"Hans ist schon ins Freie getreten. Jetzt mache ich es ihm nach: Ich strecke meine Hände aus, schiebe die letzten Zweige aus dem Weg und bet rete, mit dem Kopf zuerst, einen unbekannten Raum." Kurz vor seinem 30. Hochzeitstag fällt Eddas Vater vom Pferd. Zwar bricht er sich bloß ein paar Rippen, doch seine älteste Tochter, die sofort anreist, wittert Unheil. Ihr neuer Freund Hans, ein schweigsamer Maler, begleitet sie. Er scheint ebenso aus der Zeit gefallen zu sein wie Eddas Heimatdorf Odinsgrund: Dort fährt ein Riese Motorrad, die Mutter nimmt Betrunkenen Blut ab, aus dem Acker wachsen Muscheln, und ob der Hund wirklich ein Hund ist, muss sich erst noch rausstellen. Edda spürt: Hier stimmt was nicht. Doch dann ist da ja noch Hans. Gemeinsam müssen die beiden gleich zwei Wunderlandschaften durchqueren, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Lisa Kreißlers Debüt "Blitzbirke" erzählt eine einfache Liebesgeschichte: Ein wildes Mädchen befreit sich durch das Wunder der Liebe aus den Fängen ihrer Vergangenheit. Doch erst vor dem märchenhaften, naturromantischen Hintergrund der Geschichte kommt das eigentliche Thema des Romans zum Tragen: die fabelhafte Kraft der Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Stark und zart zugleich erscheint Meike Fessmann dieses Debüt von Lisa Kreißler. Wie die Autorin in ihrem Roman das Gefühl erkundet, als Erwachsener noch einmal im Elternhaus Kind sein zu wollen, findet sie gelungen. Gefallen hat ihr auch, dass das Schreckliche und Gewöhnliche an Familienfesten, Streitereien und Todesfällen offenbar wird in dieser Coming-of-Age-Geschichte, die für Fessmann eine stark märchenhafte Grundierung hat. Die schlichte Sprache des Textes schätzt Fessmann wegen ihrer Energie und wegen eines "liebevoll Lebhaften", das ihr darüber zu schweben scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2014Eine Familie mit Geheimnissen
Lisa Kreissler vermischt Provinzatmosphäre und nordische Mythologie zu einem rätselhaften Debüt
Städter um die dreißig, die in die Provinzlandschaften ihrer Kindheit zurückkehren, sind in deutschsprachigen Debütromanen keine Seltenheit. Aus der Konfrontation mit der Vergangenheit, die in der vertrauten Gegend, durch Menschen und Orte katalytisch befördert, wieder lebendig wird, lässt sich so mancher Erzählfunke schlagen. Auch "Blitzbirke" von Lisa Kreissler, Jahrgang 1983 und seit 2010 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierend, gehört in das Sujet dieser Romane. Erzählt wird die Geschichte der jungen Theaterautorin Edda, die mit ihrem Malerfreund Hans aus Leipzig in das nach der nordischen Gottheit benannte fiktive Dorf Odinsgrund fährt, um ihre Familie zu besuchen. Der dreißigste Hochzeitstag der Eltern steht an. Der Vater ist beim Ausreiten vom Pferd gefallen und hat sich die Rippen gebrochen. Weitere Komplikationen sind absehbar.
In Eddas Heimat, einem "Autobahndorf", wie Hans konstatiert, wird man nicht nur mit öden Provinzlandschaften vertraut gemacht, gibt es nicht nur einen verschrobenen, unverheirateten Onkel namens Magic, eine Schwester, die nach der nordischen Göttin der Jagd den Namen Skadi trägt und, anders als Edda, im Dorf geblieben ist. Es gibt mit Pferd, Hund und Hühnern, die hier immerhin nicht blutig auf dem Hackklotz geschlachtet werden, auch die für das Dorfromansetting typische Menagerie. Es gibt missgebildete, fotosensible Nachbarskinder, die nur nachts das Haus verlassen und draußen ihr Unwesen treiben. Es gibt Kränkungen, die ausgesprochen wurden und von denen eine dem Roman mittelbar seinen bedeutungsträchtigen Titel liefert. Es wird auch einiges Düsteres enthüllt, alte psychische und alte und neue physische Verletzungen werden sichtbar: "Es könnte sich da draußen um eine Ibsen-Inszenierung handeln: eine Familie, ein Fremder, Köpfe, Geheimnisse." Es gibt jede Menge Staub, Sprachlosigkeit und einen Steinbruch, in dem der Roman sein offenes Ende findet.
