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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Karen-Susan Fessel erzählt in "Blindfisch" die Geschichte eines
Jungen, der langsam erblindet.
Von Anna Vollmer
Eine Alltagsszene: Es gibt Essen, Suppe. Lon, der Protagonist in Karen-Susan Fessels Jugendroman "Blindfisch", nimmt die Schüssel, will sie zum Tisch tragen, aber irgendwas geht schief. Die Schüssel zerspringt, die Suppe spritzt. Der Stiefvater ist ungehalten, auch weil er nicht weiß, dass Lon nicht einfach unaufmerksam, war, sondern etwas nicht stimmt.
Seit Kurzem sieht Lon die Welt wie durch ein Fernglas: Das Sichtfeld wird enger, in den Ecken ist es unscharf. Die Bilder vor seinen Augen sind von Schlieren und Schleiern durchzogen, es zuckt und blitzt. Lon ist seit seiner Geburt am Usher-Syndrom erkrankt. Nun ist er in der Pubertät und hat das nächste Stadium erreicht: "Bei Typ 2 gleichbleibende hochgradige Schwerhörigkeit, die beginnende Retinopathia pigmentosa setzt - nicht immer, aber wenn, dann - während der Pubertät ein. Führt zur Erblindung. Sehr selten." Das ist die Definition, die so trocken klingt, wie das Diagnosen an sich haben. Wenig sagen sie dagegen über die Realität der Erkrankungen, die sie beschreiben - wie es sich zum Beispiel anfühlt, an einer Retinopathia pigmentosa zu leiden, von einer Diagnose eingeholt zu werden, die schon lange feststeht.
Diese Seite erzählt "Blindfisch": von der Scham und Angst, die mit der Erblindung einhergeht. Scham, anders zu sein, abhängig zu sein: "Was werde ich denn noch allein machen können, wenn ich blind bin? Fahrrad fahren geht nicht mehr. Lesen? Durch die Stadt laufen?" Angst, zu verlieren, was man kennt: "Und wenn ich keine Gesichter mehr erkennen kann? Nicht mehr sehe, wie jemand guckt? Wie mich jemand ansieht?" Die Angst, dadurch einsam zu sein. Und weil Lon kein Mitleid bekommen, sondern einfach ein Schüler wie jeder andere sein will, verheimlicht er die Veränderungen, die er an sich beobachtet. Dieser Prozess ist eindrücklich erzählt, manchmal so deutlich, dass es etwas redundant wird: Wenn Lon wieder alleine losläuft, obwohl er eigentlich schon die Orientierung verloren hat, kann man sich vorstellen, was kommt.
Nun werden Betroffene, die am Usher-Syndrom Typ 2 erkrankt sind, nicht nur blind, sie sind auch schwerhörig. Dieser Aspekt spielt in Fessels Roman, wie der Titel erahnen lässt, jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Ja, Lon trägt ein Hörgerät, das er praktischerweise ausstellen kann, wenn ihm alles zu viel wird. Aber die Schwerhörigkeit stellt kein großes Problem für ihn da, sie macht ihn zu keinem Außenseiter.
Das ist der emanzipatorischste Aspekt des Romans: dass Eigenschaften Lons, die in anderen Romanen möglicherweise als prominentes Problem im Zentrum stünden, hier selbstverständlich und keine große Sache sind. So ist Lon auch noch verliebt - in einen Mitschüler. Das verunsichert ihn, weil es eben verunsichert, wenn man verliebt ist, und auch, weil er dabei ist, zu erblinden. Dass er sich aber in einen Jungen und nicht in ein Mädchen verliebt hat, ist hingegen kein so großes Thema, wie es in einem Coming-out-Roman wohl der Fall wäre.
Das Erblinden spielt zwar eine deutlich größere Rolle, doch wird auch dieser Prozess eingebettet in eine Realität, die jeder kennt: erste Liebe, Freundschaft und Klassenfahrt. Wenn Lon sich ausgeschlossen und den anderen Klassenkameraden fern fühlt, so schiebt er das zwar auf seine Erkrankung. Doch wird sich im Verlauf des Romans herausstellen, dass dieses Gefühl mehr mit seinen Ängsten als mit dem Verhalten der anderen zu tun hat. Auch dieses Gefühl dürften viele kennen, dazu muss man nicht blind sein. Lons Mitschüler fühlen sich unwohl in ihrem Körper oder wollen nicht nach Hause - leicht ist die Pubertät wohl auch für sie nicht.
"Blindfisch" normalisiert also, was häufig als "anders", als "Problem" wahrgenommen wird, und verharmlost dabei nicht, wie schrecklich der Prozess für Lon ist: Immer schlechter sehen zu können ist ein furchtbarer Verlust. Doch es muss nicht so einsam machen, wie Lon es befürchtet. Das mag an manchen Stellen, wie dem etwas plötzlichen Happy Ending, fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Aber ein gutes Ende ist manchmal nicht kitschig, sondern fortschrittlicher als große Tragik.
Karen-Susan Fessel: "Blindfisch Karen". Roman.
Oetinger Verlag, Hamburg 2022. 240 S., geb., 18,- Euro. Ab 10 J.
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