte Fans überraschen dürften. Sein erhellendes Porträt der frühen Sisters-Jahre zeigt vor allem, wie der Student Andrew Taylor die Kunstfigur Eldritch erfand und den Masterplan hinter den Sisters ausheckte, zeichnet aber auch eine gelungene Skizze der fruchtbaren Musikszene der damaligen Zeit und spart nicht mit amüsanten Anekdoten. Ein Buch, das in der bis heute großen Fangemeinde der Düsterrocker mit großer Spannung erwartet wird!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2022Opfer des eigenen Mythos
Wenn die Pet Shop Boys auf Abba, Motörhead und T. S. Eliot treffen: Mark Andrews zeichnet in einer Mischung aus Biographie und Szeneporträt nach, wie die Sisters of Mercy von einer Lokalband zur Pop-Größe wurden.
Als der Punk in Großbritannien langsam zum Erliegen kam, begann eine Phase der Umorientierung, in der Musiker sich alle möglichen Freiheiten nahmen. Zwischen dem Ende der Siebziger- und Mitte der Achtzigerjahre gründeten sich etliche Bands, die weder mit standardisiertem Songwriting noch dreiakkordiger Rotzigkeit etwas zu tun haben wollten und stattdessen Interesse für Disco und Noise, Dub und Funk, Glam und Krautrock entwickelten. Prominente Vertreter sind etwa Public Image Ltd, Siouxsie and the Banshees, The Cure und Magazine.
Während der Großraum Manchester Gruppen wie The Smiths oder Joy Division hervorbrachte und damit viele andere Städte überstrahlte, kam eine kleine Auswahl bestechender Acts aus Leeds, man denke an Soft Cell, Gang of Four, vor allem aber The Sisters of Mercy. Die Formation um Andrew Eldritch demonstrierte immer wieder, was ein dysfunktionaler, nicht übermäßig begabter, dafür ästhetisch zielstrebiger Haufen an Musikenthusiasten leisten kann - und welche Missverständnisse daraus erwachsen.
Mark Andrews hat für das britische Popkulturmagazin "The Quietus" zahlreiche Artikel über die frühen, nach einem Song von Leonard Cohen benannten Sisters of Mercy verfasst, die nun, angereichert mit Zusatzmaterial, als Monographie vorliegen. Er hat alle wichtigen Weggefährten des Ensembles interviewt und seine Abhandlung mit Zitaten gespickt, von denen selbst die floskelhaftesten noch mindestens unterhaltsam sind. Sein Schwerpunkt liegt auf der Zeit zwischen der Bandgründung 1980 und der 1987 veröffentlichten, knapp zehn Minuten langen und von einem vierzigköpfigen Chor getragenen Bombast-Nummer "This Corrosion". Was danach passierte, wickelt der Autor in einem überschaubaren Epilog ab.
Das ist einerseits schade, weil sich erst im Anschluss an die Platten "First and Last and Always" (1985) und "Floodland" (1987) der dringend herbeigesehnte Erfolg einstellte - hohe Chartplatzierungen, teuer produzierte Videos, Auftritte bei "Top of the Pops" und Konzerte in der Londoner Wembley Arena. Andererseits passierten die wirklich interessanten Dinge, da liegt der Autor richtig, in der Frühphase der zunächst recht rumpeligen Lokalband. Von 1987 an waren die Sisters nur noch eine Art Ein-Mann-Projekt mit wechselnden Begleitmusikern. Den letzten neuen Song hat Eldritch 1993 auf der Compilation "A Slight Case of Overbombing" veröffentlicht. Von einer Auseinandersetzung mit der Plattenfirma EastWest Records scheint er sich nie wirklich erholt zu haben.
Die klassische Sisters-Besetzung sieht so aus: Andrew Eldritch (Gesang), Gary Marx (Gitarre), Craig Adams (Bass), Ben Gunn und von 1983 an Wayne Hussey (zweite Gitarre), Doktor Avalanche (Drumcomputer). Boyd Steemson, ein Vertrauter der Truppe, sagt über Eldritch, er hätte "eigentlich den Status eines David Byrne oder Nick Cave" erreichen müssen. Marx äußert sich ähnlich: "Ich möchte jetzt nicht den Begriff 'Renaissancemensch' bemühen, aber eigentlich sah es bei Andrew doch so aus, als ob er von Anfang an nach einer Rolle strebte, in der er seine verschiedenen Talente hätte einbringen können." Eldritch beherrscht ein halbes Dutzend Sprachen, besuchte eine Privatschule und war als lustloser Student in Oxford eingeschrieben. Seine Interessen dort bringt Steemson wie folgt auf den Punkt: "Bowie, Zigaretten, Bowie, Zigaretten, Iggy, Zigaretten, Bowie."