Nichts als Klischees, könnte man meinen. Doch "Blitzbirke" weicht in mancher Hinsicht vom bekannten Strickmuster des skizzierten Sujets ab. Kreissler treibt die Handlung teilweise theatral in Wechselreden voran. "Man spricht nicht in der dritten Person über anwesende Leute", heißt es einmal im Roman, und diese Aussage ist übertragbar auf die Haltung der erzählenden Instanz, die Gespräche der Figuren häufig unkommentiert lässt. Was die Figuren einander nicht sagen, bleibt in der Schwebe. Diese Offenheit fordert, in Verbindung mit der durch die Figuren- und Ortsnamen Edda und Skadi und Odinsgrund nahegelegte, nicht einfach zu entschlüsselnde Bezugnahme auf die nordische Mythologie, Phantasie und Deutungsvermögen heftig heraus. Mit lautmalerischen Effekten und einer verbkräftigen, eigenwilligen Sprache, die Naturphänomene den Seelenlandschaften der Figuren zuordnet, die "Wetterleuchten explodieren" lässt und in der sich die Sonne "dickflüssig auf den Horizont ergießt", entpuppt sich "Blitzbirke" als vielversprechendes Debüt, das gut in das Programm des einer sprachbewussten und experimentierfreudigen Prosa sehr zugetanen Mairisch Verlags passt. Die Handlung ist oft mäandernd und zögerlich, aber die Spannung bleibt dennoch aufrechterhalten. Lisa Kreissler gelingt es, Eddas Geschichte bei allem Facettenreichtum und aller Bruchstückhaftigkeit einige Tiefenschärfe einzuschreiben.
BEATE TRÖGER.
Lisa Kreissler: "Blitzbirke". Roman.
Mairisch Verlag, Hamburg 2014, 192 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lisa Kreissler vermischt Provinzatmosphäre und nordische Mythologie zu einem rätselhaften Debüt
Städter um die dreißig, die in die Provinzlandschaften ihrer Kindheit zurückkehren, sind in deutschsprachigen Debütromanen keine Seltenheit. Aus der Konfrontation mit der Vergangenheit, die in der vertrauten Gegend, durch Menschen und Orte katalytisch befördert, wieder lebendig wird, lässt sich so mancher Erzählfunke schlagen. Auch "Blitzbirke" von Lisa Kreissler, Jahrgang 1983 und seit 2010 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierend, gehört in das Sujet dieser Romane. Erzählt wird die Geschichte der jungen Theaterautorin Edda, die mit ihrem Malerfreund Hans aus Leipzig in das nach der nordischen Gottheit benannte fiktive Dorf Odinsgrund fährt, um ihre Familie zu besuchen. Der dreißigste Hochzeitstag der Eltern steht an. Der Vater ist beim Ausreiten vom Pferd gefallen und hat sich die Rippen gebrochen. Weitere Komplikationen sind absehbar.
In Eddas Heimat, einem "Autobahndorf", wie Hans konstatiert, wird man nicht nur mit öden Provinzlandschaften vertraut gemacht, gibt es nicht nur einen verschrobenen, unverheirateten Onkel namens Magic, eine Schwester, die nach der nordischen Göttin der Jagd den Namen Skadi trägt und, anders als Edda, im Dorf geblieben ist. Es gibt mit Pferd, Hund und Hühnern, die hier immerhin nicht blutig auf dem Hackklotz geschlachtet werden, auch die für das Dorfromansetting typische Menagerie. Es gibt missgebildete, fotosensible Nachbarskinder, die nur nachts das Haus verlassen und draußen ihr Unwesen treiben. Es gibt Kränkungen, die ausgesprochen wurden und von denen eine dem Roman mittelbar seinen bedeutungsträchtigen Titel liefert. Es wird auch einiges Düsteres enthüllt, alte psychische und alte und neue physische Verletzungen werden sichtbar: "Es könnte sich da draußen um eine Ibsen-Inszenierung handeln: eine Familie, ein Fremder, Köpfe, Geheimnisse." Es gibt jede Menge Staub, Sprachlosigkeit und einen Steinbruch, in dem der Roman sein offenes Ende findet.
