Von der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk - ein Roman über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen. Eine Frau leidet, nach unglücklichen Beziehungen aus der Bahn geworfen, unter Panikattacken und verlässt monatelang die Wohnung nicht. Sie findet Orientierung und Halt in einer historischen Figur, die für die Geschichte der Ukraine eine große Rolle spielte: Wjatscheslaw Lypynskyj. Der leidenschaftliche Geschichtsphilosoph und Politiker entstammte einer polnischen Adelsfamilie, die in der Westukraine lebte. Schon früh identifizierte er sich mit der Ukraine und bestand auf der ukrainischen Form seines Namens. Nach dem Studium befasste er sich politisch und historisch mit dem zwischen Polen und Russland zerrissenen Land und forderte wie besessen seine staatliche Unabhängigkeit. Ein Kampf, der ihn durch verschiedene Länder führte und persönliche Opfer kostete. Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und - wie er - auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen. Ein literarisch beeindruckender Roman, der zeigt, was es heißt, wenn die eigene Identität aus Angst, Gehorsamkeit und Vergessen besteht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2019Darf ich dir meine Sammlung ukrainischer Barockpoesie zeigen?
Quellenstudium und Imagination: Tanja Maljartschuk therapiert durch Geschichtsarchäologie
Wie hängen ein verkorkstes Liebesleben und schwere Panikattacken mit der Geschichte des Heimatlandes zusammen, wenn dessen Bemühungen, ein eigenständiger Staat zu werden, immer wieder kläglich scheiterten? Sehr konkret, durch das Prinzip kommunizierender Röhren, legt der Roman der Exil-Ukrainerin Tanja Maljartschuk "Blauwal der Erinnerung" nahe, der vom ukrainischen Programm des Senders BBC vor drei Jahren zum "Buch des Jahres" gekürt wurde und jetzt bei Kiepenheuer & Witsch in einer schönen Übersetzung von Maria Weissenböck herauskam.
Die in Wien lebende Maljartschuk, die eigene psychophysische Leiden wiederholt als Echo einer kollektiven Stigmatisierung geschildert hat, wählt sich darin als Spiegel und Alter Ego den polnisch-ukrainischen Historiker und politischen Publizisten Wjatscheslaw Lypynskyj (1882 bis 1931), der im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts für eine unabhängige Ukraine jenseits von Kommunismus und Nationalismus focht, damit aber selbst unter Unabhängigkeitskämpfern nur eine Minderheit erreichte. Identifikatorisch erzählend entreißt die Autorin Lypynskyjs Leben der Vergessenheit - wie der Originaltitel des Buches "Sabuttja" übersetzt heißt - und inszeniert so den Menschenleben wie Plankton zermalmenden "Blauwal" der fortschreitenden Zeit wie auch kontrapunktisch die konservierende Kraft des kulturellen Gedächtnisses.
Freilich verklammert der gemeinsame Geburtstag im April, durch ein Jahrhundert getrennt, das Leben der Ich-Erzählerin auch symbolisch kalendarisch mit ihrem Helden. Als Lypynskyj im österreichischen Exil mit 49 Jahren an Tuberkulose starb, wütete in der Ukraine die durch Stalins Zwangskollektivierung der Agrarbetriebe künstlich erzeugte Hungersnot Holodomor, die den Urgroßvater der Autorin umbrachte. Als Spross eines polnischen Adelsgeschlechts, der bis zum letzten Atemzug seiner verlorenen Sache treu blieb, verkörperte Lypynskyj jene Würde, die die Sowjetmacht Maljartschuks Landsleuten systematisch austrieb. Geboren in Wolhynien zu einer Zeit, da es Teil des Russischen Reichs war, und polnisch katholisch erzogen, studierte er ukrainische Geschichte in der alten Haupt- und Universitätsstadt Krakau, während diese der Habsburger-Doppelmonarchie unterstand und wo man über seinen ukrainischen Wahlpatriotismus nur den Kopf schüttelte.
Die Autorin hat sich tief in ihr Quellenmaterial, historische Literatur, Memoiren, Briefe, Zeitschriften, Fotografien eingearbeitet und haucht der verschütteten Epoche mit poetischer Imagination und filmischen Ausschmückungen literarisches Leben ein. Wie Lypynskyjs Noblesse und intellektuelle Leidenschaft ihm das Herz einer Studentin und Opponentin erobern, die dann als Ehefrau an der Mission ihres Gatten verzweifelt und sich scheiden lässt, bereitet sie in melodramatischen Szenen auf mit viel Sinn für das Wechselspiel von Liebessehnsucht und Grimm. Sie porträtiert die oft mittellosen, verfolgten Vordenker der ukrainischen Emanzipation mit ihrer nicht selten zerrütteten geistigen oder physischen Gesundheit. Etwa den schwärmerisch liebenswürdigen Dichter und Publizisten Wassyl Domanyzkyj, den ebenfalls die Schwindsucht früh dahinraffte, den Sozialisten Dmytro Donzow, der sich zum radikalen Nationalisten umdefinierte, oder den jovialen Kiewer Zeitschriftenfürsten Jewhen Tschykalenko, der als verarmter Emigrant starb.
