„Eine Sensation.“ Der Tagesspiegel „Berlin, Berlin … Der Name klingt ihm wie Musik. Als ob ausgerechnet in Berlin ein gedeckter Tisch und ein weiches Bett auf Willi Kludas warten.“ Anfang der 1930er Jahre lebten in Berlin und anderen deutschen Großstädten infolge der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse tausende Jugendliche auf der Straße. Sie verdingten sich als Tagelöhner und Laufburschen, aber häufig führte ihr Weg sie auch in die Kriminalität oder Prostitution. Zuflucht und ein wenig Sicherheit und soziale Wärme fanden sie in selbstorganisierten Gruppen. In stillgelegten Fabrikbaracken traf man sich, trank, tanzte und vergaß für einen Augenblick das Elend, das einen täglich umgab. Poetisch und mit einem tieftraurigen Realismus folgt Ernst Haffner der Jugendbande „Blutsbrüder“, lässt den Leser teilhaben an ihrem oft grausamen Überlebenskampf und schildert den unbändigen Freiheitswillen der Jugendlichen. „Ein sensationelles Buch.“ NZZ „Ein Moment der Stadtgeschichte, das selten mit einer solchen Intensität dargestellt worden ist.“ Berliner Zeitung „Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen.“ Süddeutsche Zeitung „Temporeich, voller Mutterwitz und Empathie.“ Die Zeit
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2013Willi und die verlorenen Jungs
Eine Wiederentdeckung: Ernst Haffners Berlin-Roman „Blutsbrüder“ aus dem Jahr 1932
An seinem zwanzigsten Geburtstag wird Willi Kludas geohrfeigt. Er will das nicht auf sich sitzen lassen. Die Demütigungsroutinen in der Erziehungsanstalt – Fürsorge durch Erniedrigung – haben seinen Stolz noch nicht brechen können. Rache wird zum Vorschein der Freiheit. Gemeinsam mit seinen besten Freunden lockt er den Verhasstesten der Erzieher in den nächtlichen Schlafsaal, wirft ihm ein Laken über und vermöbelt ihn. Klar, dass er nun türmen muss, nachts über die Mauer der Erziehungsanstalt, raus auf die Landstraße, rasch in den nächsten Ort, ein paar Zigaretten kaufen und dann rauf auf einen Güterwaggon. Willi will nach Berlin, da kennt er einen, der ihm helfen könnte.
Doch es ist der falsche Zug, als es hell wird, ist Willi kurz vor Köln. Er muss wieder weg, wenn er nicht vor Hunger krepieren oder sich der Polizei stellen will. Zu seinem Glück trifft er Franz, einen älteren „Stromer aus Passion“. Der weiß, wie einer schnell und ohne Geld nach Berlin kommt. Man muss nur unter einen D-Zug-Wagen und sich auf die Achsen hocken. Wer einschläft, fällt herunter und ist tot. Wer Pech hat, wird von einem hochgeschleuderten Schotterstein getroffen und ist tot.
Wenn die Kälte in die Knochen kriecht, wenn Arme und Beine erstarren, verliert man leicht den Halt. Willi aber riskiert es. Hat er denn eine Wahl? „Wenn sie dich jetzt schnappen, liegst du in einer Stunde auf irgendeiner Gefängnispritsche. Nicht gerade verlockend, aber . . . in einer Stunde kannst du auch schon, wenn sie dich hier nicht kriegen, ein zerfetzter Fleischklumpen sein.“ Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen. Er hockt mit Willi auf den Achsen, friert mit ihm, zittert, fürchtet die Steine, hofft, dass der Zug anhalten möge oder doch lieber schneller rasen, damit es bald geschafft ist, aber doch lieber nicht so schnell, dann pfeift der Wind unerbittlich und Willi kann sich kaum noch halten.