Als Eldritch 1978 nach Leeds kam, fiel er schnell als pedantischer Intellektueller auf. John Keenan, der in der Stadt den F Club - eine Reihe von Musikveranstaltungen an unterschiedlichen Orten - ins Leben rief, musste sich Marx zufolge einmal von Eldritch auseinandernehmen lassen, weil er das Wort "metaphysisch" falsch benutzte. Max Hole, in den Achtzigern bei Warner Music in Großbritannien angestellt, sagt: "Andrew war sowohl das große Plus als auch das große Minus der Sisters of Mercy." Es heißt auch, Hole habe noch Jahre nach der Liaison mit den Sisters ein Foto von Eldritch im Büro gehabt. Sprachen ihn Leute darauf an, lautete die Antwort: "Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste. Egal, was ich gerade erlebe - sobald ich das Foto ansehe, weiß ich wieder, dass nichts, gar nichts so schlimm sein kann wie das, was ich mit ihm erlebte."
Die Dreckskerl-These vertreten auch Gary Marx, der die Band einst mit Eldritch gründete, Craig Adams und Wayne Hussey. Dabei unterscheiden sie zwischen dem ehrgeizigen, umfassend interessierten und witzigen Andy Taylor, der 1959 in dem beschaulichen Örtchen Ely zur Welt kam, und seinem Alter Ego Andrew Eldritch, das zwanzig Jahre später im heruntergekommenen und von Gewalteruptionen heimgesuchten Leeds geboren wurde. Schon bald war jene für die Bühne geschaffene Kunstfigur nicht mehr von der tatsächlichen Person zu unterscheiden. Die Frage nach einer wie auch immer gearteten Authentizität hatte sich damit erledigt.
Was zählte, war die von exzessivem Speed-Konsum befeuerte Inszenierung eines in Leder gekleideten Typus, der auch nachts Sonnenbrillen trug und dessen Arroganz das Umfeld einschüchterte. Cool und egomanisch, schwebte er Andrews zufolge dauernd in der Gefahr, "Opfer des eigenen Mythos zu werden". Manche würden sagen, genau das sei Mitte der Achtziger längst passiert, als er vor lauter Selbstdarstellungspirouetten den Bezug zu den Kollegen verlor. Was jedoch blieb, waren sein Charisma und die Fähigkeit, mit reduzierter Instrumentierung und Disziplin herausragende Songs aufzunehmen.
Dabei spielten Eldritchs künstlerische Vorlieben eine entscheidende Rolle. Einmal bezeichnete er die Musik der Sisters als Mischung "zwischen Motörhead und den Pet Shop Boys". Er verehrte die Stooges, Gary Glitter, Suicide, Dolly Parton und Abba, fand in David Bowie ein Idol, wollte, so die gerne dementierte Legende, von Werner Herzog ein Album produzieren lassen (am Ende ist nichts daraus geworden) und zitierte oft aus den Gedichten T. S. Eliots. Seine Musik und Persona setzte der nachtaktive Kontrollfreak aus den Werken solcher Vorbilder zu einem, das wird oft übersehen, Camp-Produkt zusammen: überspitzt, ernst gemeint, nie lächerlich, aber oft genug ausgesprochen lustig.
Schon lange bevor Bands wie Nine Inch Nails auftauchten, zeigten die Sisters, dass zwei E-Gitarren und ein stampfender Beat aus dem Drumcomputer einen Sound erzeugen können, dessen Aggressivität jede Metal-Kapelle alt aussehen lässt. Im Grunde führten sie konsequent weiter, was Can und Kraftwerk begonnen hatten. Darin bloß eine Spielart des Grufti-Rock zu sehen ist ein Missverständnis, das sich nach wie vor hält.
Delay-Effekte, primitive Wiederholungsschleifen, ein hohl klingendes Schlagzeug, Gitarren, die an die Shadows erinnern, manchmal gar nach amerikanischer Surfmusik klingen, Bassfiguren, denen man den Einfluss von MC5 anhört, psychedelische Töne, Anleihen bei Roxy Music und Petula Clark - die Sisters führten zusammen, was bislang nicht zusammengehörte, und experimentierten sich durch die Achtziger. Bis heute werden Songs wie "Alice" oder "Temple of Love" in Clubs gespielt.