Aus den historischen Rekonstruktionen springt die Erzählerin immer wieder vor zur eigenen Lebensgeschichte mit ihren amourösen wie existentiellen Verlust- und Vergeblichkeitserfahrungen. Die Affäre der Studentin mit einem verheirateten Literaturprofessor eröffnet ihr die Schönheiten der ukrainischen Barockpoesie, endet aber für beide im Katzenjammer. Nach einer gescheiterten Annäherung heiratet sie einen Mann, der ihre immer häufigeren Angstzustände geduldig mitträgt und sie bittet, sich behandeln zu lassen, bis auch er sich irgendwann abwendet. Wie die Ich-Figur seitenlang mit ihren, wie sie findet, ungenügenden intellektuellen Kapazitäten und ihrer vermeintlich pathologisch vergrößerten Seele hadert, wie sie ihre Buchpublikationen als überflüssig abtut und die Agoraphobieanfälle ausführlich ausmalt, ist eine mühselige Lektüre. Durch die Beschäftigung mit Lypynskyj, der viel mehr riskierte und verlor und für den es, wie sie betont, keine ärztliche Hilfe gab, kann sie sich schließlich selbst kurieren.
Denn die irrationalen Ängste und der Putzzwang werden, das veranschaulichen Maljartschuks Erinnerungen an ihre ebenfalls putzwütige Großmutter, durch das schwarze Loch einer geschichtslosen Vergangenheit heraufbeschworen. Die konsequente Zerstörung realhistorischer Spuren betrieb insbesondere die nach dem Ersten Welt- und Bürgerkrieg siegreiche Sowjetmacht, wofür viel später, kurz vor ihrem Zusammenbruch, die hochtechnologischen Störsender, die die Erzählerin als Kind für Empfangsantennen hielt, symptomatisch erscheinen: Sollten diese doch verhindern, dass der abgerissene Geschichtsfilm mit Hilfe von Signalen aus dem Ausland wieder lesbar würde. Und als sie Lypynskyjs Geburtsort und letzte Ruhestätte im galizischen Saturzi aufsucht, muss sie erfahren, wie man den Friedhof mit seinem Grab und der polnischen Kirche dem Erdboden gleichmachte, als dieser Teil der Ukraine sowjetisch wurde.
Literarisch am stärksten, weil authentisch und erfahrungssatt, sind im Buch die Porträts der Großeltern geraten, die von ihrer Epoche schwer gezeichnet wurden. Die ständig den Boden wischende Oma, die den Holodomor nur überstand, weil ihr todgeweihter Vater sie vor einem Waisenhaus aussetzte, erzählt in immer wieder neuen Varianten, wie sie tagelang auf einem Grabstein hockte und um ihr Leben schrie, womit sie die Enkelin mit ihrem Trauma infiziert. Der Opa überlebte durch Konformismus, eine aufgesetzte Frohnatur und indem er sich bei Gefahr dumm stellte.
Indem Maljartschuk Wjatscheslaw Lypynskyj zu einem Doku-Romanhelden macht und aus seiner Tochter, zu der er keinen Kontakt hatte, eine Figur macht, die ihm am Ende seines Lebens Fragen stellt, kräftigt sie nicht nur die Wurzeln des jungen ukrainischen Geschichtsbewusstseins, das geprägt ist von der Erinnerung an Rückschläge und vergeblichen Widerstand. Das Regime des Kosakenhetmans Pawlo Skoropadski, dem Lypynskyj 1918 als seinem Monarchen diente, hielt sich wenige Monate, die bürgerliche Nachfolgeregierung wurde im Bürgerkrieg zerrieben, den die straff organisierten, brutalen Bolschewiken gewannen. Zugleich nimmt sich das solidarische Verantwortungsgefühl Lypynskyjs für das von seinen Landsleuten kolonisierte Land aus heutiger Sicht fast ein wenig wie ein Vorbote der europäischen Idee aus. Und sein Eintreten für ein territoriales Prinzip der neuen Ukraine, die Einwohnern von unterschiedlicher Herkunft, Konfession und Sprache Heimat sein sollte, könnte die zerrissene ukrainische Gesellschaft der Gegenwart durchaus etwas lehren.
