Ein "Krieg und Frieden" der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs. »Dieses Buch ist ein literarischer Urknall. Wesjoly vermag Menschenmassen so zu beschreiben, dass man glaubt, jeden Einzelnen heraushören zu können. Als sei Babel mit Chlebnikow eine Synthese eingegangen, um die Revolution von 1917 und den Bürgerkrieg ein für alle Mal erfahrbar zu machen.« Ingo Schulze Die volle Wahrheit des gewöhnlichen Lebens während der Oktoberrevolution und des anschließenden Bürgerkriegs zu zeigen - das war das große Ziel Artjom Wesjolys. Sein Held Maxim Kushel, Soldat und später Rotarmist, gerät in den Strudel der Ereignisse, die das Land wie ein Wirbelsturm verwüsten. Er erzählt vom Wirrwarr und Chaos des revolutionären Umbruchs, vom roten und weißen Terror danach. Unter dem Titel Russland in Blut gewaschen erschien das Buch von 1932 bis 1936 mehrfach in verschiedenen Textfassungen als Fragment. Thomas Reschkes Übersetzung folgt der Fassung von 1936, der letzten, die der Autor vor seiner Verhaftung 1937 selbst betreute. Sie wird ergänzt durch Textpassagen, die damals der Zensur zum Opfer fielen. Erst 1958 wurde der Roman, allerdings mit noch weiteren Streichungen, wieder in der Sowjetunion gedruckt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2017Den Bock zum Gärtner gemacht - und geschossen
Artjom Wesjoly stellt mit seinem grandiosen Roman "Blut und Feuer" die russische Revolution vom Kopf auf die Füße
Ob er Humor hatte? Vermutlich. Sonst hätte er sich kaum Wesjoly genannt, "der Frohgemute", "der Spaßvogel". Übrigens war das bereits sein zweites Pseudonym, nach "der Unfrohe", "der Griesgram". Geboren wurde Artjom Wesjoly 1899 als Nikolai Kotschkurow, Sohn einfacher Arbeiter, der Erste in der Familie, der lesen und schreiben lernte. Das sollte er ausbauen, beim Lyriker Waleri Brjussow Literatur studieren, Dramen, Erzählungen und Romane vorlegen. Zuletzt, kurz vor seinem Tod 1938, hat er Tschastuschki gesammelt: Was in England der Limerick, ist in Russland dieser meist gesungene Stegreif-Vierzeiler, der Alltägliches und allerlei Frivoles aufs Korn nimmt. Verwurzelt im neunzehnten Jahrhundert, waren Tschastuschki in nachrevolutionärer Zeit besonders beliebt. Und notwendig.
Humor dürfte er also gehabt haben, indes bleibt bei dieser Feststellung das Lachen im Halse stecken, denn seine Spottlust könnte Wesjoly letztlich den Kopf gekostet haben. Seinen Roman "Blut und Feuer" hat er 1932 erstmals veröffentlicht und wiederholt überarbeitet. Zu dieser Zeit ließ sich Stalin längst als Woschd, als Führer, bezeichnen, von 1934 an verlangte der "Sozialistische Realismus" nach literarischer Auftragsarbeit, waren Humor, Spott und Satire verpönt. Die neue Macht wusste um die Sprengkraft des Witzes, genau wie jedes repressive System.
Wie auch alle darum wussten, denen das Lachen genommen werden sollte. Es ist ein feiner, aber scharfer Spott, den Wesjoly favorisiert. In seinem Buch soll nach 1917 ein Dorfvorsteher gewählt werden. Vorschlag: ein Koch. Abgelehnt, zu dumm. "Auch Christus war ein Zimmermann", heißt es, und darauf: "Wieso Zimmermann? Bauunternehmer vielleicht oder so was." Wesjolys Spott zielt konsequent darauf, dass sich das Sowjetsystem etabliert, indem es auf unqualifizierte Kräfte setzt: Ein Analphabet wird zum Instrukteur gemacht - und wurschtelt sich so lange durch, bis sein Todesurteil gesprochen wird, Ersatz gibt es ja genug. Suffköppe, die im Rausch jeden Befehl unterschreiben. Deputierte, die nicht einmal ahnen, was es mit diesem Ehrentitel auf sich hat, und die Wahlurne gegen Brot eintauschen. All das klingt kaum nach Parteidisziplin als literarischer Muse. Gorki unterstellte dem Autor mithin schon bald Anarchismus, ein Etikett, mit dem sich bekanntlich jede individuelle, von der Parteilinie abweichende Sicht diskreditieren ließ. Im Jahr 1937 wurde Wesjoly dann die Mitgliedschaft in einer terroristischen - pardon! - "trotzkistischen Vereinigung" vorgeworfen, es folgten Folter in der Lubjanka und der Tod durch Erschießen. Das Fass zum Überlaufen hatte "Blut und Feuer" gebracht.
