„Eine Sensation.“ Der Tagesspiegel „Berlin, Berlin … Der Name klingt ihm wie Musik. Als ob ausgerechnet in Berlin ein gedeckter Tisch und ein weiches Bett auf Willi Kludas warten.“ Anfang der 1930er Jahre lebten in Berlin und anderen deutschen Großstädten infolge der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse tausende Jugendliche auf der Straße. Sie verdingten sich als Tagelöhner und Laufburschen, aber häufig führte ihr Weg sie auch in die Kriminalität oder Prostitution. Zuflucht und ein wenig Sicherheit und soziale Wärme fanden sie in selbstorganisierten Gruppen. In stillgelegten Fabrikbaracken traf man sich, trank, tanzte und vergaß für einen Augenblick das Elend, das einen täglich umgab. Poetisch und mit einem tieftraurigen Realismus folgt Ernst Haffner der Jugendbande „Blutsbrüder“, lässt den Leser teilhaben an ihrem oft grausamen Überlebenskampf und schildert den unbändigen Freiheitswillen der Jugendlichen. „Ein sensationelles Buch.“ NZZ „Ein Moment der Stadtgeschichte, das selten mit einer solchen Intensität dargestellt worden ist.“ Berliner Zeitung „Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen.“ Süddeutsche Zeitung „Temporeich, voller Mutterwitz und Empathie.“ Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2013Gegen den Geschmack des Kurfürstendamms
Die verlorene Jugend von Berlin: Ernst Haffners Romanreportage "Blutsbrüder" von 1932
Den 21. Geburtstag eines Cliquenfreundes feiern die "Blutsbrüder" in einer Laube auf dem Brachland an der Berliner Koloniestraße. Hier, heißt es, habe der Freund seine "Heimat": eine "Gegend wie geschaffen zum laut- und spurlosen Verschwinden". Die Feiernden sitzen auf Kartoffelsäcken zwischen Schnaps- und Weinflaschen, auf einer Apfelsinenkiste brennt eine Altarkerze, dazu plärrt ein Grammophon. Man isst Blockschokolade, dann erzählt Ulli, "der nunmehr Mündige", von seinem Kampf mit der Polizei, dem Jugendamt, den Erziehungsanstalten. "Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich." Vor der Gartenhütte gibt es Krawall: Zwei feindliche Cliquenmitglieder wollen die Festgesellschaft stören. Sie werden niedergeboxt, dann fließt wieder der Fusel, schließlich besorgt sich die Runde eine Prostituierte "von reichlich vierzig Jahren". Nach einer Stunde hat sie zehn Mark verdient. Die Laube wird still. Nur die Altarkerze brennt noch, sie "beleuchtet ein trauriges Bild ...".
Ernst Haffners Roman "Jugend auf der Landstraße Berlin" wollte 1932 diese Altarkerze sein: ein Licht, das auf die Zustände in Deutschland auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, der politischen Kämpfe, der zivilen Zerrüttung fiel. Und zugleich wollte er ein spannender Insider-Bericht aus der Jugendbandenszene der Hauptstadt sein, ein Reißer, wie man damals sagte, ein Zeitbuch. Deshalb gehen ständig zwei Tonlagen, zwei Perspektiven in Haffners Geschichte durcheinander, hier Reportage, da Moritat, hier Kerze, da Glühlampe. "Ist es Renommiersucht, diese Gier nach dem Alkohol?", fragt der Erzähler mitten in der Schilderung des Gelages in der Laube. Ein paar Seiten später, als einer seiner Helden in die städtische Wärmehalle in der Ackerstraße geht, wendet er sich wieder an den Leser: "Gibt es Trostloseres als diese Wärmehalle im ausrangierten Straßenbahnschuppen?" Ganz sicher, aber nicht hier.