KERSTIN HOLM
Tanja Maljartschuk: "Blauwal der Erinnerung". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Quellenstudium und Imagination: Tanja Maljartschuk therapiert durch Geschichtsarchäologie
Wie hängen ein verkorkstes Liebesleben und schwere Panikattacken mit der Geschichte des Heimatlandes zusammen, wenn dessen Bemühungen, ein eigenständiger Staat zu werden, immer wieder kläglich scheiterten? Sehr konkret, durch das Prinzip kommunizierender Röhren, legt der Roman der Exil-Ukrainerin Tanja Maljartschuk "Blauwal der Erinnerung" nahe, der vom ukrainischen Programm des Senders BBC vor drei Jahren zum "Buch des Jahres" gekürt wurde und jetzt bei Kiepenheuer & Witsch in einer schönen Übersetzung von Maria Weissenböck herauskam.
Die in Wien lebende Maljartschuk, die eigene psychophysische Leiden wiederholt als Echo einer kollektiven Stigmatisierung geschildert hat, wählt sich darin als Spiegel und Alter Ego den polnisch-ukrainischen Historiker und politischen Publizisten Wjatscheslaw Lypynskyj (1882 bis 1931), der im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts für eine unabhängige Ukraine jenseits von Kommunismus und Nationalismus focht, damit aber selbst unter Unabhängigkeitskämpfern nur eine Minderheit erreichte. Identifikatorisch erzählend entreißt die Autorin Lypynskyjs Leben der Vergessenheit - wie der Originaltitel des Buches "Sabuttja" übersetzt heißt - und inszeniert so den Menschenleben wie Plankton zermalmenden "Blauwal" der fortschreitenden Zeit wie auch kontrapunktisch die konservierende Kraft des kulturellen Gedächtnisses.
Freilich verklammert der gemeinsame Geburtstag im April, durch ein Jahrhundert getrennt, das Leben der Ich-Erzählerin auch symbolisch kalendarisch mit ihrem Helden. Als Lypynskyj im österreichischen Exil mit 49 Jahren an Tuberkulose starb, wütete in der Ukraine die durch Stalins Zwangskollektivierung der Agrarbetriebe künstlich erzeugte Hungersnot Holodomor, die den Urgroßvater der Autorin umbrachte. Als Spross eines polnischen Adelsgeschlechts, der bis zum letzten Atemzug seiner verlorenen Sache treu blieb, verkörperte Lypynskyj jene Würde, die die Sowjetmacht Maljartschuks Landsleuten systematisch austrieb. Geboren in Wolhynien zu einer Zeit, da es Teil des Russischen Reichs war, und polnisch katholisch erzogen, studierte er ukrainische Geschichte in der alten Haupt- und Universitätsstadt Krakau, während diese der Habsburger-Doppelmonarchie unterstand und wo man über seinen ukrainischen Wahlpatriotismus nur den Kopf schüttelte.
Die Autorin hat sich tief in ihr Quellenmaterial, historische Literatur, Memoiren, Briefe, Zeitschriften, Fotografien eingearbeitet und haucht der verschütteten Epoche mit poetischer Imagination und filmischen Ausschmückungen literarisches Leben ein. Wie Lypynskyjs Noblesse und intellektuelle Leidenschaft ihm das Herz einer Studentin und Opponentin erobern, die dann als Ehefrau an der Mission ihres Gatten verzweifelt und sich scheiden lässt, bereitet sie in melodramatischen Szenen auf mit viel Sinn für das Wechselspiel von Liebessehnsucht und Grimm. Sie porträtiert die oft mittellosen, verfolgten Vordenker der ukrainischen Emanzipation mit ihrer nicht selten zerrütteten geistigen oder physischen Gesundheit. Etwa den schwärmerisch liebenswürdigen Dichter und Publizisten Wassyl Domanyzkyj, den ebenfalls die Schwindsucht früh dahinraffte, den Sozialisten Dmytro Donzow, der sich zum radikalen Nationalisten umdefinierte, oder den jovialen Kiewer Zeitschriftenfürsten Jewhen Tschykalenko, der als verarmter Emigrant starb.
Aus den historischen Rekonstruktionen springt die Erzählerin immer wieder vor zur eigenen Lebensgeschichte mit ihren amourösen wie existentiellen Verlust- und Vergeblichkeitserfahrungen. Die Affäre der Studentin mit einem verheirateten Literaturprofessor eröffnet ihr die Schönheiten der ukrainischen Barockpoesie, endet aber für beide im Katzenjammer. Nach einer gescheiterten Annäherung heiratet sie einen Mann, der ihre immer häufigeren Angstzustände geduldig mitträgt und sie bittet, sich behandeln zu lassen, bis auch er sich irgendwann abwendet. Wie die Ich-Figur seitenlang mit ihren, wie sie findet, ungenügenden intellektuellen Kapazitäten und ihrer vermeintlich pathologisch vergrößerten Seele hadert, wie sie ihre Buchpublikationen als überflüssig abtut und die Agoraphobieanfälle ausführlich ausmalt, ist eine mühselige Lektüre. Durch die Beschäftigung mit Lypynskyj, der viel mehr riskierte und verlor und für den es, wie sie betont, keine ärztliche Hilfe gab, kann sie sich schließlich selbst kurieren.
