Der Berliner Schriftsteller Hans Christoph Buch hat sich einen Essay zum 70. Geburtstag am 13. April 2014 geschenkt: Eine virtuelle Poetikvorlesung und zugleich ein wenig bekanntes Kapitel der Literaturgeschichte. Von Sindbad und Wilhelm Hauff über Heinrich Heine und Richard Wagner bis zu Franz Kafka und Thomas Mann reicht das Seemanns- garn, das der Autor spinnt. Und weiter von B. Traven über H. M. Enzensberger und Peter Weiss zu Günter Grass: Der Beweis dafür, dass Boat People nicht nur im englischen Sprachraum vorkommen - wie bei Poe, Melville und Joseph Conrad -, sondern dass es auch in der deutschen Literatur eine Flotte steuerlos herumirrender Geister- und Totenschiffe gibt: Eine Tradition, die H.C. Buch, selbst ein großer Reisender vor dem Herrn, aus nachvollziehbaren Gründen fasziniert.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Pünktlich zum siebzigsten Geburtstag Hans Christoph Buchs erscheinen seine Berner Poetikvorlesungen, in denen er das Motiv des steuerlosen Totenschiffs in der Literaturgeschichte verfolgt und mit dem Schicksal heutiger Flüchtlinge vergleicht, denen in verschiedenen Häfen die Landung verwehrt wird, berichtet Cornelius Wüllenkemper. Der Rezensent zählt anlässlich des Jubiläums auch gleich noch ein paar ältere Bücher Buchs auf, darunter "Haiti Chérie", "Der Burgwart der Wartburg", und erinnert an "Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod", das erst letztes Jahr erschienen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2014Chronist der Gestrandeten
Zum 70. Geburtstag von Hans Christoph Buch erscheint der Band „Boat People“
„Wie viel müssen wir Ihnen zahlen, damit Sie endlich aufhören, über Tahiti zu schreiben?“ Siegfried Unseld, der 1984 Hans Christoph Buchs Roman „Die Hochzeit von Port-au-Prince“ veröffentlichte, legte mit seiner ironischen Frage die Lunte an das Fundament des Autors. Buchs Großvater hatte sich im Karibikstaat Haiti – und nicht, wie Unseld irrtümlich behauptet, auf der Insel im Südpazifik – als Apotheker niedergelassen und mit einer Kreolin eine Familie gegründet. Als sein 1944 in Wetzlar geborener Enkel den Inselstaat ein halbes Jahrhundert später erstmals besuchte, fand er dort den entscheidenden Anstoß für seine literarische Laufbahn.
Die „Casa Buch“ in Haiti existiert nach dem Tod der letzten direkten Verwandten nicht mehr, und auch die Apotheke des Großvaters ist im verheerenden Erdbeben von 2010 zerstört worden. Die Konstanten von Buchs Essays, Romanen und zahlreichen Reise- und Kriegsberichten gehen dabei bis heute auf die Erlebnisse im Land seiner Vorfahren zurück: unsagbares menschliches Elend und lebenshungriger Optimismus, eine zwischen Phantasie und Wirklichkeit mystisch aufgeladene Weltbetrachtung und die brennende Aufmerksamkeit für das, was Leid mit Menschen macht.
Vom Schicksal gebeutelte Figuren stehen auch im Mittelpunkt seiner gerade erschienenen Essaysammlung „Boat People – Literatur als Geisterschiff“. Der promovierte Literaturwissenschaftler Buch spiegelt in diesen „Berner Poetikvorlesungen“ das höchst reale Elend von Armutsflüchtlingen und Asylsuchenden, die an den Küsten Südeuropas stranden oder im Meer ertrinken, in berühmten oder auch vergessenen Helden der Literaturgeschichte.
Ausgangspunkt ist die in Wilhelm Hauffs Märchenalmanach von 1825 enthaltene „Geschichte von dem Gespensterschiff“ über das Schicksal eines jungen Kaufmanns, der auf dem Weg nach Indien in Seenot gerät und sich auf ein Geisterschiff rettet. Als das Schiff unbeschadet im Hafen einläuft, befreit sich der Kaufmann mithilfe eines Zaubers vom Bann, den ihm die untote Mannschaft auferlegt hat, verkauft die Schiffsladung und kehrt reich und glücklich in die Heimat zurück.