Und auch nicht im Deutschland des Jahres 1932. Wenige Monate später aber kam Hitler an die Macht, dann folgten die Bücherverbrennung, die Rassenpolitik, die Konzentrationslager, der Weltkrieg, und in diesem Strudel verschwand mit dem Milieu, von dem Ernst Haffner berichtet, auch sein Buch selbst. Und auch der Autor ging der Literatur verloren, bis 1933 arbeitete er als Sozialarbeiter und Journalist, danach wird er noch einmal zur Reichsschrifttumskammer zitiert, anschließend erlischt seine Spur. Es gab viele nicht nur jüdische Künstler der Weimarer Republik, die dieses Schicksal des Vergessenwerdens erlitten, und es gab andere, die sich, wie die Filmregisseure Piel Jutzi und Walter Ruttmann, "umdrehen" und für die Propaganda der Nazis missbrauchen ließen. Ernst Haffner gehörte nicht dazu.
In den vergangenen zwölf Jahren hatte der Aufbau-Verlag mit der Neuauflage von Hans Falladas Widerstandsroman "Jeder stirbt für sich allein" einen Weltbestseller. Diesen Erfolg versucht der von der Aufbau-Gruppe eigens und exklusiv für ein jugendliches Lesepublikum gegründete Metrolit Verlag nun offenbar mit Haffners Buch, das unter dem griffigeren Titel "Blutsbrüder" erscheint, zu wiederholen. Das könnte schwierig werden, nicht nur, weil jener Expresszug, auf dessen Waggonachse der Heimzögling Willi bei Haffner als blinder Passagier von Köln nach Berlin reist, längst nicht mehr fährt. Das größere Problem ist der Blick, den Haffner auf all die Züge, Kneipen, Kaschemmen, Edelbordelle, Lauben und Wärmehallen wirft, in denen seine Bandengeschichte spielt. Es ist nicht nur der Blick des mitfühlenden, mitleidenden Zeugen. Es ist auch, oft genug, der Blick eines Rechthabers.
Denn Haffners Buch hat ein klares Feindbild. Nicht die Polizei, nicht den Staat, auch nicht die Weimarer Parteien, von denen nie die Rede ist - sondern den bürgerlichen "Amüsiermob" mit seinem "Kurfürstendammgeschmack", der sich im Kintopp an Melodramen aus der Berliner Unterwelt berauscht, an "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen mit brandrot loderndem Wuschelkopf" und anderem.
Wie es scheint, hat der Autor Slatan Dudows "Kuhle Wampe" noch nicht gesehen, der im Mai 1932 in den Kinos anläuft, und er kennt auch Piel Jutzis Verfilmung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Heinrich George aus dem Vorjahr nicht. Dafür liest sich seine Beschreibung eines Nachtklubs in Wilmersdorf wie ein Drehbuchauszug zu Bob Fosses "Cabaret"-Film aus den siebziger Jahren: "Rot glüht die Wandbespannung, rot die weichen Teppiche ... Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch." Auch Haffner gibt gern dem Affen Zucker, wenn es in sein Schwarzweißbild der Berliner Klassengesellschaft passt.
Beides, der Rundumschlag gegen das Ufa-Kino und die zum Roman ausge-backene Sozialreportage, gefällt Siegfried Kracauer, dem Berliner Kulturkorrespondenten der "Frankfurter Zeitung", der im Oktober 1932 eine hymnische Kritik zu Haffners Buch im Literaturblatt der "FZ" veröffentlicht. Es spiegle "unbekannte Zustände naturgetreu wider" und führe den Leser "zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth", lobt Kracauer, der selbst lieber von den Cafés am Kurfürstendamm aus die soziale und politische Notlage beschreibt. Im selben Text und mit ähnlichen Worten bespricht er auch Albert Lamms autobiographischen Roman "Betrogene Jugend", der in einem Heim für jugendliche Erwerbslose spielt. Lamms Buch wurde bereits im vergangenen Jahr in einem Berliner Kleinstverlag wiederaufgelegt. Offenbar gibt es ein neues Bedürfnis nach historischer Asphaltliteratur, wenigstens in der deutschen Verlagsbranche.
Und Haffners Roman scheint die ideale Antwort auf diesen Bedarf. Denn er moralisiert und polemisiert nicht nur, er erzählt nicht nur in stakkatohaftem Präsens von Jonny, Willi, Ulli und all den anderen, sondern er kennt sich auch richtig gut aus im Berlin seiner Zeit. Man könnte eine historische Stadttour einrichten zu all den Schauplätzen, an denen "Blutsbrüder" spielt, dem "Schmidt" in der Linienstraße, dem "Mexico" am Alexanderplatz, dem Tageskino "Pritzkow" und der "Alexanderquelle" in der Münzstraße. Wenn es sie noch gäbe. Aber sie sind ebenso verschwunden wie jener jüdische Händler in der Grenadierstraße, bei dem sich die Clique falsche Papiere besorgt. Und deshalb liest man Haffners Buch mit jenem wohligen Schauder, mit dem man etwa einen wiederentdeckten Stummfilm betrachtet. Es schreit, aber in Schwarzweiß. Es tut nicht weh.
ANDREAS KILB
Ernst Haffner:
"Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman".
Metrolit Verlag, Berlin 2013. 260 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die verlorene Jugend von Berlin: Ernst Haffners Romanreportage "Blutsbrüder" von 1932
Den 21. Geburtstag eines Cliquenfreundes feiern die "Blutsbrüder" in einer Laube auf dem Brachland an der Berliner Koloniestraße. Hier, heißt es, habe der Freund seine "Heimat": eine "Gegend wie geschaffen zum laut- und spurlosen Verschwinden". Die Feiernden sitzen auf Kartoffelsäcken zwischen Schnaps- und Weinflaschen, auf einer Apfelsinenkiste brennt eine Altarkerze, dazu plärrt ein Grammophon. Man isst Blockschokolade, dann erzählt Ulli, "der nunmehr Mündige", von seinem Kampf mit der Polizei, dem Jugendamt, den Erziehungsanstalten. "Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich." Vor der Gartenhütte gibt es Krawall: Zwei feindliche Cliquenmitglieder wollen die Festgesellschaft stören. Sie werden niedergeboxt, dann fließt wieder der Fusel, schließlich besorgt sich die Runde eine Prostituierte "von reichlich vierzig Jahren". Nach einer Stunde hat sie zehn Mark verdient. Die Laube wird still. Nur die Altarkerze brennt noch, sie "beleuchtet ein trauriges Bild ...".
Ernst Haffners Roman "Jugend auf der Landstraße Berlin" wollte 1932 diese Altarkerze sein: ein Licht, das auf die Zustände in Deutschland auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, der politischen Kämpfe, der zivilen Zerrüttung fiel. Und zugleich wollte er ein spannender Insider-Bericht aus der Jugendbandenszene der Hauptstadt sein, ein Reißer, wie man damals sagte, ein Zeitbuch. Deshalb gehen ständig zwei Tonlagen, zwei Perspektiven in Haffners Geschichte durcheinander, hier Reportage, da Moritat, hier Kerze, da Glühlampe. "Ist es Renommiersucht, diese Gier nach dem Alkohol?", fragt der Erzähler mitten in der Schilderung des Gelages in der Laube. Ein paar Seiten später, als einer seiner Helden in die städtische Wärmehalle in der Ackerstraße geht, wendet er sich wieder an den Leser: "Gibt es Trostloseres als diese Wärmehalle im ausrangierten Straßenbahnschuppen?" Ganz sicher, aber nicht hier.
Und auch nicht im Deutschland des Jahres 1932. Wenige Monate später aber kam Hitler an die Macht, dann folgten die Bücherverbrennung, die Rassenpolitik, die Konzentrationslager, der Weltkrieg, und in diesem Strudel verschwand mit dem Milieu, von dem Ernst Haffner berichtet, auch sein Buch selbst. Und auch der Autor ging der Literatur verloren, bis 1933 arbeitete er als Sozialarbeiter und Journalist, danach wird er noch einmal zur Reichsschrifttumskammer zitiert, anschließend erlischt seine Spur. Es gab viele nicht nur jüdische Künstler der Weimarer Republik, die dieses Schicksal des Vergessenwerdens erlitten, und es gab andere, die sich, wie die Filmregisseure Piel Jutzi und Walter Ruttmann, "umdrehen" und für die Propaganda der Nazis missbrauchen ließen. Ernst Haffner gehörte nicht dazu.
In den vergangenen zwölf Jahren hatte der Aufbau-Verlag mit der Neuauflage von Hans Falladas Widerstandsroman "Jeder stirbt für sich allein" einen Weltbestseller. Diesen Erfolg versucht der von der Aufbau-Gruppe eigens und exklusiv für ein jugendliches Lesepublikum gegründete Metrolit Verlag nun offenbar mit Haffners Buch, das unter dem griffigeren Titel "Blutsbrüder" erscheint, zu wiederholen. Das könnte schwierig werden, nicht nur, weil jener Expresszug, auf dessen Waggonachse der Heimzögling Willi bei Haffner als blinder Passagier von Köln nach Berlin reist, längst nicht mehr fährt. Das größere Problem ist der Blick, den Haffner auf all die Züge, Kneipen, Kaschemmen, Edelbordelle, Lauben und Wärmehallen wirft, in denen seine Bandengeschichte spielt. Es ist nicht nur der Blick des mitfühlenden, mitleidenden Zeugen. Es ist auch, oft genug, der Blick eines Rechthabers.
Denn Haffners Buch hat ein klares Feindbild. Nicht die Polizei, nicht den Staat, auch nicht die Weimarer Parteien, von denen nie die Rede ist - sondern den bürgerlichen "Amüsiermob" mit seinem "Kurfürstendammgeschmack", der sich im Kintopp an Melodramen aus der Berliner Unterwelt berauscht, an "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen mit brandrot loderndem Wuschelkopf" und anderem.
Wie es scheint, hat der Autor Slatan Dudows "Kuhle Wampe" noch nicht gesehen, der im Mai 1932 in den Kinos anläuft, und er kennt auch Piel Jutzis Verfilmung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Heinrich George aus dem Vorjahr nicht. Dafür liest sich seine Beschreibung eines Nachtklubs in Wilmersdorf wie ein Drehbuchauszug zu Bob Fosses "Cabaret"-Film aus den siebziger Jahren: "Rot glüht die Wandbespannung, rot die weichen Teppiche ... Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch." Auch Haffner gibt gern dem Affen Zucker, wenn es in sein Schwarzweißbild der Berliner Klassengesellschaft passt.
Beides, der Rundumschlag gegen das Ufa-Kino und die zum Roman ausge-backene Sozialreportage, gefällt Siegfried Kracauer, dem Berliner Kulturkorrespondenten der "Frankfurter Zeitung", der im Oktober 1932 eine hymnische Kritik zu Haffners Buch im Literaturblatt der "FZ" veröffentlicht. Es spiegle "unbekannte Zustände naturgetreu wider" und führe den Leser "zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth", lobt Kracauer, der selbst lieber von den Cafés am Kurfürstendamm aus die soziale und politische Notlage beschreibt. Im selben Text und mit ähnlichen Worten bespricht er auch Albert Lamms autobiographischen Roman "Betrogene Jugend", der in einem Heim für jugendliche Erwerbslose spielt. Lamms Buch wurde bereits im vergangenen Jahr in einem Berliner Kleinstverlag wiederaufgelegt. Offenbar gibt es ein neues Bedürfnis nach historischer Asphaltliteratur, wenigstens in der deutschen Verlagsbranche.
Und Haffners Roman scheint die ideale Antwort auf diesen Bedarf. Denn er moralisiert und polemisiert nicht nur, er erzählt nicht nur in stakkatohaftem Präsens von Jonny, Willi, Ulli und all den anderen, sondern er kennt sich auch richtig gut aus im Berlin seiner Zeit. Man könnte eine historische Stadttour einrichten zu all den Schauplätzen, an denen "Blutsbrüder" spielt, dem "Schmidt" in der Linienstraße, dem "Mexico" am Alexanderplatz, dem Tageskino "Pritzkow" und der "Alexanderquelle" in der Münzstraße. Wenn es sie noch gäbe. Aber sie sind ebenso verschwunden wie jener jüdische Händler in der Grenadierstraße, bei dem sich die Clique falsche Papiere besorgt. Und deshalb liest man Haffners Buch mit jenem wohligen Schauder, mit dem man etwa einen wiederentdeckten Stummfilm betrachtet. Es schreit, aber in Schwarzweiß. Es tut nicht weh.
ANDREAS KILB
Ernst Haffner:
"Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman".
Metrolit Verlag, Berlin 2013. 260 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
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