Denn die irrationalen Ängste und der Putzzwang werden, das veranschaulichen Maljartschuks Erinnerungen an ihre ebenfalls putzwütige Großmutter, durch das schwarze Loch einer geschichtslosen Vergangenheit heraufbeschworen. Die konsequente Zerstörung realhistorischer Spuren betrieb insbesondere die nach dem Ersten Welt- und Bürgerkrieg siegreiche Sowjetmacht, wofür viel später, kurz vor ihrem Zusammenbruch, die hochtechnologischen Störsender, die die Erzählerin als Kind für Empfangsantennen hielt, symptomatisch erscheinen: Sollten diese doch verhindern, dass der abgerissene Geschichtsfilm mit Hilfe von Signalen aus dem Ausland wieder lesbar würde. Und als sie Lypynskyjs Geburtsort und letzte Ruhestätte im galizischen Saturzi aufsucht, muss sie erfahren, wie man den Friedhof mit seinem Grab und der polnischen Kirche dem Erdboden gleichmachte, als dieser Teil der Ukraine sowjetisch wurde.
Literarisch am stärksten, weil authentisch und erfahrungssatt, sind im Buch die Porträts der Großeltern geraten, die von ihrer Epoche schwer gezeichnet wurden. Die ständig den Boden wischende Oma, die den Holodomor nur überstand, weil ihr todgeweihter Vater sie vor einem Waisenhaus aussetzte, erzählt in immer wieder neuen Varianten, wie sie tagelang auf einem Grabstein hockte und um ihr Leben schrie, womit sie die Enkelin mit ihrem Trauma infiziert. Der Opa überlebte durch Konformismus, eine aufgesetzte Frohnatur und indem er sich bei Gefahr dumm stellte.
Indem Maljartschuk Wjatscheslaw Lypynskyj zu einem Doku-Romanhelden macht und aus seiner Tochter, zu der er keinen Kontakt hatte, eine Figur macht, die ihm am Ende seines Lebens Fragen stellt, kräftigt sie nicht nur die Wurzeln des jungen ukrainischen Geschichtsbewusstseins, das geprägt ist von der Erinnerung an Rückschläge und vergeblichen Widerstand. Das Regime des Kosakenhetmans Pawlo Skoropadski, dem Lypynskyj 1918 als seinem Monarchen diente, hielt sich wenige Monate, die bürgerliche Nachfolgeregierung wurde im Bürgerkrieg zerrieben, den die straff organisierten, brutalen Bolschewiken gewannen. Zugleich nimmt sich das solidarische Verantwortungsgefühl Lypynskyjs für das von seinen Landsleuten kolonisierte Land aus heutiger Sicht fast ein wenig wie ein Vorbote der europäischen Idee aus. Und sein Eintreten für ein territoriales Prinzip der neuen Ukraine, die Einwohnern von unterschiedlicher Herkunft, Konfession und Sprache Heimat sein sollte, könnte die zerrissene ukrainische Gesellschaft der Gegenwart durchaus etwas lehren.
KERSTIN HOLM
Tanja Maljartschuk: "Blauwal der Erinnerung". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2019Nur die Einzelheiten zählen
„Blauwal der Erinnerung“: Tanja Maljartschuk versucht sich am Leben des ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj
Die Erinnerung ist ein Allesfresser. Nebensächliche Details verwahrt sie genauso wie einschneidende Erlebnisse, große Gedanken genauso wie die unterschiedlichsten Arten von Gefühlen. Kein Wunder, dass die Dichterin Emily Dickinson die Erinnerung einmal eine „seltsame Glocke“ genannt hat, von der beides ausgehen kann, Jubelklang und Totengeläut. Der Titel des Romans der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk legt nahe, man könne die Erinnerung sogar als Blauwal bezeichnen. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, es ist gar nicht die Erinnerung, sondern die Zeit, die hier in Form eines Wales auftaucht. Dieser Zeit-Wal verschluckt alles, die Erzählerin und andere Menschen mit ihren Ängsten, Gedanken und eben Erinnerungen, Milliarden „winziger, kaum sichtbarer Welten“, die sich vermischen.
Deshalb ist das Erinnern nicht nur ein „Luxus“ für die Erzählerin, sondern auch eine Aufgabe, eine lebensnotwendige, wie sich herausstellt. Diese Erzählerin ist eine junge Schriftstellerin, die geradewegs in eine existenzielle Krise hineinschlittert. Sie selber nennt sich „Manipulatorin von Worten und Ideen“. Doch schon seit Längerem haben die Wörter keine Bedeutung mehr für sie, ein alles verschlingendes Gefühl von Sinnverlust hat sich breitgemacht, begleitet von Herzrasen, Atemnot, Übelkeit. Um sich vor den Panikattacken zu retten, um der „Spurlosigkeit des Verschwindens“ etwas entgegenzuhalten, setzt sie sich der Erinnerung aus und beginnt die Suche nach einer „neuen Wahrheit“. Anfangs ähnelt die Erinnerung einem Sog: „Ich konzentriere mich und falle in ein Delirium. Es ist wie der Sturz in einen bodenlosen, senkrechten Schacht, wo nichts ist, an dem ich mich festhalten kann.“
Man mag bei diesem Satz an Hegel denken, der die Erinnerung einen „nächtlichen Schacht“ genannt hat. Erinnerung bedeutet demnach nicht nur, sich ein früheres Erlebnis zu vergegenwärtigen, Erinnerung gleicht einem Insichgehen, das Vorstellungen bewusst macht, verändert, bisweilen überhaupt erst formt. Und auch die Erzählerin begreift das Erinnern als aktives Geschehen. Wobei es in ihrem Fall weniger die Erinnerung an eigene Lebensmomente ist als die Erinnerung an eine historische Figur. Die Erzählerin entdeckt sie beim Blättern in alten Zeitungen. Dieser Wjatscheslaw Lypynskyj starb 1931, in der ukrainischen Presse wurde groß berichtet, rührende Nachrufe von seinen Feinden, die ihn wahlweise als Einsiedler oder verrückten Tuberkulosekranken beschrieben.
Tatsächlich war Lypynskyj – Politiker, Philosoph und Historiker gleichermaßen – zu seiner Zeit einer der glühendsten Apologeten eines eigenständigen ukrainischen Staates. Obwohl er selbst Pole war, ein Adliger zumal, setzte er sich mit aller Kraft für das Ukrainische ein, eine Sprache, die in seiner Jugend noch verboten war und von ihren Gegnern verächtlich als „dörflicher Dialekt“ bezeichnet wurde. Die polnische Variante seines Namens, Wacław, lehnte er stets ab, ließ sich ukrainisch Wjatscheslaw nennen. Eingeklemmt zwischen Russland und Kakanien rieb er sich in seiner missionarischen Tätigkeit auf, ein „mit dem Virus der verdienstvollen Arbeit für die Ukraine infizierter Schwindsüchtiger“, wie es einmal heißt. Eine unglückliche Ehe und fehlende Unterstützung durch die Familie taten das Ihrige. Der Siegeszug der Bolschewiki und die eigene Erkrankung ließen ihn schließlich aufgeben.
Wie erzählt man von einer solchen Figur? Wie macht man sie in der Sprache lebendig? Tanja Maljartschuk versucht eine Parallele zwischen ihrer Erzählerin und Lypynskyj zu konstruieren. „Meine Geschichte mithilfe seiner Geschichte“ – so will sie „den Geschmack der Zeit wahrnehmen“ und Ähnlichkeiten in Geschichten, Erlebnisweisen und Ängsten ausfindig machen.
Eigentlich ist es eine schöne Idee, die Entwicklung eines eigenen ukrainischen Staates mitsamt den Bruchstellen und Verwerfungen, die mit der Vorstellung einer Nation verbunden sind, mit der Wiedergewinnung eines seinerseits hochlabilen Ichs zu verknüpfen und das eine im anderen zu spiegeln. Aber leider gelingt es Tanja Maljartschuk nicht, einen genaueren Zusammenhang zwischen Lypynskyj und ihrer Erzählerin herzustellen. Die Verbindung bleibt beliebig. In einem Interview hat sie vor Kurzem erklärt, die Angst ihrer Erzählerin könne nicht nur eine private sein, sondern sich auch der Tragödie in der Geschichte ihrer Familie und ihres „Volkes“ verdanken: Enteignungen, Unterdrückung, der von Stalin Anfang der 30er-Jahre organisierten großen Hungersnot oder der Geschichte der aufständischen Armeen in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Doch diese Theorie kollektiver Traumata wird im Roman nicht einmal annähernd herausgearbeitet.
„Ich liebte es, ins Detail zu gehen“, sagt die Erzählerin an einer Stelle. Das erinnert entfernt an Nabokovs Diktum „Nur die Einzelheiten zählen“, das er in „Erinnerung, sprich“ formuliert hat. Und tatsächlich hat der Roman seine Stärken, wo Maljartschuk auf die unberechenbare Eigenkraft der Erinnerung setzt und die „atemberaubenden Einzelheiten“, die sie immer wieder beschwört, zu intensiven Szenen und Atmosphären verbindet. Etwa wenn sie unterschiedliche Arten von Wind beschreibt, die Lypynskyj am Geruch erkennen kann. Wenn sie jenes Bergsanatorium in Zakopane, in dem er von seiner Krankheit genesen soll, als eine Art Mini-Zauberberg skizziert. Oder wenn sie über den Großvater der Erzählerin schreibt. Als der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Musterung den Idioten mimt, wird er nach Tscheljabinsk in die Rüstungsindustrie geschickt. Dort muss er Glocken, die aus der ganzen Sowjetunion herangekarrt werden, zu Waffen einschmelzen.