Nichts als Klischees, könnte man meinen. Doch "Blitzbirke" weicht in mancher Hinsicht vom bekannten Strickmuster des skizzierten Sujets ab. Kreissler treibt die Handlung teilweise theatral in Wechselreden voran. "Man spricht nicht in der dritten Person über anwesende Leute", heißt es einmal im Roman, und diese Aussage ist übertragbar auf die Haltung der erzählenden Instanz, die Gespräche der Figuren häufig unkommentiert lässt. Was die Figuren einander nicht sagen, bleibt in der Schwebe. Diese Offenheit fordert, in Verbindung mit der durch die Figuren- und Ortsnamen Edda und Skadi und Odinsgrund nahegelegte, nicht einfach zu entschlüsselnde Bezugnahme auf die nordische Mythologie, Phantasie und Deutungsvermögen heftig heraus. Mit lautmalerischen Effekten und einer verbkräftigen, eigenwilligen Sprache, die Naturphänomene den Seelenlandschaften der Figuren zuordnet, die "Wetterleuchten explodieren" lässt und in der sich die Sonne "dickflüssig auf den Horizont ergießt", entpuppt sich "Blitzbirke" als vielversprechendes Debüt, das gut in das Programm des einer sprachbewussten und experimentierfreudigen Prosa sehr zugetanen Mairisch Verlags passt. Die Handlung ist oft mäandernd und zögerlich, aber die Spannung bleibt dennoch aufrechterhalten. Lisa Kreissler gelingt es, Eddas Geschichte bei allem Facettenreichtum und aller Bruchstückhaftigkeit einige Tiefenschärfe einzuschreiben.
BEATE TRÖGER.
Lisa Kreissler: "Blitzbirke". Roman.
Mairisch Verlag, Hamburg 2014, 192 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2014Gezisch des entgleitenden Lebens
Wenn Odins Pferd auf der A 2 herumgeistert: Lisa Kreißlers Debütroman „Blitzbirke“
Eine zauberische Stimmung liegt über diesem Debütroman, der sich nach kleinen Anlaufschwierigkeiten wie eine Lichtung im Wald präsentiert: überwältigend präsent, leuchtend klar, aber auch vorsichtig tastend – als sollte das Unheil nicht aufgescheucht werden, das hinter jeder Ecke lauern kann. Lisa Kreißler erzählt eine Allerweltsgeschichte, aber sie erzählt sie so, dass das Besondere in ihr aufscheint und das Allgemeingültige seinen Platz hat. Sie unterlegt sie mit märchenhaften Zügen und macht sie damit umso anschaulicher. Sehr genau erfasst sie ein Lebensgefühl: die Ablösung vom Elternhaus.
Edda, die Ich-Erzählerin, kehrt mit ihrem neuen Freund Hans für ein paar Tage aus Leipzig, wo sie als Theaterautorin, er als Künstler lebt, nach Hause zurück. Eigentlich soll der dreißigste Hochzeitstag der Eltern gefeiert werden. Aber Oskar, der Vater, ist vom Pferd gefallen und liegt im Krankenhaus. Emma, die Mutter, ist gar nicht unglücklich darüber. Sie mag keine Feste. Ohnehin hat sie das Gefühl, dass es mit ihrem Leben nur noch bergab geht. Die Familie wohnt an einem Ort, wie ihn die meisten nur vom Vorbeifahren kennen und sich höchstens zum Zeitvertreib überlegen, wie es wohl wäre, so zu wohnen: direkt an der Autobahn mit ihrem ständigen „Gezisch“ und den nächtlichen Schweinwerfern, die den Schlaf perforieren.
Lisa Kreißler entwirft den Heimatort ihrer Erzählerin als ein vom Memento mori der Autobahn umzäuntes Naturidyll. Es gibt dort allerlei Getier, wie man es auf dem Land erwartet, aber auch so merkwürdige Dinge wie eine Postkutsche, die von vier Hirschen gezogen und von einem Postboten namens Wölfi gelenkt wird. „Odinsgrund“, nennt die 1983 geborene Autorin, die neben Theater- und Medienwissenschaften auch Psychologie und Nordische Philologie in Erlangen und Uppsala studiert hat, das fiktive Autobahndorf, mit einem deutlichen Fingerzeig auf die Nordische Mythologie, die neben Märchenmotiven der Brüder Grimm den Hallraum des Romans bildet.