Mark Andrews zeigt mit seiner Darstellung, was Pop im Idealfall sein kann: das Unquantifizierbare, eine auf den Zufall, den passenden Ort, die richtigen Leute angewiesene Konstellation, deren holprige Entwicklung schon das Ziel darstellt. Vollkommen uninteressant ist dabei ein schlimmstenfalls glattgebügeltes Endprodukt, egal sind Verkaufszahlen und Hallengrößen. Die Sisters of Mercy waren zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens bei sich angekommen, die ganze Band - ihr Mitgliederkarussell, ihre Alben, ihre Ästhetik, ihr Auftreten - ist eine einzige Dauertransformation. Dazu passen die Gigs, bei denen sich die Sisters in Trockeneisnebel regelrecht auflösen - nicht nur gelegentlich wurden sie als eine der schlechtesten Live-Bands aller Zeiten bezeichnet. So oder so, jenseits ohnehin schwieriger Etiketten wie Gothic oder New Wave illustrierten sie früh, dass sie eine auf Pastiche setzende Pop-Kombo sind.
Das in der deutschen Fassung lausig lektorierte Buch ist ziemlich kleinteilig. Wer an einem Überblick interessiert ist, wird sich in den voraussetzungsreichen Einzelheiten schnell verlieren. Auf alle, die sich mit ein wenig Vorwissen an die Lektüre machen, wartet eine rasante Mischung aus Bandbiographie und Szeneporträt. Ob Querelen im Tonstudio oder Ausschweifungen auf Tour, der Leser erfährt jede Menge Details. Erahnen kann man hingegen nur, was aus Andrew Eldritch geworden wäre, wenn er sich nach dem dritten und bislang letzten Sisters-Album "Vision Thing" von 1990 dazu entschlossen hätte, weiter Platten aufzunehmen. Vielleicht hätte er heute tatsächlich den Status eines Nick Cave. KAI SPANKE
Mark Andrews: "Black Planet". Der Aufstieg der Sisters of Mercy.
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt. Hannibal Verlag, Innsbruck 2022. 360 S., Abb., br., 27,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Pet Shop Boys auf Abba, Motörhead und T. S. Eliot treffen: Mark Andrews zeichnet in einer Mischung aus Biographie und Szeneporträt nach, wie die Sisters of Mercy von einer Lokalband zur Pop-Größe wurden.
Als der Punk in Großbritannien langsam zum Erliegen kam, begann eine Phase der Umorientierung, in der Musiker sich alle möglichen Freiheiten nahmen. Zwischen dem Ende der Siebziger- und Mitte der Achtzigerjahre gründeten sich etliche Bands, die weder mit standardisiertem Songwriting noch dreiakkordiger Rotzigkeit etwas zu tun haben wollten und stattdessen Interesse für Disco und Noise, Dub und Funk, Glam und Krautrock entwickelten. Prominente Vertreter sind etwa Public Image Ltd, Siouxsie and the Banshees, The Cure und Magazine.
Während der Großraum Manchester Gruppen wie The Smiths oder Joy Division hervorbrachte und damit viele andere Städte überstrahlte, kam eine kleine Auswahl bestechender Acts aus Leeds, man denke an Soft Cell, Gang of Four, vor allem aber The Sisters of Mercy. Die Formation um Andrew Eldritch demonstrierte immer wieder, was ein dysfunktionaler, nicht übermäßig begabter, dafür ästhetisch zielstrebiger Haufen an Musikenthusiasten leisten kann - und welche Missverständnisse daraus erwachsen.
Mark Andrews hat für das britische Popkulturmagazin "The Quietus" zahlreiche Artikel über die frühen, nach einem Song von Leonard Cohen benannten Sisters of Mercy verfasst, die nun, angereichert mit Zusatzmaterial, als Monographie vorliegen. Er hat alle wichtigen Weggefährten des Ensembles interviewt und seine Abhandlung mit Zitaten gespickt, von denen selbst die floskelhaftesten noch mindestens unterhaltsam sind. Sein Schwerpunkt liegt auf der Zeit zwischen der Bandgründung 1980 und der 1987 veröffentlichten, knapp zehn Minuten langen und von einem vierzigköpfigen Chor getragenen Bombast-Nummer "This Corrosion". Was danach passierte, wickelt der Autor in einem überschaubaren Epilog ab.