Die Fahrt glückt, in Berlin findet Willi Anschluss an die Clique der Blutsbrüder, eine von Hunderten, in denen entlaufene Zöglinge, geprügelte Kinder, obdachlose Jugendliche unter der Führung eines „Bullen“ ihr Überleben organisieren, das bisschen Essen, einen Platz zum Schlafen, etwas Wärme. Die Clique gibt Halt, aber nur um den Preis wachsender Gefahr zunehmender Verrohung. Im Grunde hockt Willi immer auf den Achsen unter einem Eisenbahnwagen: unerwünscht, ungesehen, ohne Wahl, auf der Flucht, in schneidendem Wind. Jeden Augenblick kann das Leben vorbei sein.
Der Roman über die Clique der Blutsbrüder, über Willi Kludas und die Schicksale seiner Kameraden, entwurzelter, von der Fürsorgebürokratie wie der Polizei verfolgter Jugendlicher, erschien 1932 unter dem Titel „Jugend auf der Landstraße Berlin“ im noblen Verlag Bruno Cassirer. Unter den Nazis zu den „schädlichen und unerwünschten Büchern“ gezählt, war der Roman seitdem, seit gut achtzig Jahren, weitgehend vergessen. Nur wenige Studien zur Literatur der Weimarer Republik verzeichneten den Titel. Im jungen Berliner Verlag für Popkultur und Urbanes, bei Metrolit, ist er jetzt mit einem Vorwort von Peter Graf wieder erschienen.
Über den Verfasser, Ernst Haffner, ist so gut wie nichts bekannt. Wir besitzen kein Foto, kennen nicht einmal die Lebensdaten. Recherchen in Archiven blieben ergebnislos. Siegfried Kracauer, der hellsichtigste Soziologe der Weimarer Republik, schrieb in einer sehr wohlwollenden, lobenden Rezension des Romans, Haffner habe sich „als Journalist lang zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof umhergetrieben“. Seine Schilderungen beruhen also „auf eigener Anschauung“. Der aufmerksame Leser Kracauer vermied die Authentizitätsfalle. Er dankte Haffner, dass dieser sich nicht „mit unzusammenhängenden Wirklichkeitsausschnitten“ begnügt, sondern das Erlebte „auf den Nenner einer Fabel gebracht“ habe, „die uns zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth führt“.
Haffner erzählt eine spannende, geschickt komponierte, jederzeit gut zu verfilmende Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins. Dabei bedient er durchaus voyeuristische Lüste. Es spricht für ihn, dass er das weiß, dass er die Freude der höheren Schichten an exotisch anmutenden Geschichten über Sex und Kriminalität in Rechnung stellt. „Unterwelt ist Mode“, schreibt er und spottet bitter über die Filme aus dem Milieu, mit „Edelganoven, die nur in Frack und Lack einbrechen gehen“, mit „Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen“.
Wann immer Haffner die Not der Jungen, ihren erzwungenen Zusammenhalt, ihre rohe Männlichkeit, Hunger, Verrat und Angst beschreibt, ist er weit entfernt davon, das Elend für den „Amüsiermob“ aufzubereiten. Fast keusch beschreibt er eine Geburtstagsorgie, sechzehn Jungen und eine Prostituierte von „reichlich vierzig Jahren“: „Nach einer Stunde hat sie ihre zehn Mark verdient . . . Die Altarkerze beleuchtet ein trauriges Bild.“
Wenn es Willi und seinen Freund Ludwig dann in die Stricherkneipen des Berliner Westens verschlägt – der Leser vermutet Christopher Isherwood in einer Ecke –, zahlt aber auch Haffner seinen Tribut ans Klischee. „Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch. . . . Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen.“ Nun gut, die Sätze sind der Lektüre zuzuschreiben, nicht der Beobachtung. So genau der Roman sonst das Bild der Stadt skizziert, so vage, bengalisch illuminiert bleibt er hier.
Ernst Haffner lässt die Blutsbrüder zu Ganoven werden, Willi und Ludwig aber entziehen sich der Gruppe, machen sich in der Neuköllner Ziethenstraße selbständig – immer in Furcht vor der Polizei. Sie kaufen den Leuten alte Schuhe ab, bessern diese aus, putzen und wienern sie und verkaufen sie an Händler. Das Geschäft läuft gut, bis sie verraten werden und Willi ins Gefängnis muss für die Rache an dem verhassten Erzieher, eine Tat, die er auch vor Gericht nicht bereut. Es kommt der Tag der Freilassung ins endlose, unbarmherzige Berlin. Willi und Ludwig sind zwei, die im „Elendsheer der Großstadtvagabunden“ nicht untergegangen sind. Berlin 1932. Der Leser heute weiß, was vor ihnen liegt: das „Dritte Reich“ und der Krieg.
JENS BISKY
Ernst Haffner : Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Metrolit Verlag, Berlin 2013. 264 Seiten, 19,99 Euro.
Gut achtzig Jahre war dieser
spannende Reportage-Roman
vergessen
„Berlin, dieses endlose, unbarmherzige Berlin kann man nicht allein bewältigen“: Jugendliche Arbeitslose, 1929.
FOTO: SCHERL
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Wiederentdeckung: Ernst Haffners Berlin-Roman „Blutsbrüder“ aus dem Jahr 1932
An seinem zwanzigsten Geburtstag wird Willi Kludas geohrfeigt. Er will das nicht auf sich sitzen lassen. Die Demütigungsroutinen in der Erziehungsanstalt – Fürsorge durch Erniedrigung – haben seinen Stolz noch nicht brechen können. Rache wird zum Vorschein der Freiheit. Gemeinsam mit seinen besten Freunden lockt er den Verhasstesten der Erzieher in den nächtlichen Schlafsaal, wirft ihm ein Laken über und vermöbelt ihn. Klar, dass er nun türmen muss, nachts über die Mauer der Erziehungsanstalt, raus auf die Landstraße, rasch in den nächsten Ort, ein paar Zigaretten kaufen und dann rauf auf einen Güterwaggon. Willi will nach Berlin, da kennt er einen, der ihm helfen könnte.
Doch es ist der falsche Zug, als es hell wird, ist Willi kurz vor Köln. Er muss wieder weg, wenn er nicht vor Hunger krepieren oder sich der Polizei stellen will. Zu seinem Glück trifft er Franz, einen älteren „Stromer aus Passion“. Der weiß, wie einer schnell und ohne Geld nach Berlin kommt. Man muss nur unter einen D-Zug-Wagen und sich auf die Achsen hocken. Wer einschläft, fällt herunter und ist tot. Wer Pech hat, wird von einem hochgeschleuderten Schotterstein getroffen und ist tot.
Wenn die Kälte in die Knochen kriecht, wenn Arme und Beine erstarren, verliert man leicht den Halt. Willi aber riskiert es. Hat er denn eine Wahl? „Wenn sie dich jetzt schnappen, liegst du in einer Stunde auf irgendeiner Gefängnispritsche. Nicht gerade verlockend, aber . . . in einer Stunde kannst du auch schon, wenn sie dich hier nicht kriegen, ein zerfetzter Fleischklumpen sein.“ Die Schilderung dieses Abenteuers wird kein Leser so rasch wieder vergessen. Er hockt mit Willi auf den Achsen, friert mit ihm, zittert, fürchtet die Steine, hofft, dass der Zug anhalten möge oder doch lieber schneller rasen, damit es bald geschafft ist, aber doch lieber nicht so schnell, dann pfeift der Wind unerbittlich und Willi kann sich kaum noch halten.
Die Fahrt glückt, in Berlin findet Willi Anschluss an die Clique der Blutsbrüder, eine von Hunderten, in denen entlaufene Zöglinge, geprügelte Kinder, obdachlose Jugendliche unter der Führung eines „Bullen“ ihr Überleben organisieren, das bisschen Essen, einen Platz zum Schlafen, etwas Wärme. Die Clique gibt Halt, aber nur um den Preis wachsender Gefahr zunehmender Verrohung. Im Grunde hockt Willi immer auf den Achsen unter einem Eisenbahnwagen: unerwünscht, ungesehen, ohne Wahl, auf der Flucht, in schneidendem Wind. Jeden Augenblick kann das Leben vorbei sein.
Der Roman über die Clique der Blutsbrüder, über Willi Kludas und die Schicksale seiner Kameraden, entwurzelter, von der Fürsorgebürokratie wie der Polizei verfolgter Jugendlicher, erschien 1932 unter dem Titel „Jugend auf der Landstraße Berlin“ im noblen Verlag Bruno Cassirer. Unter den Nazis zu den „schädlichen und unerwünschten Büchern“ gezählt, war der Roman seitdem, seit gut achtzig Jahren, weitgehend vergessen. Nur wenige Studien zur Literatur der Weimarer Republik verzeichneten den Titel. Im jungen Berliner Verlag für Popkultur und Urbanes, bei Metrolit, ist er jetzt mit einem Vorwort von Peter Graf wieder erschienen.
Über den Verfasser, Ernst Haffner, ist so gut wie nichts bekannt. Wir besitzen kein Foto, kennen nicht einmal die Lebensdaten. Recherchen in Archiven blieben ergebnislos. Siegfried Kracauer, der hellsichtigste Soziologe der Weimarer Republik, schrieb in einer sehr wohlwollenden, lobenden Rezension des Romans, Haffner habe sich „als Journalist lang zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Bahnhof umhergetrieben“. Seine Schilderungen beruhen also „auf eigener Anschauung“. Der aufmerksame Leser Kracauer vermied die Authentizitätsfalle. Er dankte Haffner, dass dieser sich nicht „mit unzusammenhängenden Wirklichkeitsausschnitten“ begnügt, sondern das Erlebte „auf den Nenner einer Fabel gebracht“ habe, „die uns zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth führt“.
Haffner erzählt eine spannende, geschickt komponierte, jederzeit gut zu verfilmende Geschichte aus der Elends- und Halbwelt Berlins. Dabei bedient er durchaus voyeuristische Lüste. Es spricht für ihn, dass er das weiß, dass er die Freude der höheren Schichten an exotisch anmutenden Geschichten über Sex und Kriminalität in Rechnung stellt. „Unterwelt ist Mode“, schreibt er und spottet bitter über die Filme aus dem Milieu, mit „Edelganoven, die nur in Frack und Lack einbrechen gehen“, mit „Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen“.
Wann immer Haffner die Not der Jungen, ihren erzwungenen Zusammenhalt, ihre rohe Männlichkeit, Hunger, Verrat und Angst beschreibt, ist er weit entfernt davon, das Elend für den „Amüsiermob“ aufzubereiten. Fast keusch beschreibt er eine Geburtstagsorgie, sechzehn Jungen und eine Prostituierte von „reichlich vierzig Jahren“: „Nach einer Stunde hat sie ihre zehn Mark verdient . . . Die Altarkerze beleuchtet ein trauriges Bild.“
Wenn es Willi und seinen Freund Ludwig dann in die Stricherkneipen des Berliner Westens verschlägt – der Leser vermutet Christopher Isherwood in einer Ecke –, zahlt aber auch Haffner seinen Tribut ans Klischee. „Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch. . . . Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen.“ Nun gut, die Sätze sind der Lektüre zuzuschreiben, nicht der Beobachtung. So genau der Roman sonst das Bild der Stadt skizziert, so vage, bengalisch illuminiert bleibt er hier.
Ernst Haffner lässt die Blutsbrüder zu Ganoven werden, Willi und Ludwig aber entziehen sich der Gruppe, machen sich in der Neuköllner Ziethenstraße selbständig – immer in Furcht vor der Polizei. Sie kaufen den Leuten alte Schuhe ab, bessern diese aus, putzen und wienern sie und verkaufen sie an Händler. Das Geschäft läuft gut, bis sie verraten werden und Willi ins Gefängnis muss für die Rache an dem verhassten Erzieher, eine Tat, die er auch vor Gericht nicht bereut. Es kommt der Tag der Freilassung ins endlose, unbarmherzige Berlin. Willi und Ludwig sind zwei, die im „Elendsheer der Großstadtvagabunden“ nicht untergegangen sind. Berlin 1932. Der Leser heute weiß, was vor ihnen liegt: das „Dritte Reich“ und der Krieg.
JENS BISKY
Ernst Haffner : Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Metrolit Verlag, Berlin 2013. 264 Seiten, 19,99 Euro.
Gut achtzig Jahre war dieser
spannende Reportage-Roman
vergessen
„Berlin, dieses endlose, unbarmherzige Berlin kann man nicht allein bewältigen“: Jugendliche Arbeitslose, 1929.
FOTO: SCHERL
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2013Gegen den Geschmack des Kurfürstendamms
Die verlorene Jugend von Berlin: Ernst Haffners Romanreportage "Blutsbrüder" von 1932
Den 21. Geburtstag eines Cliquenfreundes feiern die "Blutsbrüder" in einer Laube auf dem Brachland an der Berliner Koloniestraße. Hier, heißt es, habe der Freund seine "Heimat": eine "Gegend wie geschaffen zum laut- und spurlosen Verschwinden". Die Feiernden sitzen auf Kartoffelsäcken zwischen Schnaps- und Weinflaschen, auf einer Apfelsinenkiste brennt eine Altarkerze, dazu plärrt ein Grammophon. Man isst Blockschokolade, dann erzählt Ulli, "der nunmehr Mündige", von seinem Kampf mit der Polizei, dem Jugendamt, den Erziehungsanstalten. "Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich." Vor der Gartenhütte gibt es Krawall: Zwei feindliche Cliquenmitglieder wollen die Festgesellschaft stören. Sie werden niedergeboxt, dann fließt wieder der Fusel, schließlich besorgt sich die Runde eine Prostituierte "von reichlich vierzig Jahren". Nach einer Stunde hat sie zehn Mark verdient. Die Laube wird still. Nur die Altarkerze brennt noch, sie "beleuchtet ein trauriges Bild ...".
Ernst Haffners Roman "Jugend auf der Landstraße Berlin" wollte 1932 diese Altarkerze sein: ein Licht, das auf die Zustände in Deutschland auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, der politischen Kämpfe, der zivilen Zerrüttung fiel. Und zugleich wollte er ein spannender Insider-Bericht aus der Jugendbandenszene der Hauptstadt sein, ein Reißer, wie man damals sagte, ein Zeitbuch. Deshalb gehen ständig zwei Tonlagen, zwei Perspektiven in Haffners Geschichte durcheinander, hier Reportage, da Moritat, hier Kerze, da Glühlampe. "Ist es Renommiersucht, diese Gier nach dem Alkohol?", fragt der Erzähler mitten in der Schilderung des Gelages in der Laube. Ein paar Seiten später, als einer seiner Helden in die städtische Wärmehalle in der Ackerstraße geht, wendet er sich wieder an den Leser: "Gibt es Trostloseres als diese Wärmehalle im ausrangierten Straßenbahnschuppen?" Ganz sicher, aber nicht hier.
Und auch nicht im Deutschland des Jahres 1932. Wenige Monate später aber kam Hitler an die Macht, dann folgten die Bücherverbrennung, die Rassenpolitik, die Konzentrationslager, der Weltkrieg, und in diesem Strudel verschwand mit dem Milieu, von dem Ernst Haffner berichtet, auch sein Buch selbst. Und auch der Autor ging der Literatur verloren, bis 1933 arbeitete er als Sozialarbeiter und Journalist, danach wird er noch einmal zur Reichsschrifttumskammer zitiert, anschließend erlischt seine Spur. Es gab viele nicht nur jüdische Künstler der Weimarer Republik, die dieses Schicksal des Vergessenwerdens erlitten, und es gab andere, die sich, wie die Filmregisseure Piel Jutzi und Walter Ruttmann, "umdrehen" und für die Propaganda der Nazis missbrauchen ließen. Ernst Haffner gehörte nicht dazu.
In den vergangenen zwölf Jahren hatte der Aufbau-Verlag mit der Neuauflage von Hans Falladas Widerstandsroman "Jeder stirbt für sich allein" einen Weltbestseller. Diesen Erfolg versucht der von der Aufbau-Gruppe eigens und exklusiv für ein jugendliches Lesepublikum gegründete Metrolit Verlag nun offenbar mit Haffners Buch, das unter dem griffigeren Titel "Blutsbrüder" erscheint, zu wiederholen. Das könnte schwierig werden, nicht nur, weil jener Expresszug, auf dessen Waggonachse der Heimzögling Willi bei Haffner als blinder Passagier von Köln nach Berlin reist, längst nicht mehr fährt. Das größere Problem ist der Blick, den Haffner auf all die Züge, Kneipen, Kaschemmen, Edelbordelle, Lauben und Wärmehallen wirft, in denen seine Bandengeschichte spielt. Es ist nicht nur der Blick des mitfühlenden, mitleidenden Zeugen. Es ist auch, oft genug, der Blick eines Rechthabers.
Denn Haffners Buch hat ein klares Feindbild. Nicht die Polizei, nicht den Staat, auch nicht die Weimarer Parteien, von denen nie die Rede ist - sondern den bürgerlichen "Amüsiermob" mit seinem "Kurfürstendammgeschmack", der sich im Kintopp an Melodramen aus der Berliner Unterwelt berauscht, an "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen mit brandrot loderndem Wuschelkopf" und anderem.
Wie es scheint, hat der Autor Slatan Dudows "Kuhle Wampe" noch nicht gesehen, der im Mai 1932 in den Kinos anläuft, und er kennt auch Piel Jutzis Verfilmung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Heinrich George aus dem Vorjahr nicht. Dafür liest sich seine Beschreibung eines Nachtklubs in Wilmersdorf wie ein Drehbuchauszug zu Bob Fosses "Cabaret"-Film aus den siebziger Jahren: "Rot glüht die Wandbespannung, rot die weichen Teppiche ... Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch." Auch Haffner gibt gern dem Affen Zucker, wenn es in sein Schwarzweißbild der Berliner Klassengesellschaft passt.
Beides, der Rundumschlag gegen das Ufa-Kino und die zum Roman ausge-backene Sozialreportage, gefällt Siegfried Kracauer, dem Berliner Kulturkorrespondenten der "Frankfurter Zeitung", der im Oktober 1932 eine hymnische Kritik zu Haffners Buch im Literaturblatt der "FZ" veröffentlicht. Es spiegle "unbekannte Zustände naturgetreu wider" und führe den Leser "zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth", lobt Kracauer, der selbst lieber von den Cafés am Kurfürstendamm aus die soziale und politische Notlage beschreibt. Im selben Text und mit ähnlichen Worten bespricht er auch Albert Lamms autobiographischen Roman "Betrogene Jugend", der in einem Heim für jugendliche Erwerbslose spielt. Lamms Buch wurde bereits im vergangenen Jahr in einem Berliner Kleinstverlag wiederaufgelegt. Offenbar gibt es ein neues Bedürfnis nach historischer Asphaltliteratur, wenigstens in der deutschen Verlagsbranche.
Und Haffners Roman scheint die ideale Antwort auf diesen Bedarf. Denn er moralisiert und polemisiert nicht nur, er erzählt nicht nur in stakkatohaftem Präsens von Jonny, Willi, Ulli und all den anderen, sondern er kennt sich auch richtig gut aus im Berlin seiner Zeit. Man könnte eine historische Stadttour einrichten zu all den Schauplätzen, an denen "Blutsbrüder" spielt, dem "Schmidt" in der Linienstraße, dem "Mexico" am Alexanderplatz, dem Tageskino "Pritzkow" und der "Alexanderquelle" in der Münzstraße. Wenn es sie noch gäbe. Aber sie sind ebenso verschwunden wie jener jüdische Händler in der Grenadierstraße, bei dem sich die Clique falsche Papiere besorgt. Und deshalb liest man Haffners Buch mit jenem wohligen Schauder, mit dem man etwa einen wiederentdeckten Stummfilm betrachtet. Es schreit, aber in Schwarzweiß. Es tut nicht weh.
ANDREAS KILB
Ernst Haffner:
"Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman".
Metrolit Verlag, Berlin 2013. 260 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die verlorene Jugend von Berlin: Ernst Haffners Romanreportage "Blutsbrüder" von 1932
Den 21. Geburtstag eines Cliquenfreundes feiern die "Blutsbrüder" in einer Laube auf dem Brachland an der Berliner Koloniestraße. Hier, heißt es, habe der Freund seine "Heimat": eine "Gegend wie geschaffen zum laut- und spurlosen Verschwinden". Die Feiernden sitzen auf Kartoffelsäcken zwischen Schnaps- und Weinflaschen, auf einer Apfelsinenkiste brennt eine Altarkerze, dazu plärrt ein Grammophon. Man isst Blockschokolade, dann erzählt Ulli, "der nunmehr Mündige", von seinem Kampf mit der Polizei, dem Jugendamt, den Erziehungsanstalten. "Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich." Vor der Gartenhütte gibt es Krawall: Zwei feindliche Cliquenmitglieder wollen die Festgesellschaft stören. Sie werden niedergeboxt, dann fließt wieder der Fusel, schließlich besorgt sich die Runde eine Prostituierte "von reichlich vierzig Jahren". Nach einer Stunde hat sie zehn Mark verdient. Die Laube wird still. Nur die Altarkerze brennt noch, sie "beleuchtet ein trauriges Bild ...".
Ernst Haffners Roman "Jugend auf der Landstraße Berlin" wollte 1932 diese Altarkerze sein: ein Licht, das auf die Zustände in Deutschland auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, der politischen Kämpfe, der zivilen Zerrüttung fiel. Und zugleich wollte er ein spannender Insider-Bericht aus der Jugendbandenszene der Hauptstadt sein, ein Reißer, wie man damals sagte, ein Zeitbuch. Deshalb gehen ständig zwei Tonlagen, zwei Perspektiven in Haffners Geschichte durcheinander, hier Reportage, da Moritat, hier Kerze, da Glühlampe. "Ist es Renommiersucht, diese Gier nach dem Alkohol?", fragt der Erzähler mitten in der Schilderung des Gelages in der Laube. Ein paar Seiten später, als einer seiner Helden in die städtische Wärmehalle in der Ackerstraße geht, wendet er sich wieder an den Leser: "Gibt es Trostloseres als diese Wärmehalle im ausrangierten Straßenbahnschuppen?" Ganz sicher, aber nicht hier.
Und auch nicht im Deutschland des Jahres 1932. Wenige Monate später aber kam Hitler an die Macht, dann folgten die Bücherverbrennung, die Rassenpolitik, die Konzentrationslager, der Weltkrieg, und in diesem Strudel verschwand mit dem Milieu, von dem Ernst Haffner berichtet, auch sein Buch selbst. Und auch der Autor ging der Literatur verloren, bis 1933 arbeitete er als Sozialarbeiter und Journalist, danach wird er noch einmal zur Reichsschrifttumskammer zitiert, anschließend erlischt seine Spur. Es gab viele nicht nur jüdische Künstler der Weimarer Republik, die dieses Schicksal des Vergessenwerdens erlitten, und es gab andere, die sich, wie die Filmregisseure Piel Jutzi und Walter Ruttmann, "umdrehen" und für die Propaganda der Nazis missbrauchen ließen. Ernst Haffner gehörte nicht dazu.