Skadi, die drei Jahre jüngere Schwester der noch nicht ganz dreißigjährigen Erzählerin, hat das Dorf nie verlassen, das irgendwo an der A2 in der Nähe von Wolfsburg liegen muss (der Onkel fährt täglich mit dem Motorrad zur Arbeit ins VW-Werk). Gerade baut sie mit Leif, ihrem Mann, das alte Schulhaus um, in dem ihre Eltern zur Schule gegangen sind. Sie wird dort wohl bald eine eigene Familie gründen, wie zumindest die Großmutter hofft.
Körperlich spürbar ist die Wiedersehensfreude mit Füchschen, der Hündin, und erst recht mit der Schwester, die ihr einst vertraut war wie ein Zwilling. Während die Schwestern in Skadis altem Opel ins Krankenhaus zum Vater fahren, ihre Nähe genießend wie ein kleines Fest, freundet sich die Mutter mit Hans an. Eine schöne Energie, etwas liebevoll Lebhaftes schwebt über diesen in schlichter Sprache erzählten Szenen – und zugleich gibt es erste Signale einer unterschwelligen Bedrohung. Warum beispielsweise fühlt Edda ihrer Mutter den Puls? Warum meint sie, deren Scham wahrzunehmen, wenn sie mit ihrem voluminös gewordenen Körper neben Hans Platz nimmt? Was für eine merkwürdige Form der Symbiose herrscht in dieser Familie, in der die heimkehrende Tochter jede Gefühlsregung der Mutter interpretiert und ständig fürchtet, es könne etwas Schlimmes geschehen?
So genau, wie sie Odinsgrund am Schnittpunkt von Natur und Kultur platziert, so geschickt hält Lisa Kreißler, die seit 2010 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, ihren Roman in der Schwebe zwischen realistischem und mythologischem Erzählen. Nach und nach kommen die Familienkatastrophen ans Licht, die Krebserkrankung der Mutter und ihre unendliche Traurigkeit, die Empfindsamkeit der Schwester, die mit ihrer Stute Benni eine so enge Symbiose einging, dass sie sich zu schneiden begann, als das Pferd lahmte und später sogar einen Selbstmordversuch unternahm. Von diesem Pferd ist der Vater gestürzt, als er es, nach der ominösen Therapie eines Heilers, zum ersten Mal wieder ritt. Der Zustand des Pferdes ist ein wiederkehrendes Motiv, so realistisch wie allegorisch. Odin, der Hauptgott der Nordischen Mythologie, wird oft als Reiter dargestellt.
Dass Lisa Kreißler ihr kleines Autobahndorf nach dem Kriegs- und Totengott nennt, der auch der Gott der Dichtung, der Magie und Ekstase ist, könnte man für überinstrumentiert halten. Doch der Bezug zur Mythologie hilft ihr, sowohl den Seelenraum ihrer Erzählerin als auch ihr Thema zu gestalten. Was Edda fürchtet, ist der Tod geliebter Menschen, und sie fürchtet ihn so sehr, dass sie ihn nicht auszusprechen wagt und ein Symbol dafür braucht, das seine Nennung ersetzt. Vieles, was in diesem Roman geschieht, der die Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse in die schließlich doch noch stattfindende Feierlichkeit einbettet, ist schrecklich und gewöhnlich zugleich: in Partykellern entgleisende Familienfeste, Streitereien und Versöhnungen, Krankheits- und Todesfälle. In einer allmählich ganz ins Märchenhafte übergehenden Szenerie gelingt es Hans am Ende, Edda aus ihrer Vergangenheit in die Gegenwart zu lotsen. Unter gewaltigen Drohungen bringt er ihr bei, dass ihre Familie nicht verschwindet, wenn sie sich nicht pausenlos um sie sorgt.
„Blitzbirke“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte der besonderen Art. Sie bringt eine Sehnsucht zum Leuchten , die junge Erwachsene von Zeit zu Zeit überkommt, aus dem selbstständigen Leben auszusteigen und für einige Tage ins Elternhaus zurückzukehren, noch einmal ins Paradies der Kindheit einzutauchen, eine Sehnsucht, die auch am Leben bleibt, wenn man weiß, dass es dieses Paradies nie gegeben hat.
Die titelgebende Birke – das Sinnbild dieser Sehnsucht –hat Eddas Vater zu ihrer Geburt gepflanzt. Sie stand so nah am Haus, dass die Schwestern sie als Terrasse nutzen konnten. Einen gewaltigen Blitzschlag hat sie überlebt, nicht aber den Unmut der Mutter. Kaum war Edda aus dem Haus, hat der Vater sie des Pollendrecks wegen fällen müssen. Eine Verletzung, die erst vernarbt, als Edda mit Hans ihr eigenes Leben beginnt: „Jetzt“, heißt das letzte Wort dieses starken und zarten Debütromans.
MEIKE FESSMANN
Es ist nicht weit bis Wolfsburg –
und es gibt eine Postkutsche, die
von vier Hirschen gezogen wird
Lisa Kreißler: Blitzbirke. Roman. Mairisch Verlag, Hamburg 2014. 192 Seiten, inkl. E-Book–Download 17,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn Odins Pferd auf der A 2 herumgeistert: Lisa Kreißlers Debütroman „Blitzbirke“
Eine zauberische Stimmung liegt über diesem Debütroman, der sich nach kleinen Anlaufschwierigkeiten wie eine Lichtung im Wald präsentiert: überwältigend präsent, leuchtend klar, aber auch vorsichtig tastend – als sollte das Unheil nicht aufgescheucht werden, das hinter jeder Ecke lauern kann. Lisa Kreißler erzählt eine Allerweltsgeschichte, aber sie erzählt sie so, dass das Besondere in ihr aufscheint und das Allgemeingültige seinen Platz hat. Sie unterlegt sie mit märchenhaften Zügen und macht sie damit umso anschaulicher. Sehr genau erfasst sie ein Lebensgefühl: die Ablösung vom Elternhaus.
Edda, die Ich-Erzählerin, kehrt mit ihrem neuen Freund Hans für ein paar Tage aus Leipzig, wo sie als Theaterautorin, er als Künstler lebt, nach Hause zurück. Eigentlich soll der dreißigste Hochzeitstag der Eltern gefeiert werden. Aber Oskar, der Vater, ist vom Pferd gefallen und liegt im Krankenhaus. Emma, die Mutter, ist gar nicht unglücklich darüber. Sie mag keine Feste. Ohnehin hat sie das Gefühl, dass es mit ihrem Leben nur noch bergab geht. Die Familie wohnt an einem Ort, wie ihn die meisten nur vom Vorbeifahren kennen und sich höchstens zum Zeitvertreib überlegen, wie es wohl wäre, so zu wohnen: direkt an der Autobahn mit ihrem ständigen „Gezisch“ und den nächtlichen Schweinwerfern, die den Schlaf perforieren.
Lisa Kreißler entwirft den Heimatort ihrer Erzählerin als ein vom Memento mori der Autobahn umzäuntes Naturidyll. Es gibt dort allerlei Getier, wie man es auf dem Land erwartet, aber auch so merkwürdige Dinge wie eine Postkutsche, die von vier Hirschen gezogen und von einem Postboten namens Wölfi gelenkt wird. „Odinsgrund“, nennt die 1983 geborene Autorin, die neben Theater- und Medienwissenschaften auch Psychologie und Nordische Philologie in Erlangen und Uppsala studiert hat, das fiktive Autobahndorf, mit einem deutlichen Fingerzeig auf die Nordische Mythologie, die neben Märchenmotiven der Brüder Grimm den Hallraum des Romans bildet.
Skadi, die drei Jahre jüngere Schwester der noch nicht ganz dreißigjährigen Erzählerin, hat das Dorf nie verlassen, das irgendwo an der A2 in der Nähe von Wolfsburg liegen muss (der Onkel fährt täglich mit dem Motorrad zur Arbeit ins VW-Werk). Gerade baut sie mit Leif, ihrem Mann, das alte Schulhaus um, in dem ihre Eltern zur Schule gegangen sind. Sie wird dort wohl bald eine eigene Familie gründen, wie zumindest die Großmutter hofft.