Das ist einerseits schade, weil sich erst im Anschluss an die Platten "First and Last and Always" (1985) und "Floodland" (1987) der dringend herbeigesehnte Erfolg einstellte - hohe Chartplatzierungen, teuer produzierte Videos, Auftritte bei "Top of the Pops" und Konzerte in der Londoner Wembley Arena. Andererseits passierten die wirklich interessanten Dinge, da liegt der Autor richtig, in der Frühphase der zunächst recht rumpeligen Lokalband. Von 1987 an waren die Sisters nur noch eine Art Ein-Mann-Projekt mit wechselnden Begleitmusikern. Den letzten neuen Song hat Eldritch 1993 auf der Compilation "A Slight Case of Overbombing" veröffentlicht. Von einer Auseinandersetzung mit der Plattenfirma EastWest Records scheint er sich nie wirklich erholt zu haben.
Die klassische Sisters-Besetzung sieht so aus: Andrew Eldritch (Gesang), Gary Marx (Gitarre), Craig Adams (Bass), Ben Gunn und von 1983 an Wayne Hussey (zweite Gitarre), Doktor Avalanche (Drumcomputer). Boyd Steemson, ein Vertrauter der Truppe, sagt über Eldritch, er hätte "eigentlich den Status eines David Byrne oder Nick Cave" erreichen müssen. Marx äußert sich ähnlich: "Ich möchte jetzt nicht den Begriff 'Renaissancemensch' bemühen, aber eigentlich sah es bei Andrew doch so aus, als ob er von Anfang an nach einer Rolle strebte, in der er seine verschiedenen Talente hätte einbringen können." Eldritch beherrscht ein halbes Dutzend Sprachen, besuchte eine Privatschule und war als lustloser Student in Oxford eingeschrieben. Seine Interessen dort bringt Steemson wie folgt auf den Punkt: "Bowie, Zigaretten, Bowie, Zigaretten, Iggy, Zigaretten, Bowie."
Als Eldritch 1978 nach Leeds kam, fiel er schnell als pedantischer Intellektueller auf. John Keenan, der in der Stadt den F Club - eine Reihe von Musikveranstaltungen an unterschiedlichen Orten - ins Leben rief, musste sich Marx zufolge einmal von Eldritch auseinandernehmen lassen, weil er das Wort "metaphysisch" falsch benutzte. Max Hole, in den Achtzigern bei Warner Music in Großbritannien angestellt, sagt: "Andrew war sowohl das große Plus als auch das große Minus der Sisters of Mercy." Es heißt auch, Hole habe noch Jahre nach der Liaison mit den Sisters ein Foto von Eldritch im Büro gehabt. Sprachen ihn Leute darauf an, lautete die Antwort: "Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste. Egal, was ich gerade erlebe - sobald ich das Foto ansehe, weiß ich wieder, dass nichts, gar nichts so schlimm sein kann wie das, was ich mit ihm erlebte."
Die Dreckskerl-These vertreten auch Gary Marx, der die Band einst mit Eldritch gründete, Craig Adams und Wayne Hussey. Dabei unterscheiden sie zwischen dem ehrgeizigen, umfassend interessierten und witzigen Andy Taylor, der 1959 in dem beschaulichen Örtchen Ely zur Welt kam, und seinem Alter Ego Andrew Eldritch, das zwanzig Jahre später im heruntergekommenen und von Gewalteruptionen heimgesuchten Leeds geboren wurde. Schon bald war jene für die Bühne geschaffene Kunstfigur nicht mehr von der tatsächlichen Person zu unterscheiden. Die Frage nach einer wie auch immer gearteten Authentizität hatte sich damit erledigt.
Was zählte, war die von exzessivem Speed-Konsum befeuerte Inszenierung eines in Leder gekleideten Typus, der auch nachts Sonnenbrillen trug und dessen Arroganz das Umfeld einschüchterte. Cool und egomanisch, schwebte er Andrews zufolge dauernd in der Gefahr, "Opfer des eigenen Mythos zu werden". Manche würden sagen, genau das sei Mitte der Achtziger längst passiert, als er vor lauter Selbstdarstellungspirouetten den Bezug zu den Kollegen verlor. Was jedoch blieb, waren sein Charisma und die Fähigkeit, mit reduzierter Instrumentierung und Disziplin herausragende Songs aufzunehmen.