In den vergangenen zwölf Jahren hatte der Aufbau-Verlag mit der Neuauflage von Hans Falladas Widerstandsroman "Jeder stirbt für sich allein" einen Weltbestseller. Diesen Erfolg versucht der von der Aufbau-Gruppe eigens und exklusiv für ein jugendliches Lesepublikum gegründete Metrolit Verlag nun offenbar mit Haffners Buch, das unter dem griffigeren Titel "Blutsbrüder" erscheint, zu wiederholen. Das könnte schwierig werden, nicht nur, weil jener Expresszug, auf dessen Waggonachse der Heimzögling Willi bei Haffner als blinder Passagier von Köln nach Berlin reist, längst nicht mehr fährt. Das größere Problem ist der Blick, den Haffner auf all die Züge, Kneipen, Kaschemmen, Edelbordelle, Lauben und Wärmehallen wirft, in denen seine Bandengeschichte spielt. Es ist nicht nur der Blick des mitfühlenden, mitleidenden Zeugen. Es ist auch, oft genug, der Blick eines Rechthabers.
Denn Haffners Buch hat ein klares Feindbild. Nicht die Polizei, nicht den Staat, auch nicht die Weimarer Parteien, von denen nie die Rede ist - sondern den bürgerlichen "Amüsiermob" mit seinem "Kurfürstendammgeschmack", der sich im Kintopp an Melodramen aus der Berliner Unterwelt berauscht, an "Apachentänzen, Schmalztollenganoven, rassigen Zwei-Mark-Nuttchen mit brandrot loderndem Wuschelkopf" und anderem.
Wie es scheint, hat der Autor Slatan Dudows "Kuhle Wampe" noch nicht gesehen, der im Mai 1932 in den Kinos anläuft, und er kennt auch Piel Jutzis Verfilmung von Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Heinrich George aus dem Vorjahr nicht. Dafür liest sich seine Beschreibung eines Nachtklubs in Wilmersdorf wie ein Drehbuchauszug zu Bob Fosses "Cabaret"-Film aus den siebziger Jahren: "Rot glüht die Wandbespannung, rot die weichen Teppiche ... Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch." Auch Haffner gibt gern dem Affen Zucker, wenn es in sein Schwarzweißbild der Berliner Klassengesellschaft passt.
Beides, der Rundumschlag gegen das Ufa-Kino und die zum Roman ausge-backene Sozialreportage, gefällt Siegfried Kracauer, dem Berliner Kulturkorrespondenten der "Frankfurter Zeitung", der im Oktober 1932 eine hymnische Kritik zu Haffners Buch im Literaturblatt der "FZ" veröffentlicht. Es spiegle "unbekannte Zustände naturgetreu wider" und führe den Leser "zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth", lobt Kracauer, der selbst lieber von den Cafés am Kurfürstendamm aus die soziale und politische Notlage beschreibt. Im selben Text und mit ähnlichen Worten bespricht er auch Albert Lamms autobiographischen Roman "Betrogene Jugend", der in einem Heim für jugendliche Erwerbslose spielt. Lamms Buch wurde bereits im vergangenen Jahr in einem Berliner Kleinstverlag wiederaufgelegt. Offenbar gibt es ein neues Bedürfnis nach historischer Asphaltliteratur, wenigstens in der deutschen Verlagsbranche.
Und Haffners Roman scheint die ideale Antwort auf diesen Bedarf. Denn er moralisiert und polemisiert nicht nur, er erzählt nicht nur in stakkatohaftem Präsens von Jonny, Willi, Ulli und all den anderen, sondern er kennt sich auch richtig gut aus im Berlin seiner Zeit. Man könnte eine historische Stadttour einrichten zu all den Schauplätzen, an denen "Blutsbrüder" spielt, dem "Schmidt" in der Linienstraße, dem "Mexico" am Alexanderplatz, dem Tageskino "Pritzkow" und der "Alexanderquelle" in der Münzstraße. Wenn es sie noch gäbe. Aber sie sind ebenso verschwunden wie jener jüdische Händler in der Grenadierstraße, bei dem sich die Clique falsche Papiere besorgt. Und deshalb liest man Haffners Buch mit jenem wohligen Schauder, mit dem man etwa einen wiederentdeckten Stummfilm betrachtet. Es schreit, aber in Schwarzweiß. Es tut nicht weh.
ANDREAS KILB
Ernst Haffner:
"Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman".
Metrolit Verlag, Berlin 2013. 260 S., Abb., geb., 19,99 [Euro].
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