Nur begnügt sich Maljartschuk nicht mit der Liebe zu den Details. „Es fiel mir schwer, zu verallgemeinern“, lässt sie die Erzählerin sagen. Doch das stimmt leider nicht. Das Verallgemeinern ist vielmehr das eigentliche Problem dieses Buches. Ein ums andere Mal, oft mitten in einer wahrnehmungsintensiven Szene, zieht Maljartschuk den erzählerischen Fokus auf und greift voraus. Da erlebt man als Leser den Versuch eines ersten Kusses zwischen Lypynskyj und seiner zukünftigen Frau – und das endet in den Sätzen: „In seinem ganzen Leben hatte Lypynskyj keinen schwerwiegenderen Fehler gemacht. Alle weiteren Fehler waren eine Folge dieses einen.“ Wie aus dem Nichts ploppen Abstraktionen oder stark raffende Passagen in privaten Erzählungen und zeitgeschichtlichen Ereignissen auf. Das ist nicht nur spannungstötend, sondern untergräbt auch den Anspruch des Romans auf historische Genauigkeit.
Noch störender sind die metaphorischen Schrägflächen, die das Buch durchziehen. Da gibt es parfümierte Formulierungen wie „vom heißen Schweiß nasse Bögen Papier“ oder „in der Luft lag ein Geruch von Geheimem, Süßem, Anziehendem“. Die Erzählerin glaubt, sie „wurde mit einem großen Ballon im Inneren gebo-ren, der mit Freiheit gefüllt war“, dann wieder bekennt sie mit Lypynskyj: „Wie durch ein endloses Gefängnis gehe ich durch mein Selbst“. Dazu der Versuch, zeitgeschichtliche Atmosphären mit Wie-Vergleichen zu fassen: Die Freiheitseuphorie im Februar 1917 verbreitet sich hier „wie ein gefährlicher, berauschender Bazillus“, und die Emigranten im Wien der Nachkriegszeit sammeln sich „wie Abwasser in der Donau“. Und die Zeit selbst? „Vielleicht ein hängender Fels, und das menschliche Leben ist ein verkümmerter Baum, der darauf Wurzeln schlagen will? Ein flackerndes Feuer, das die endlose Dunkelheit durchdringt? Ein einsamer Aufschrei in der trägen Stille?“
Das ist schade, nicht nur weil die Übersetzerin Maria Weissenböck den Roman in ein gut lesbares Deutsch verwandelt hat, das Ironie und Emphase klug vereint. Sondern auch, weil Tanja Maljartschuk dort, wo sie sich auf Fotos und Dokumente beruft, immer wieder ihrem Anspruch gerecht wird, Geschichte „dreidimensional“ werden zu lassen. An diesen Stellen ahnt man, welche Kraft der historische Roman haben könnte, dem Film und den „History Channels“ des Fernsehens, aber auch der Geschichtswissenschaft ein anderes Bild von Geschichte entgegenzusetzen.
NICO BLEUTGE
Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro.
„Es ist wie der Sturz in
einen bodenlosen,
senkrechten Schacht“
Die Angst könnte sich auch der
Tragödie ihrer Familie und ihres
„Volkes“ verdanken
Wo sie sich auf Fotos und
Dokumente beruft, wird
Geschichte dreidimensional
Gewann 2018 den Bachmann-Preis: Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk.
Foto: Gerhard Leber/imago
Spiegelfigur: Der ukrainische Publizist und Politiker Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931).
Foto: Wikimedia Commons
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„Blauwal der Erinnerung“: Tanja Maljartschuk versucht sich am Leben des ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj
Die Erinnerung ist ein Allesfresser. Nebensächliche Details verwahrt sie genauso wie einschneidende Erlebnisse, große Gedanken genauso wie die unterschiedlichsten Arten von Gefühlen. Kein Wunder, dass die Dichterin Emily Dickinson die Erinnerung einmal eine „seltsame Glocke“ genannt hat, von der beides ausgehen kann, Jubelklang und Totengeläut. Der Titel des Romans der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk legt nahe, man könne die Erinnerung sogar als Blauwal bezeichnen. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, es ist gar nicht die Erinnerung, sondern die Zeit, die hier in Form eines Wales auftaucht. Dieser Zeit-Wal verschluckt alles, die Erzählerin und andere Menschen mit ihren Ängsten, Gedanken und eben Erinnerungen, Milliarden „winziger, kaum sichtbarer Welten“, die sich vermischen.
