Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Schwänke zwischen St. Peter und St. Pauli: Vea Kaisers verkappter Heimatroman "Blasmusikpop"
Österreichische Volksmusik ist längst mehr nicht nur Hansi Hinterseer und Karl Moik. Alpenrocker wie die Zillertaler Schürzenjäger, DJ Ötzi oder Hubert von Goisern haben das Musikantenstadl-Ghetto verlassen und rocken mit ihrer Welt-Blas-Popmusik selbst Piefke-Partys und Ballermannstrände. Vea Kaisers zweiter Roman trägt diesem folkloristischen Innovationsschub Rechnung: Ihr "Blasmusikpop" groovt wie Rosegger im Hiphopper-Fummel und "Hundert Jahre Einsamkeit" im Trachtenjanker.
St. Peter im Anger, das abgelegene 500-Seelen-Dorf in den fiktiven Sporzer Alpen, ist für Johannes A. Irrwein der Inbegriff intellektueller Borniertheit. Wie sein Großvater interessiert sich der strebsame Bergbauernbub mehr für Bandwürmer und Bibliotheken als für Kirchweih und Adlitzbeerenschnaps. Von "Opa Doktor" zum Naturforscher erzogen, auf der Klosterschule in Lenk zum altsprachlichen Humanisten gereift, begreift sich das jüngste Mitglied des philhellenischen Digamma-Clubs als legitimer Nachfolger Herodots. Für Johannes sind die "Bergbarbaren" komische Vögel und lustige Dorfdeppen, denen er sich nur mit ethnologischer Distanz und altklugem Naserümpfen nähert. Tatsächlich herrschen hinter den Bergen noch Sitten wie im vorklassischen Griechenland: Die Gerontokratie von Großbauern, Pfarrer und Bürgermeister lenkt vom Wirtshaus Mandling aus die Geschicke des Dorfs; der Mütterverein schwingt das Nudelholz und hält Nordic Walking schon für Emanzipation. Fremde aus der Stadt sind so rar und rechtlos wie Perser in Sparta; Fernsehen ("Da wird ma jo deppert, imma so ins Kastl schaun"), Handy und Internet gelten als Teufelszeug, und die Stammesriten der Eingeborenen - Maibaumstibitzen, Kampftrinken beim Feuerwehrfest, Kranzerltanz, Fensterln - sind so befremdlich und unveränderlich wie eleusinische Mysterien. Johannes beobachtet die Vergnügungen des Pöbels weitgehend teilnahms- und verständnislos, und für diesen Hochmut des "Hochgeschissenen" muss er büßen. Von Eltern, Pfarrer und Lehrern zurechtgewiesen, von der Dorfjugend gemobbt, von den Madln geschnitten, darf der schüchtern aufgeweckte Bildungsheld allenfalls als Schriftführer beim Fußballverein mitspielen.
Vea Kaiser ist selbst eine höhere Tochter. Aufgewachsen in einem 1000-Seelen-Dorf im Wienerwald, auf dem Gymnasium in St. Pölten und später dann in Wien zur Altphilologin gereift, sind der "fanatischen Graezistin" Bergwandern und Skifahren bis heute zuwider. Homer und Herodot sagen ihr mehr als Jelinek oder Thomas Bernhard. Schreiben ist für Kaiser vor allem volkstümliche Unterhaltung. Schon im Kindergarten war sie eine "Gschichtldruckerin", und die Freude am naiven Erzählen verleugnet sie auch in "Blasmusikpop" nicht. Sechs Jahre lang trug sie Würmer- und Dorf-Geschichten zusammen, die sie bei ihren Großeltern, in Büchern und Naturhistorischen Museen aufgeschnappt hatte; am Ende dampfte sie die viertausend Seiten auf ein Achtel ein. In Österreich gilt "Blasmusikpop" als literarisches Ereignis der Saison.
Wie Johannes beim Mehlspeisenbüffett der Mütterrunde erhofft sich auch Kaiser offenbar vom "schmackhaft-alpinen Originalklang" der Gerichte einen verkaufsfördernden Effekt. Austriazismen wie "pfitischigoggerln" und "Gatschhupfer" und der von einem Professor redigierte Kunstdialekt sind für deutsche Leser durchaus reizvoll, aber 500 Seiten voller Schwänke und Schnurren, nur unterbrochen von herodotischen Chroniken über den ewigen Krieg zwischen Zivilisierten und Wilden, wirken doch etwas ermüdend. Kaiser erzählt gutgelaunt und episch breit vom Kreislauf der Jahreszeiten, des Vereinslebens und der Generationen, von Kaninchen Schlappi und Kater Petzi, von Pater Tobias, dem schönen Mönch und seinem Jaguar; und dem Zusammenbruch des Brokathimmels bei der Fronleichnamsprozession. Eine Karte von St. Peter mit den wichtigsten Schauplätzen von der Greißlerei bis zum Café Moni, Stammbäume und ein Register aller dramatis personae vom Stürmerstar Peppi Gippel bis zum Hebammensohn Schuarl Trogkofel sorgen für Überblick. Es gibt in St. Peter durchaus Neid und Niedertracht, schmutzige Fouls, eklige Würmer und Sex im Heu, aber Schlangen sucht man im Paradies vergebens, und im Apfel der Erkenntnis steckt jedenfalls kein Bandwurm. Auf der Alm gibt's keine Sünd'.
Dennoch macht die Aufklärung auch vor Sankt Peter nicht Halt. Johannes fühlt sich auserkoren, "in die Fußstapfen Herodots zu treten, indem er den Krieg, den die Bergbarbaren von St. Peter gegen die Zivilisierten führten, erforschte - und beendete." Bei einem Freundschaftsspiel des FC St. Pauli kommt es zur Versöhnung zwischen Sankt Peter und St. Pauli, Homer und Facebook, urbaner Kultur und Naturvolk. Selbst die verstocktesten Dörfler finden plötzlich Gefallen an den Punks, Schwulen und Altlinken aus dem Flachland: Kater Petzi hisst eine Totenkopfflagge, am Kirchturm hängt ein BH, der Joint kreist, die Blasmusik spielt die Gästehymne "Hells Bells" mit Kuhglocken, und der Bürgermeister eröffnet eine dionysische Dorfdisco. So lassen die Barbaren sich kreuzfidel in die Zivilisation und Johannes endlich ins Dorf eingemeinden; in Simona, der schnippischen Rothaarigen aus der Stadt, bekommt er sogar ein passendes Madl fürs Happy End.
Der "Blasmusikpop" ist Bildungs-, Familien-, Coming-of-Age-Roman und romantische Komödie, aber eher keine Popliteratur. Kaisers "Anti-Anti-Heimatroman" ist vielmehr alte Heimatliteratur in neuen Schläuchen: Bildungs- und traditionsbewusst wie Herodots Histörchen, schmissig und fesch wie "Anton aus Tirol". In den Eingeweiden rumoren die Würmer, aber die Bergbarbarei bleibt allzeit kommod.
MARTIN HALTER
Vea Kaiser: "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 492 S., geb. 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH