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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Folgen der deutschen Kultur der Zurückhaltung am Beispiel des Konflikts in Syrien
Starker Tobak: Deutschland habe wohl nicht zu jedem Zeitpunkt des Syrien-Konflikts abseitsgestanden. Vor allem sei dies aber dann der Fall gewesen, "wenn innerhalb der westlichen Allianz ein verstärktes Eingreifen diskutiert oder praktiziert wurde". Mit seinem Nichthandeln habe sich Deutschland gegenüber den Partnern nicht als ein verlässlicher Partner erwiesen, und für die syrische Bevölkerung sei diese verheerend, "gewissermaßen eine ,blutige Enthaltung'".
Diese Anklage erheben zwei Wissenschaftler vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Sönke Neitzel ist dort Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt, Bastian Matteo Scianna wissenschaftlicher Mitarbeiter. Am Beispiel des Syrien-Konflikts untersuchen sie die Haltung Deutschlands in internationalen Krisen und zeichnen dabei überzeugend nach, wie das wirtschaftlich starke Deutschland den gestiegenen Erwartungen in der Welt nicht gerecht wird und wie es im internationalen Krisenmanagement auch keine politische Verantwortung übernimmt. Verantwortlich dafür machen sie unter anderem das Fehlen einer strategischen Kultur im Umgang mit militärischen Konflikten.
Dabei hatte im Februar 2014 Bundespräsident Joachim Gauck eine aktivere Rolle Deutschlands in der internationalen Politik gefordert, um unsere Werte glaubhaft zu verteidigen. Deutschland solle "sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen", es dürfe nicht "vor Bedrohungen fliehen" und bei der Frage eines Einsatz der Bundeswehr "nicht aus Prinzip nein" sagen, forderte Gauck. Geändert hat sein Appell nicht viel. Und so rechnen Neitzel und Scianna mit dieser deutschen "Kultur der strategischen Zurückhaltung" ab.
Begonnen haben die Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad im März 2011. Die meisten westlichen Analysten rechneten mit seinem baldigen Sturz, und so entwickelten die Regierungen auch keine Pläne für den Fall, dass sich Assad doch an der Macht halten kann. Dann schaute der Westen zu, als die Nachbarstaaten im Sommer 2011 Syrien zum Schlachtfeld eines regionalen Stellvertreterkriegs machten. Schon da zeigte sich zum ersten Mal die fehlende Bereitschaft Deutschlands, einen Beitrag zur Beendigung des Konflikts zu leisten.
Kaum hatte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Februar 2012 eine internationale Friedensmission vorgeschlagen, hatte die schwarz-gelbe Regierung eine Beteiligung daran schon ausgeschlossen. An die neue UNSMIS-Mission entsandte Deutschland gerade einmal einen Stabsoffizier, während andere europäische Staaten schneller und entschlossener handelten. Als dann die Nato Ende 2012 Pläne für ein militärisches Eingreifen ausarbeitete, kritisierte Berlin das scharf. Deutschland war nicht bereit, am selbstformulierten Ziel, Assads Herrschaft zu beenden, mitzuwirken. Und so fehlte eine glaubhafte Drohkulisse, und die Forderungen nach einer politischen Lösung verpufften.
Dass eine solche Wirkung hat, zeigte sich, als US-Präsident Barack Obama nach einem Giftgasangriff im August 2013 mit Luftangriffen drohte. Andere schlossen sich an. Was tat da die Bundesregierung? Sie unterstützte die Partner nicht einmal politisch, sondern wollte UN-Berichte abwarten und untergrub so eine gemeinsame westliche Haltung. Das Regime erklärte jedoch seine Bereitschaft, seine Chemiewaffen aufzugeben. Jedoch war die Bundesregierung nicht bereit, in Syrien selbst bei der Vernichtung der Chemiewaffenbestände zu helfen. Und so zeichnete sich das bekannte Muster ab: "Unterstützungsbekundungen für eine internationale Mission gefolgt von Wegducken bei der Frage nach aktiver deutscher Hilfe." Wieder einmal war Deutschland "Vorreiter der moralischen Entrüstung und des Einforderns von Einsätzen, die andere ausführen sollten".
Zu einem vorsichtige Umdenken führten erst der Terror des IS und der mögliche Genozid an den Jesiden im Sommer 2014. Im Syrien-Konflikt blieb die Bundesregierung zwar weiterhin passiv, sie lieferte aber nun an die kurdischen Peschmerga im Irak Waffen und unterstützte die Ausbildung der irakischen Armee. So konnte die Bundesregierung sagen, sie tue etwas. Damit wendete sie aber auch eine stärkere Verwicklung in den Konflikt ab. Selbst wenn nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris der deutsche Beitrag im Kampf gegen den IS aufgestockt wurde, blieb er im Vergleich zu anderen, oft kleineren Nationen begrenzt. Das gilt auch für die Sahelzone, die neue Front im Kampf gegen den Terror. Selbst mittelgroße Staaten wie Dänemark und Norwegen leisten mehr als Deutschland, das sich "in einer oftmals grotesken nationalen Nabelschau hochlobte", so das harte Urteil der Autoren.
Das bekannte Muster setzte sich auch in der aktuell letzten Phase des Syrien-Konflikts fort: politischer Druck in internationalen Gremien, wirtschaftliche Sanktionen, aber bitte keine militärische Operation. Eine solche war aber erforderlich geworden, als das Assad-Regime im April 2018 wieder Giftgas einsetzte. Als Antwort feuerten amerikanische, französische und britische Flugzeuge rund 100 Marschflugkörper gegen Ziele in Syrien ab. Die Korvette Magdeburg, die mit schweren Flugkörpern ausgestattet vor der Küste Libanons im Einsatz war, beteiligte sich nicht. Deutschland stand wieder einmal als Zuschauer abseits von seinen engsten Partnern. Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Juli 2019 eine internationale Sicherheitszone in Nordsyrien mit deutscher Beteiligung vorschlug, zermalmte Außenminister Heiko Maas das Projekt umgehend.
Was für Syrien gilt, trifft auch für Libyen zu. Auch dort hat das deutsche Nichthandeln andere zum Eingreifen ermuntert. Dabei trägt Deutschland als Zielland der ausgelösten Fluchtbewegungen die Folgen der Konflikte. Das Fazit der Autoren ist niederschmetternd: Die deutsche Haltung bestehe in leeren Worthülsen und in der Hoffnung, dass sich alles irgendwie von selbst lösen möge, schreiben sie. "Deutschland - ein verlässlicher Partner, wenn es kracht und zischt? Wohl kaum." Die Autoren haben recht: Ein solches Deutschland wird seiner Verantwortung in der Welt nicht gerecht. Der Vorwurf, Trittbrettfahrer auf Kosten von Dritten zu sein, ist nicht aus der Luft gegriffen.
RAINER HERMANN
Sönke Neitzel/ Bastian Matteo Scianna: Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg.
Herder Verlag, Freiburg 2021. 160 S., 18,- [Euro].
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