Dabei spielten Eldritchs künstlerische Vorlieben eine entscheidende Rolle. Einmal bezeichnete er die Musik der Sisters als Mischung "zwischen Motörhead und den Pet Shop Boys". Er verehrte die Stooges, Gary Glitter, Suicide, Dolly Parton und Abba, fand in David Bowie ein Idol, wollte, so die gerne dementierte Legende, von Werner Herzog ein Album produzieren lassen (am Ende ist nichts daraus geworden) und zitierte oft aus den Gedichten T. S. Eliots. Seine Musik und Persona setzte der nachtaktive Kontrollfreak aus den Werken solcher Vorbilder zu einem, das wird oft übersehen, Camp-Produkt zusammen: überspitzt, ernst gemeint, nie lächerlich, aber oft genug ausgesprochen lustig.
Schon lange bevor Bands wie Nine Inch Nails auftauchten, zeigten die Sisters, dass zwei E-Gitarren und ein stampfender Beat aus dem Drumcomputer einen Sound erzeugen können, dessen Aggressivität jede Metal-Kapelle alt aussehen lässt. Im Grunde führten sie konsequent weiter, was Can und Kraftwerk begonnen hatten. Darin bloß eine Spielart des Grufti-Rock zu sehen ist ein Missverständnis, das sich nach wie vor hält.
Delay-Effekte, primitive Wiederholungsschleifen, ein hohl klingendes Schlagzeug, Gitarren, die an die Shadows erinnern, manchmal gar nach amerikanischer Surfmusik klingen, Bassfiguren, denen man den Einfluss von MC5 anhört, psychedelische Töne, Anleihen bei Roxy Music und Petula Clark - die Sisters führten zusammen, was bislang nicht zusammengehörte, und experimentierten sich durch die Achtziger. Bis heute werden Songs wie "Alice" oder "Temple of Love" in Clubs gespielt.
Mark Andrews zeigt mit seiner Darstellung, was Pop im Idealfall sein kann: das Unquantifizierbare, eine auf den Zufall, den passenden Ort, die richtigen Leute angewiesene Konstellation, deren holprige Entwicklung schon das Ziel darstellt. Vollkommen uninteressant ist dabei ein schlimmstenfalls glattgebügeltes Endprodukt, egal sind Verkaufszahlen und Hallengrößen. Die Sisters of Mercy waren zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens bei sich angekommen, die ganze Band - ihr Mitgliederkarussell, ihre Alben, ihre Ästhetik, ihr Auftreten - ist eine einzige Dauertransformation. Dazu passen die Gigs, bei denen sich die Sisters in Trockeneisnebel regelrecht auflösen - nicht nur gelegentlich wurden sie als eine der schlechtesten Live-Bands aller Zeiten bezeichnet. So oder so, jenseits ohnehin schwieriger Etiketten wie Gothic oder New Wave illustrierten sie früh, dass sie eine auf Pastiche setzende Pop-Kombo sind.
Das in der deutschen Fassung lausig lektorierte Buch ist ziemlich kleinteilig. Wer an einem Überblick interessiert ist, wird sich in den voraussetzungsreichen Einzelheiten schnell verlieren. Auf alle, die sich mit ein wenig Vorwissen an die Lektüre machen, wartet eine rasante Mischung aus Bandbiographie und Szeneporträt. Ob Querelen im Tonstudio oder Ausschweifungen auf Tour, der Leser erfährt jede Menge Details. Erahnen kann man hingegen nur, was aus Andrew Eldritch geworden wäre, wenn er sich nach dem dritten und bislang letzten Sisters-Album "Vision Thing" von 1990 dazu entschlossen hätte, weiter Platten aufzunehmen. Vielleicht hätte er heute tatsächlich den Status eines Nick Cave. KAI SPANKE
Mark Andrews: "Black Planet". Der Aufstieg der Sisters of Mercy.
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt. Hannibal Verlag, Innsbruck 2022. 360 S., Abb., br., 27,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Tobias Haberl kann sich nach der Lektüre dieser Band-Biografie über die "Sisters of Mercy" ein genaueres Bild von ihrem ikonischen Front-Sänger Andrew Eldritch alias Taylor machen. Der britische Journalist Mark Andrews hat den Aufstieg und Untergang der Gothic-Band detailliert nachgezeichnet und beleuchtet dabei vor allem die komplexe Persönlichkeit Eldritchs, eines so intelligenten wie obsessiven Musikers, der sich mit düsterem Look, rätselhaften Interview-Aussagen und einer Vorliebe für Trockeneisnebel selbst zur Kunstfigur hochstilisierte, so Haberl. Nostalgie-Gefühle stellen sich beim Rezensenten ein, wenn das vordigitale Zeitaler der Rockmusik, nämlich vor allem die Jahre 1980-1985, im Buch besonders besprochen wird und von "Kohlekraftwerken am Stadtrand" über den "Geruch von Schnüffelkleber" bis zu fürchterlichen Demo-Aufnahmen alles Typische der Zeit dabei ist. Dem Kritiker gefällt dabei, dass die Band von den gängigen Gothic-Klischees befreit wird: Während die Gruppe mit einer Mischung aus düsterem Glam-Rock, Punk und psychedelischen Elementen erfolgreich wurde, war sie privat weit vom Obskuren entfernt und ging lieber im Pub eine Runde Snooker spielen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2023Gespenstischer Instinkt
Mark Andrews minutiös recherchierte Biografie der „Sisters of Mercy“ und ihres grandios sardonischen Sängers Andrew Eldritch
Man kann die Sisters of Mercy auf der Bühne erlebt und trotzdem kaum gesehen haben. Seitdem sich ihr Sänger Andrew Eldritch in den frühen Achtzigern in die theatralischen Effekte von Trockeneisnebel vernarrt hatte, ließ er sich bei Konzerten allenfalls als Silhouette erahnen: ein Wesen mit breitkrempigem Westernhut, „dünn wie eine Kreditkarte“, das sich am Mikrofonständer festklammerte, nur gelegentlich huschte ein glimmendes Pünktchen durchs Nebeldickicht, Eldritchs obligatorische Zigarette.
Inzwischen sieht man dem 63 Jahre alten, kahlköpfigen Sänger kaum noch an, dass er mal ein verdammter Rockstar, ja ein Mythos war, dem bis heute gehuldigt wird. Er geht zwar immer noch auf Tour, hat aber seit 32 Jahren kein Album aufgenommen. Trotzdem gehört Eldritch zu den Ikonen der britischen Popkultur, auch weil er, selbst wenn er sich mal interviewen ließ, nie etwas von sich preisgab außer rätselhaft-sarkastischen Bemerkungen.
Licht ins Dunkel bringt nun ein Buch des britischen Journalisten Mark Andrews, das anhand zahlloser Interviews mit Wegbegleitern den Aufstieg (und die Selbstzerlegung) der nach einem Lied von Leonard Cohen benannten Band nachzeichnet. Es ist die Zeit zwischen 1978 und 1984, als der Punk in Großbritannien seine Wucht verlor und sich ein Haufen junger Bands auf die Suche nach dem neuen großen Ding machten: Joy Division, The Smiths, The Sisters of Mercy, letztere mit einem düster-psychedelischen Amalgam aus Gothic- und Glamrock-Elementen.
Im Zentrum der minutiös recherchierten Bandbiografie stehen die Jahre 1980 bis 1985, obwohl sich der lang ersehnte Durchbruch erst danach einstellte. Gerade deshalb ist so ziemlich alles dabei, was die vordigitale Ära der Rockmusik wehmütig ins Gedächtnis ruft: Kohlekraftwerke am Stadtrand, Scrabble-Partien auf Speed, der Geruch von Schnüffelkleber, in den Schritt gestopfte Socken, vollgekotzte Gitarristen, grausam klingende Demo-Tapes sowie ein dominant-besessener Bandleader mit einem gespenstischen Instinkt für Attitüde und Selbstinszenierung.