Wie Buch in sieben Essays zeigt, geistert das Motiv des steuerlos umhertreibenden Totenschiffs, des Daseins zwischen Leben und Tod seit Homers „Odyssee“ bis zu Hans Martin Enzensbergers „Untergang der Titanic“ durch die Literaturgeschichte.
Im 1926 erschienenen Erfolgsroman „Das Totenschiff“ von B. Traven ist der Ich-Erzähler Gales ein amerikanischer Seemann, der nach einem Landurlaub sein Schiff verpasst. Ohne Identitätsnachweis irrt er als Staatenloser durch ganz Europa. Seine Irrfahrt nimmt für Buch das Schicksal heutiger Boat People vorweg, denen man in den Häfen Amerikas und Europas die Landung verwehrt. In Jens Rehns Roman „Nichts in Sicht“ (1954) entdeckt Buch dasselbe literarische Motiv bei zwei schiffbrüchigen Soldaten, die nach einem verlorenen Seegefecht im Schlauchboot steuerlos über den Ozean treiben. So zeigt Buch, von Sindbad aus 1001 Nacht über Franz Kafkas „Jäger Gracchus“ bis hin zu Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ über den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff , wie Literatur reale oder fiktive Flüchtlingsschicksale erlebbar macht.
Als Krisenreporter in Tschetschenien, Bosnien, Algerien, am Hindukusch, im Sudan, in Kambodscha, Liberia oder Ruanda, in politisch-historischen Essays und Romanen hat Buch immer wieder Genregrenzen überschritten. Dass er in Erinnerungen, literarischer Fiktion und Erlebnisberichten die subjektive Wahrheit hinter den faktischen Geschehnissen aufspüren will, hat man ihm oft vorgeworfen. Als er 1963 mit gerade einmal 19 Jahren auf einer Tagung der Gruppe 47 einen Text vortrug, bemängelten Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki, dass Buchs Schilderung einer archäologischen Ausgrabung „nichts zu Tage befördere“, während der Philosoph Ernst Bloch ihn als ein „Relikt spätbürgerlicher Dekadenz“ bezeichnete. Die Theoretiker der Studentenrevolte dagegen vermissten in Buchs Erzählband „Unerhörte Begebenheiten“ (1966) das politische Engagement.
Als er in den Siebzigerjahren für die „neue Sensibilität“, also die historisch-politische Analyse aufgrund subjektiver Wahrnehmung plädierte, warf man ihm reaktionäre Geschichtsklitterung vor. Unlängst klagte Buch, er habe sich von der deutschen Literaturkritik stets „gemobbt“ gefühlt.
Mitte der Achtzigerjahre begann er, als Journalist über das Elend der Kriege in aller Welt zu schreiben und veröffentlichte seine erste Reportage über den Sturz der blutigen Diktatur in Haiti unter Papa Doc in der Süddeutschen Zeitung . „Als ich mich Jahre später dabei ertappte, dass ich enttäuscht war, wenn kein Blut floss, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück, weil die Gewalt einen Sog erzeugt, der zur Sucht werden kann“, sagte Buch vor wenigen Wochen auf einer Berliner Tagung über die Erzählbarkeit von Krieg. Seitdem versucht er, in Romanen wie „Haiti Chérie“ (1990), „Der Burgwart der Wartburg“ (1994) über Denunziantentum in der DDR, oder „Reise um die Welt in acht Nächten“ (2009) in einem „literarischen Experiment etwas über den Zustand der Welt herauszufinden“.
Der autobiografische Roman „Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod“ (2013) ist von der Spannung zwischen märchenhafter Phantastik, politischer Reportage und kritischer Reflexion geprägt. Von der Klosterschule in Südfrankreich über die Besichtigung der Reste der „Casa-Buch“ in Haiti folgt man dem Erzähler auf einer fiktiven Reise durch sein Leben, die am Ende den Tod nicht ausspart. Und in seiner Erzählung „Nolde und Ich. Ein Südseetraum“ (2013) reiste Buch auf den Spuren des Malers nach Papa-Neuguinea und versuchte in einer halb-dokumentarischen Fiktion Noldes widersprüchliche Seelenwelt zu erkunden. Als zeitgleich neue Dokumente über die Anbiederung Noldes an die Nationalsozialisten auftauchten, wurde ihm – ungeachtet der literarischen Form seiner Erzählung – einmal mehr „Geschichtsfälschung“ vorgeworfen.