Deshalb ist das Erinnern nicht nur ein „Luxus“ für die Erzählerin, sondern auch eine Aufgabe, eine lebensnotwendige, wie sich herausstellt. Diese Erzählerin ist eine junge Schriftstellerin, die geradewegs in eine existenzielle Krise hineinschlittert. Sie selber nennt sich „Manipulatorin von Worten und Ideen“. Doch schon seit Längerem haben die Wörter keine Bedeutung mehr für sie, ein alles verschlingendes Gefühl von Sinnverlust hat sich breitgemacht, begleitet von Herzrasen, Atemnot, Übelkeit. Um sich vor den Panikattacken zu retten, um der „Spurlosigkeit des Verschwindens“ etwas entgegenzuhalten, setzt sie sich der Erinnerung aus und beginnt die Suche nach einer „neuen Wahrheit“. Anfangs ähnelt die Erinnerung einem Sog: „Ich konzentriere mich und falle in ein Delirium. Es ist wie der Sturz in einen bodenlosen, senkrechten Schacht, wo nichts ist, an dem ich mich festhalten kann.“
Man mag bei diesem Satz an Hegel denken, der die Erinnerung einen „nächtlichen Schacht“ genannt hat. Erinnerung bedeutet demnach nicht nur, sich ein früheres Erlebnis zu vergegenwärtigen, Erinnerung gleicht einem Insichgehen, das Vorstellungen bewusst macht, verändert, bisweilen überhaupt erst formt. Und auch die Erzählerin begreift das Erinnern als aktives Geschehen. Wobei es in ihrem Fall weniger die Erinnerung an eigene Lebensmomente ist als die Erinnerung an eine historische Figur. Die Erzählerin entdeckt sie beim Blättern in alten Zeitungen. Dieser Wjatscheslaw Lypynskyj starb 1931, in der ukrainischen Presse wurde groß berichtet, rührende Nachrufe von seinen Feinden, die ihn wahlweise als Einsiedler oder verrückten Tuberkulosekranken beschrieben.
Tatsächlich war Lypynskyj – Politiker, Philosoph und Historiker gleichermaßen – zu seiner Zeit einer der glühendsten Apologeten eines eigenständigen ukrainischen Staates. Obwohl er selbst Pole war, ein Adliger zumal, setzte er sich mit aller Kraft für das Ukrainische ein, eine Sprache, die in seiner Jugend noch verboten war und von ihren Gegnern verächtlich als „dörflicher Dialekt“ bezeichnet wurde. Die polnische Variante seines Namens, Wacław, lehnte er stets ab, ließ sich ukrainisch Wjatscheslaw nennen. Eingeklemmt zwischen Russland und Kakanien rieb er sich in seiner missionarischen Tätigkeit auf, ein „mit dem Virus der verdienstvollen Arbeit für die Ukraine infizierter Schwindsüchtiger“, wie es einmal heißt. Eine unglückliche Ehe und fehlende Unterstützung durch die Familie taten das Ihrige. Der Siegeszug der Bolschewiki und die eigene Erkrankung ließen ihn schließlich aufgeben.
Wie erzählt man von einer solchen Figur? Wie macht man sie in der Sprache lebendig? Tanja Maljartschuk versucht eine Parallele zwischen ihrer Erzählerin und Lypynskyj zu konstruieren. „Meine Geschichte mithilfe seiner Geschichte“ – so will sie „den Geschmack der Zeit wahrnehmen“ und Ähnlichkeiten in Geschichten, Erlebnisweisen und Ängsten ausfindig machen.
Eigentlich ist es eine schöne Idee, die Entwicklung eines eigenen ukrainischen Staates mitsamt den Bruchstellen und Verwerfungen, die mit der Vorstellung einer Nation verbunden sind, mit der Wiedergewinnung eines seinerseits hochlabilen Ichs zu verknüpfen und das eine im anderen zu spiegeln. Aber leider gelingt es Tanja Maljartschuk nicht, einen genaueren Zusammenhang zwischen Lypynskyj und ihrer Erzählerin herzustellen. Die Verbindung bleibt beliebig. In einem Interview hat sie vor Kurzem erklärt, die Angst ihrer Erzählerin könne nicht nur eine private sein, sondern sich auch der Tragödie in der Geschichte ihrer Familie und ihres „Volkes“ verdanken: Enteignungen, Unterdrückung, der von Stalin Anfang der 30er-Jahre organisierten großen Hungersnot oder der Geschichte der aufständischen Armeen in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Doch diese Theorie kollektiver Traumata wird im Roman nicht einmal annähernd herausgearbeitet.