Praktisch alle, die auf den 360 Seiten zu Wort kommen, sind sich einig: Andrew Eldritch, der eigentlich Andrew Taylor heißt und dem gegen alle Wahrscheinlichkeit die Metamorphose vom Oxford-Studenten zur charismatischen Kunstfigur gelang, sei charmant, hochintelligent und diszipliniert, aber auch pedantisch, arrogant, egomanisch. Ein obsessiver David-Bowie-Fan, der sechs Sprachen spricht und seine Rockstarwerdung mit eisernem Willen und tonnenweise Speed vorantrieb. Max Hole, der in den achtziger Jahren für Warner Music arbeitete und später Universal-Chef wurde, sagt über das Band-Foto auf seinem Schreibtisch: „Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste.“
So warmherzig Andrew Taylor gewesen sein mag, so eisig konnte Eldritch Gesprächspartner auflaufen lassen. Einmal machte er einen Clubbetreiber zur Schnecke, weil der das Wort „metaphysisch“ falsch benutzt hatte, ein andermal antwortete er auf die Frage eines Bandkollegen nach Feuer: „Du bist selbst für deine Streichhölzer verantwortlich. Ich habe noch genau drei Stück, weil ich heute Abend noch drei Zigaretten rauchen werde.“ Irgendwann hatte sich Taylor mit seinem Alter Ego Eldritch verheddert, die Aufnahmen zur ersten Platte „First and Last and Always“ gerieten zur Tortur, an deren Ende erst Eldritch (mit 45 Kilo!) und dann die Band zusammenbrach. Und so ist dieses Buch beides, eine Triumph- und Verfallsgeschichte, aber auch die Huldigung eines Ausnahme- und Renaissancemenschen, der grandios sardonische Songzeilen in die Welt raunte: „Pain looks great on other people. That's what they're for“.
Es ist eine der Leistungen des Buchs, die Band von sämtlichen Gothic-Klischees zu befreien. Die Sisters of Mercy hatten nichts mit Esoterik oder schwarzer Magie zu tun. Lieber spielte man Snooker im Pub oder genehmigte sich noch eine Prise Speed, und als Eldritch es tatsächlich zum Star gebracht hatte, machte er es sich in keiner Burgruine, sondern einer Villa am Mittelmeer gemütlich. Nun tourt er seit 30 Jahren mit Gastmusikern, die seine Söhne sein könnten, gibt alte und gelegentlich neue Songs zum Besten, scheinbar ohne Verlangen, sie auch auf Tonträger zu veröffentlichen. Was er den ganzen Tag mache, schreibt Mark Andrews, wisse niemand so genau. Wahrscheinlich spiele er mit Katzen, sehe sich fremdsprachige Filme im Original an, höre Cricket-Reportagen im Radio und trinke ein bisschen. Vielleicht muss man sich Andrew Eldritch als glücklichen Menschen vorstellen. Oder sollte man Andrew Taylor sagen?
TOBIAS HABERL
Einmal machte er einen Clubchef
zur Schnecke, weil der das Wort
„metaphysisch“ falsch benutzte
Mark Andrews: Black Planet – Der Aufstieg der Sisters of Mercy. Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt. Hannibal
Verlag, Innsbruck 2022.
360 Seiten, 27 Euro.
Eiserner Wille: Eldritch 2022 beim Hildesheimer M’era-Luna-Festival.Foto: Imago
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mark Andrews minutiös recherchierte Biografie der „Sisters of Mercy“ und ihres grandios sardonischen Sängers Andrew Eldritch
Man kann die Sisters of Mercy auf der Bühne erlebt und trotzdem kaum gesehen haben. Seitdem sich ihr Sänger Andrew Eldritch in den frühen Achtzigern in die theatralischen Effekte von Trockeneisnebel vernarrt hatte, ließ er sich bei Konzerten allenfalls als Silhouette erahnen: ein Wesen mit breitkrempigem Westernhut, „dünn wie eine Kreditkarte“, das sich am Mikrofonständer festklammerte, nur gelegentlich huschte ein glimmendes Pünktchen durchs Nebeldickicht, Eldritchs obligatorische Zigarette.
Inzwischen sieht man dem 63 Jahre alten, kahlköpfigen Sänger kaum noch an, dass er mal ein verdammter Rockstar, ja ein Mythos war, dem bis heute gehuldigt wird. Er geht zwar immer noch auf Tour, hat aber seit 32 Jahren kein Album aufgenommen. Trotzdem gehört Eldritch zu den Ikonen der britischen Popkultur, auch weil er, selbst wenn er sich mal interviewen ließ, nie etwas von sich preisgab außer rätselhaft-sarkastischen Bemerkungen.