Dieser dreigegliederte Roman setzt im Ersten Weltkrieg ein und führt in den Bürgerkrieg, wo er mit den Worten "Rauch, Feuer - kein Ende!" ausklingt. Den mittleren Block bilden Etüden, Miniaturporträts, vergleichbar Babels "Reiterarmee". Im ersten Teil werden noch zwei Einzelschicksale etwas genauer verfolgt, im letzten fügen sich Aufnahmen im Kuban-Gebiet zu einem Panorama aus Misswirtschaft, Alkoholismus, ethnischen und religiösen Konflikten sowie Terror bei Roten und Weißen, bei Sozialrevolutionären und Bauern. Der Roman skizziert die Wirren, ohne selbst wirr zu sein.
Wesjoly hat sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet und war später Kriegsreporter. Er verdankte der Revolution das Studium, sah die Geschehnisse aber dennoch nie durch die rote Brille. Wie bei Remarques "Im Westen nichts Neues" - die erste Übersetzung ins Russische erschien bereits 1930, der Roman wird dort noch heute mit Begeisterung gelesen - und Babels "Reiterarmee" wird die Biographie des Autors als Garant für die Authentizität der im fiktiven Werk geschilderten Ereignisse angeführt. In der Tat sah sich Wesjoly als Chronist, welcher "der Masse" einzelne Stimmen geben wollte. Das ist ihm gelungen, aber freilich nicht das eigentliche Verdienst des Romans. Es liegt vielmehr darin, wie er gruppendynamische Prozesse bloßlegt, aufzeigt, wie diese zu Verrohung, einer Metzelkonkurrenz und Repression führen. Das war so in der russischen Literatur tatsächlich noch nicht zu lesen. Sein "Buch der Masse" stellt daher eine leidenschaftliche Kritik an einer Gesellschaft dar, die Individuen nicht erträgt und nicht kennt - dafür aber Sippenhaft, Lager und Tod. "Das stolze Moskau mochte solch freien Geist nicht dulden, sammelte Kräfte und schlug mit Feuer und Schwert."
Sein Panaroma hat Wesjoly multiperspektivisch angelegt. Ein auktorialer Erzähler weiß beim Ersten Weltkrieg um das Leid aller, nicht nur der russischen Menschen: Mossul ist verheert, in der Ukraine hungert man, "in der Tschetschenei hat jeder Reiche und jeder Räuber eine eigene Partei, und alle metzeln sich gegenseitig, die Inguschen haben die weiße Fahne der Unterwerfung gehisst, Dagestan aber ergibt sich dem Islam und der Türkei . . ." Personale Erzähler wissen vom Krieg gegen die Türkei und Japan, der Revolution von 1905, dem Frieden von Brest, dieser "russischen Dolchstoßlegende", von Kriegsmüdigkeit und Depression. Naturschönheit wird gegen Kriegsgreuel geschnitten: "Über dem meuternden Land stieg wie ein blutunterlaufenes Auge eine kalte Purpursonne auf." Zuweilen wird ein Passus durch stufenweise hinabführende Einzelwörter wie beispielsweise "Schnellausbildung - Gottesdienst - Bahnhof" graphisch herausgehoben. Poetische Töne wechseln mit Zoten. Letzteres Verfahren trug Wesjoly den Vorwurf ein, nichtnormative Lexik zu verwenden.
Die Leistung Thomas Reschkes bei der Transposition dieser polyphonen Sprachsymphonie ins Deutsche (eine Überarbeitung seiner Erstfassung "Russland in Blut gewaschen" von 1987) kann gar nicht genug gewürdigt werden. Gerade der mündliche Ton ist ihm hervorragend gelungen, indem er das ganze Repertoire aus Vulgärsprache, Anakoluth, Parallelismus, elliptischer Ausdrucksweise zu nutzen weiß. Das Ergebnis ist ein Text, der temporeich, stilistisch hochanspruchsvoll und gleichzeitig packend ist. "Jetzt haben wir die Freiheit, aber wenn der Zar nun plötzlich einen Aufstand macht gegen das Volk?" Artjom Wesjoly wusste, wie es um diese Freiheit bestellt war, und dürfte geahnt haben, was ihm drohte. Sein Ausreiseantrag wurde abgelehnt, das Land der Freiheit verurteilte ihn zum Tode. Erhalten bleibt seine literarische Anklage gegen dieses System, eine menschliche Tragikomödie.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Artjom Wesjoly: "Blut und Feuer".
Roman.
Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 640 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Artjom Wesjoly stellt mit seinem grandiosen Roman "Blut und Feuer" die russische Revolution vom Kopf auf die Füße
Ob er Humor hatte? Vermutlich. Sonst hätte er sich kaum Wesjoly genannt, "der Frohgemute", "der Spaßvogel". Übrigens war das bereits sein zweites Pseudonym, nach "der Unfrohe", "der Griesgram". Geboren wurde Artjom Wesjoly 1899 als Nikolai Kotschkurow, Sohn einfacher Arbeiter, der Erste in der Familie, der lesen und schreiben lernte. Das sollte er ausbauen, beim Lyriker Waleri Brjussow Literatur studieren, Dramen, Erzählungen und Romane vorlegen. Zuletzt, kurz vor seinem Tod 1938, hat er Tschastuschki gesammelt: Was in England der Limerick, ist in Russland dieser meist gesungene Stegreif-Vierzeiler, der Alltägliches und allerlei Frivoles aufs Korn nimmt. Verwurzelt im neunzehnten Jahrhundert, waren Tschastuschki in nachrevolutionärer Zeit besonders beliebt. Und notwendig.
Humor dürfte er also gehabt haben, indes bleibt bei dieser Feststellung das Lachen im Halse stecken, denn seine Spottlust könnte Wesjoly letztlich den Kopf gekostet haben. Seinen Roman "Blut und Feuer" hat er 1932 erstmals veröffentlicht und wiederholt überarbeitet. Zu dieser Zeit ließ sich Stalin längst als Woschd, als Führer, bezeichnen, von 1934 an verlangte der "Sozialistische Realismus" nach literarischer Auftragsarbeit, waren Humor, Spott und Satire verpönt. Die neue Macht wusste um die Sprengkraft des Witzes, genau wie jedes repressive System.
Wie auch alle darum wussten, denen das Lachen genommen werden sollte. Es ist ein feiner, aber scharfer Spott, den Wesjoly favorisiert. In seinem Buch soll nach 1917 ein Dorfvorsteher gewählt werden. Vorschlag: ein Koch. Abgelehnt, zu dumm. "Auch Christus war ein Zimmermann", heißt es, und darauf: "Wieso Zimmermann? Bauunternehmer vielleicht oder so was." Wesjolys Spott zielt konsequent darauf, dass sich das Sowjetsystem etabliert, indem es auf unqualifizierte Kräfte setzt: Ein Analphabet wird zum Instrukteur gemacht - und wurschtelt sich so lange durch, bis sein Todesurteil gesprochen wird, Ersatz gibt es ja genug. Suffköppe, die im Rausch jeden Befehl unterschreiben. Deputierte, die nicht einmal ahnen, was es mit diesem Ehrentitel auf sich hat, und die Wahlurne gegen Brot eintauschen. All das klingt kaum nach Parteidisziplin als literarischer Muse. Gorki unterstellte dem Autor mithin schon bald Anarchismus, ein Etikett, mit dem sich bekanntlich jede individuelle, von der Parteilinie abweichende Sicht diskreditieren ließ. Im Jahr 1937 wurde Wesjoly dann die Mitgliedschaft in einer terroristischen - pardon! - "trotzkistischen Vereinigung" vorgeworfen, es folgten Folter in der Lubjanka und der Tod durch Erschießen. Das Fass zum Überlaufen hatte "Blut und Feuer" gebracht.
Dieser dreigegliederte Roman setzt im Ersten Weltkrieg ein und führt in den Bürgerkrieg, wo er mit den Worten "Rauch, Feuer - kein Ende!" ausklingt. Den mittleren Block bilden Etüden, Miniaturporträts, vergleichbar Babels "Reiterarmee". Im ersten Teil werden noch zwei Einzelschicksale etwas genauer verfolgt, im letzten fügen sich Aufnahmen im Kuban-Gebiet zu einem Panorama aus Misswirtschaft, Alkoholismus, ethnischen und religiösen Konflikten sowie Terror bei Roten und Weißen, bei Sozialrevolutionären und Bauern. Der Roman skizziert die Wirren, ohne selbst wirr zu sein.
Wesjoly hat sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet und war später Kriegsreporter. Er verdankte der Revolution das Studium, sah die Geschehnisse aber dennoch nie durch die rote Brille. Wie bei Remarques "Im Westen nichts Neues" - die erste Übersetzung ins Russische erschien bereits 1930, der Roman wird dort noch heute mit Begeisterung gelesen - und Babels "Reiterarmee" wird die Biographie des Autors als Garant für die Authentizität der im fiktiven Werk geschilderten Ereignisse angeführt. In der Tat sah sich Wesjoly als Chronist, welcher "der Masse" einzelne Stimmen geben wollte. Das ist ihm gelungen, aber freilich nicht das eigentliche Verdienst des Romans. Es liegt vielmehr darin, wie er gruppendynamische Prozesse bloßlegt, aufzeigt, wie diese zu Verrohung, einer Metzelkonkurrenz und Repression führen. Das war so in der russischen Literatur tatsächlich noch nicht zu lesen. Sein "Buch der Masse" stellt daher eine leidenschaftliche Kritik an einer Gesellschaft dar, die Individuen nicht erträgt und nicht kennt - dafür aber Sippenhaft, Lager und Tod. "Das stolze Moskau mochte solch freien Geist nicht dulden, sammelte Kräfte und schlug mit Feuer und Schwert."
Sein Panaroma hat Wesjoly multiperspektivisch angelegt. Ein auktorialer Erzähler weiß beim Ersten Weltkrieg um das Leid aller, nicht nur der russischen Menschen: Mossul ist verheert, in der Ukraine hungert man, "in der Tschetschenei hat jeder Reiche und jeder Räuber eine eigene Partei, und alle metzeln sich gegenseitig, die Inguschen haben die weiße Fahne der Unterwerfung gehisst, Dagestan aber ergibt sich dem Islam und der Türkei . . ." Personale Erzähler wissen vom Krieg gegen die Türkei und Japan, der Revolution von 1905, dem Frieden von Brest, dieser "russischen Dolchstoßlegende", von Kriegsmüdigkeit und Depression. Naturschönheit wird gegen Kriegsgreuel geschnitten: "Über dem meuternden Land stieg wie ein blutunterlaufenes Auge eine kalte Purpursonne auf." Zuweilen wird ein Passus durch stufenweise hinabführende Einzelwörter wie beispielsweise "Schnellausbildung - Gottesdienst - Bahnhof" graphisch herausgehoben. Poetische Töne wechseln mit Zoten. Letzteres Verfahren trug Wesjoly den Vorwurf ein, nichtnormative Lexik zu verwenden.
Die Leistung Thomas Reschkes bei der Transposition dieser polyphonen Sprachsymphonie ins Deutsche (eine Überarbeitung seiner Erstfassung "Russland in Blut gewaschen" von 1987) kann gar nicht genug gewürdigt werden. Gerade der mündliche Ton ist ihm hervorragend gelungen, indem er das ganze Repertoire aus Vulgärsprache, Anakoluth, Parallelismus, elliptischer Ausdrucksweise zu nutzen weiß. Das Ergebnis ist ein Text, der temporeich, stilistisch hochanspruchsvoll und gleichzeitig packend ist. "Jetzt haben wir die Freiheit, aber wenn der Zar nun plötzlich einen Aufstand macht gegen das Volk?" Artjom Wesjoly wusste, wie es um diese Freiheit bestellt war, und dürfte geahnt haben, was ihm drohte. Sein Ausreiseantrag wurde abgelehnt, das Land der Freiheit verurteilte ihn zum Tode. Erhalten bleibt seine literarische Anklage gegen dieses System, eine menschliche Tragikomödie.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Artjom Wesjoly: "Blut und Feuer".
Roman.
Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 640 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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