„Ich liebte es, ins Detail zu gehen“, sagt die Erzählerin an einer Stelle. Das erinnert entfernt an Nabokovs Diktum „Nur die Einzelheiten zählen“, das er in „Erinnerung, sprich“ formuliert hat. Und tatsächlich hat der Roman seine Stärken, wo Maljartschuk auf die unberechenbare Eigenkraft der Erinnerung setzt und die „atemberaubenden Einzelheiten“, die sie immer wieder beschwört, zu intensiven Szenen und Atmosphären verbindet. Etwa wenn sie unterschiedliche Arten von Wind beschreibt, die Lypynskyj am Geruch erkennen kann. Wenn sie jenes Bergsanatorium in Zakopane, in dem er von seiner Krankheit genesen soll, als eine Art Mini-Zauberberg skizziert. Oder wenn sie über den Großvater der Erzählerin schreibt. Als der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Musterung den Idioten mimt, wird er nach Tscheljabinsk in die Rüstungsindustrie geschickt. Dort muss er Glocken, die aus der ganzen Sowjetunion herangekarrt werden, zu Waffen einschmelzen.
Nur begnügt sich Maljartschuk nicht mit der Liebe zu den Details. „Es fiel mir schwer, zu verallgemeinern“, lässt sie die Erzählerin sagen. Doch das stimmt leider nicht. Das Verallgemeinern ist vielmehr das eigentliche Problem dieses Buches. Ein ums andere Mal, oft mitten in einer wahrnehmungsintensiven Szene, zieht Maljartschuk den erzählerischen Fokus auf und greift voraus. Da erlebt man als Leser den Versuch eines ersten Kusses zwischen Lypynskyj und seiner zukünftigen Frau – und das endet in den Sätzen: „In seinem ganzen Leben hatte Lypynskyj keinen schwerwiegenderen Fehler gemacht. Alle weiteren Fehler waren eine Folge dieses einen.“ Wie aus dem Nichts ploppen Abstraktionen oder stark raffende Passagen in privaten Erzählungen und zeitgeschichtlichen Ereignissen auf. Das ist nicht nur spannungstötend, sondern untergräbt auch den Anspruch des Romans auf historische Genauigkeit.
Noch störender sind die metaphorischen Schrägflächen, die das Buch durchziehen. Da gibt es parfümierte Formulierungen wie „vom heißen Schweiß nasse Bögen Papier“ oder „in der Luft lag ein Geruch von Geheimem, Süßem, Anziehendem“. Die Erzählerin glaubt, sie „wurde mit einem großen Ballon im Inneren gebo-ren, der mit Freiheit gefüllt war“, dann wieder bekennt sie mit Lypynskyj: „Wie durch ein endloses Gefängnis gehe ich durch mein Selbst“. Dazu der Versuch, zeitgeschichtliche Atmosphären mit Wie-Vergleichen zu fassen: Die Freiheitseuphorie im Februar 1917 verbreitet sich hier „wie ein gefährlicher, berauschender Bazillus“, und die Emigranten im Wien der Nachkriegszeit sammeln sich „wie Abwasser in der Donau“. Und die Zeit selbst? „Vielleicht ein hängender Fels, und das menschliche Leben ist ein verkümmerter Baum, der darauf Wurzeln schlagen will? Ein flackerndes Feuer, das die endlose Dunkelheit durchdringt? Ein einsamer Aufschrei in der trägen Stille?“
Das ist schade, nicht nur weil die Übersetzerin Maria Weissenböck den Roman in ein gut lesbares Deutsch verwandelt hat, das Ironie und Emphase klug vereint. Sondern auch, weil Tanja Maljartschuk dort, wo sie sich auf Fotos und Dokumente beruft, immer wieder ihrem Anspruch gerecht wird, Geschichte „dreidimensional“ werden zu lassen. An diesen Stellen ahnt man, welche Kraft der historische Roman haben könnte, dem Film und den „History Channels“ des Fernsehens, aber auch der Geschichtswissenschaft ein anderes Bild von Geschichte entgegenzusetzen.
NICO BLEUTGE
Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro.
„Es ist wie der Sturz in
einen bodenlosen,
senkrechten Schacht“
Die Angst könnte sich auch der
Tragödie ihrer Familie und ihres
„Volkes“ verdanken
Wo sie sich auf Fotos und
Dokumente beruft, wird
Geschichte dreidimensional
Gewann 2018 den Bachmann-Preis: Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk.
Foto: Gerhard Leber/imago
Spiegelfigur: Der ukrainische Publizist und Politiker Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931).
Foto: Wikimedia Commons
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»Wer die Entwicklung der Ukraine, ihr Ringen um Unabhängigkeit mitsamt eigener Sprache, eigener Kultur verstehen will, findet in Tanja Maljartschuks Roman viel Material - mit dem sie auf kluge, suggestive Weise spielt.« Antje Weber Süddeutsche Zeitung 20220626