Körperlich spürbar ist die Wiedersehensfreude mit Füchschen, der Hündin, und erst recht mit der Schwester, die ihr einst vertraut war wie ein Zwilling. Während die Schwestern in Skadis altem Opel ins Krankenhaus zum Vater fahren, ihre Nähe genießend wie ein kleines Fest, freundet sich die Mutter mit Hans an. Eine schöne Energie, etwas liebevoll Lebhaftes schwebt über diesen in schlichter Sprache erzählten Szenen – und zugleich gibt es erste Signale einer unterschwelligen Bedrohung. Warum beispielsweise fühlt Edda ihrer Mutter den Puls? Warum meint sie, deren Scham wahrzunehmen, wenn sie mit ihrem voluminös gewordenen Körper neben Hans Platz nimmt? Was für eine merkwürdige Form der Symbiose herrscht in dieser Familie, in der die heimkehrende Tochter jede Gefühlsregung der Mutter interpretiert und ständig fürchtet, es könne etwas Schlimmes geschehen?
So genau, wie sie Odinsgrund am Schnittpunkt von Natur und Kultur platziert, so geschickt hält Lisa Kreißler, die seit 2010 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, ihren Roman in der Schwebe zwischen realistischem und mythologischem Erzählen. Nach und nach kommen die Familienkatastrophen ans Licht, die Krebserkrankung der Mutter und ihre unendliche Traurigkeit, die Empfindsamkeit der Schwester, die mit ihrer Stute Benni eine so enge Symbiose einging, dass sie sich zu schneiden begann, als das Pferd lahmte und später sogar einen Selbstmordversuch unternahm. Von diesem Pferd ist der Vater gestürzt, als er es, nach der ominösen Therapie eines Heilers, zum ersten Mal wieder ritt. Der Zustand des Pferdes ist ein wiederkehrendes Motiv, so realistisch wie allegorisch. Odin, der Hauptgott der Nordischen Mythologie, wird oft als Reiter dargestellt.
Dass Lisa Kreißler ihr kleines Autobahndorf nach dem Kriegs- und Totengott nennt, der auch der Gott der Dichtung, der Magie und Ekstase ist, könnte man für überinstrumentiert halten. Doch der Bezug zur Mythologie hilft ihr, sowohl den Seelenraum ihrer Erzählerin als auch ihr Thema zu gestalten. Was Edda fürchtet, ist der Tod geliebter Menschen, und sie fürchtet ihn so sehr, dass sie ihn nicht auszusprechen wagt und ein Symbol dafür braucht, das seine Nennung ersetzt. Vieles, was in diesem Roman geschieht, der die Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse in die schließlich doch noch stattfindende Feierlichkeit einbettet, ist schrecklich und gewöhnlich zugleich: in Partykellern entgleisende Familienfeste, Streitereien und Versöhnungen, Krankheits- und Todesfälle. In einer allmählich ganz ins Märchenhafte übergehenden Szenerie gelingt es Hans am Ende, Edda aus ihrer Vergangenheit in die Gegenwart zu lotsen. Unter gewaltigen Drohungen bringt er ihr bei, dass ihre Familie nicht verschwindet, wenn sie sich nicht pausenlos um sie sorgt.
„Blitzbirke“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte der besonderen Art. Sie bringt eine Sehnsucht zum Leuchten , die junge Erwachsene von Zeit zu Zeit überkommt, aus dem selbstständigen Leben auszusteigen und für einige Tage ins Elternhaus zurückzukehren, noch einmal ins Paradies der Kindheit einzutauchen, eine Sehnsucht, die auch am Leben bleibt, wenn man weiß, dass es dieses Paradies nie gegeben hat.
Die titelgebende Birke – das Sinnbild dieser Sehnsucht –hat Eddas Vater zu ihrer Geburt gepflanzt. Sie stand so nah am Haus, dass die Schwestern sie als Terrasse nutzen konnten. Einen gewaltigen Blitzschlag hat sie überlebt, nicht aber den Unmut der Mutter. Kaum war Edda aus dem Haus, hat der Vater sie des Pollendrecks wegen fällen müssen. Eine Verletzung, die erst vernarbt, als Edda mit Hans ihr eigenes Leben beginnt: „Jetzt“, heißt das letzte Wort dieses starken und zarten Debütromans.
MEIKE FESSMANN
Es ist nicht weit bis Wolfsburg –
und es gibt eine Postkutsche, die
von vier Hirschen gezogen wird
Lisa Kreißler: Blitzbirke. Roman. Mairisch Verlag, Hamburg 2014. 192 Seiten, inkl. E-Book–Download 17,90 Euro.
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