Licht ins Dunkel bringt nun ein Buch des britischen Journalisten Mark Andrews, das anhand zahlloser Interviews mit Wegbegleitern den Aufstieg (und die Selbstzerlegung) der nach einem Lied von Leonard Cohen benannten Band nachzeichnet. Es ist die Zeit zwischen 1978 und 1984, als der Punk in Großbritannien seine Wucht verlor und sich ein Haufen junger Bands auf die Suche nach dem neuen großen Ding machten: Joy Division, The Smiths, The Sisters of Mercy, letztere mit einem düster-psychedelischen Amalgam aus Gothic- und Glamrock-Elementen.
Im Zentrum der minutiös recherchierten Bandbiografie stehen die Jahre 1980 bis 1985, obwohl sich der lang ersehnte Durchbruch erst danach einstellte. Gerade deshalb ist so ziemlich alles dabei, was die vordigitale Ära der Rockmusik wehmütig ins Gedächtnis ruft: Kohlekraftwerke am Stadtrand, Scrabble-Partien auf Speed, der Geruch von Schnüffelkleber, in den Schritt gestopfte Socken, vollgekotzte Gitarristen, grausam klingende Demo-Tapes sowie ein dominant-besessener Bandleader mit einem gespenstischen Instinkt für Attitüde und Selbstinszenierung.
Praktisch alle, die auf den 360 Seiten zu Wort kommen, sind sich einig: Andrew Eldritch, der eigentlich Andrew Taylor heißt und dem gegen alle Wahrscheinlichkeit die Metamorphose vom Oxford-Studenten zur charismatischen Kunstfigur gelang, sei charmant, hochintelligent und diszipliniert, aber auch pedantisch, arrogant, egomanisch. Ein obsessiver David-Bowie-Fan, der sechs Sprachen spricht und seine Rockstarwerdung mit eisernem Willen und tonnenweise Speed vorantrieb. Max Hole, der in den achtziger Jahren für Warner Music arbeitete und später Universal-Chef wurde, sagt über das Band-Foto auf seinem Schreibtisch: „Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste.“
So warmherzig Andrew Taylor gewesen sein mag, so eisig konnte Eldritch Gesprächspartner auflaufen lassen. Einmal machte er einen Clubbetreiber zur Schnecke, weil der das Wort „metaphysisch“ falsch benutzt hatte, ein andermal antwortete er auf die Frage eines Bandkollegen nach Feuer: „Du bist selbst für deine Streichhölzer verantwortlich. Ich habe noch genau drei Stück, weil ich heute Abend noch drei Zigaretten rauchen werde.“ Irgendwann hatte sich Taylor mit seinem Alter Ego Eldritch verheddert, die Aufnahmen zur ersten Platte „First and Last and Always“ gerieten zur Tortur, an deren Ende erst Eldritch (mit 45 Kilo!) und dann die Band zusammenbrach. Und so ist dieses Buch beides, eine Triumph- und Verfallsgeschichte, aber auch die Huldigung eines Ausnahme- und Renaissancemenschen, der grandios sardonische Songzeilen in die Welt raunte: „Pain looks great on other people. That's what they're for“.
Es ist eine der Leistungen des Buchs, die Band von sämtlichen Gothic-Klischees zu befreien. Die Sisters of Mercy hatten nichts mit Esoterik oder schwarzer Magie zu tun. Lieber spielte man Snooker im Pub oder genehmigte sich noch eine Prise Speed, und als Eldritch es tatsächlich zum Star gebracht hatte, machte er es sich in keiner Burgruine, sondern einer Villa am Mittelmeer gemütlich. Nun tourt er seit 30 Jahren mit Gastmusikern, die seine Söhne sein könnten, gibt alte und gelegentlich neue Songs zum Besten, scheinbar ohne Verlangen, sie auch auf Tonträger zu veröffentlichen. Was er den ganzen Tag mache, schreibt Mark Andrews, wisse niemand so genau. Wahrscheinlich spiele er mit Katzen, sehe sich fremdsprachige Filme im Original an, höre Cricket-Reportagen im Radio und trinke ein bisschen. Vielleicht muss man sich Andrew Eldritch als glücklichen Menschen vorstellen. Oder sollte man Andrew Taylor sagen?
TOBIAS HABERL
Einmal machte er einen Clubchef
zur Schnecke, weil der das Wort
„metaphysisch“ falsch benutzte
Mark Andrews: Black Planet – Der Aufstieg der Sisters of Mercy. Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt. Hannibal
Verlag, Innsbruck 2022.
360 Seiten, 27 Euro.
Eiserner Wille: Eldritch 2022 beim Hildesheimer M’era-Luna-Festival.Foto: Imago
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