Hans Christoph Buch, dessen Romane in der Karibik als illegale Übersetzungen kursieren, bezeichnet sich gern als „frankophonen Schriftsteller“. Anfang des Jahres besuchte er die Robinson-Insel Juan Fernández im Südpazifik und arbeitet derzeit an einer neuen Version des Robinson-Crusoe-Romans. An diesem Sonntag wird der reisende Schriftsteller, literarische Reporter, Seelenerkunder, Chronist menschlicher Befindlichkeiten, politische Kommentator und Geschichtenerzähler siebzig Jahre alt.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Hans Christoph Buch: Boat People. Literatur als Geisterschiff. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 122 Seiten, 17,90 Euro.
Buch spiegelt das Schicksal
der realen Flüchtlinge in der
Literaturgeschichte
Seine erste Reportage schrieb
Buch über den Sturz des
Diktators „Baby Doc“ in Haiti
Hans Christoph Buch auf einer seiner vielen Reisen in die nicht-europäische Welt.
Foto: saro Mudmen, Fv a
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Zum 70. Geburtstag von Hans Christoph Buch erscheint der Band „Boat People“
„Wie viel müssen wir Ihnen zahlen, damit Sie endlich aufhören, über Tahiti zu schreiben?“ Siegfried Unseld, der 1984 Hans Christoph Buchs Roman „Die Hochzeit von Port-au-Prince“ veröffentlichte, legte mit seiner ironischen Frage die Lunte an das Fundament des Autors. Buchs Großvater hatte sich im Karibikstaat Haiti – und nicht, wie Unseld irrtümlich behauptet, auf der Insel im Südpazifik – als Apotheker niedergelassen und mit einer Kreolin eine Familie gegründet. Als sein 1944 in Wetzlar geborener Enkel den Inselstaat ein halbes Jahrhundert später erstmals besuchte, fand er dort den entscheidenden Anstoß für seine literarische Laufbahn.
Die „Casa Buch“ in Haiti existiert nach dem Tod der letzten direkten Verwandten nicht mehr, und auch die Apotheke des Großvaters ist im verheerenden Erdbeben von 2010 zerstört worden. Die Konstanten von Buchs Essays, Romanen und zahlreichen Reise- und Kriegsberichten gehen dabei bis heute auf die Erlebnisse im Land seiner Vorfahren zurück: unsagbares menschliches Elend und lebenshungriger Optimismus, eine zwischen Phantasie und Wirklichkeit mystisch aufgeladene Weltbetrachtung und die brennende Aufmerksamkeit für das, was Leid mit Menschen macht.
Vom Schicksal gebeutelte Figuren stehen auch im Mittelpunkt seiner gerade erschienenen Essaysammlung „Boat People – Literatur als Geisterschiff“. Der promovierte Literaturwissenschaftler Buch spiegelt in diesen „Berner Poetikvorlesungen“ das höchst reale Elend von Armutsflüchtlingen und Asylsuchenden, die an den Küsten Südeuropas stranden oder im Meer ertrinken, in berühmten oder auch vergessenen Helden der Literaturgeschichte.
Ausgangspunkt ist die in Wilhelm Hauffs Märchenalmanach von 1825 enthaltene „Geschichte von dem Gespensterschiff“ über das Schicksal eines jungen Kaufmanns, der auf dem Weg nach Indien in Seenot gerät und sich auf ein Geisterschiff rettet. Als das Schiff unbeschadet im Hafen einläuft, befreit sich der Kaufmann mithilfe eines Zaubers vom Bann, den ihm die untote Mannschaft auferlegt hat, verkauft die Schiffsladung und kehrt reich und glücklich in die Heimat zurück.
Wie Buch in sieben Essays zeigt, geistert das Motiv des steuerlos umhertreibenden Totenschiffs, des Daseins zwischen Leben und Tod seit Homers „Odyssee“ bis zu Hans Martin Enzensbergers „Untergang der Titanic“ durch die Literaturgeschichte.
Im 1926 erschienenen Erfolgsroman „Das Totenschiff“ von B. Traven ist der Ich-Erzähler Gales ein amerikanischer Seemann, der nach einem Landurlaub sein Schiff verpasst. Ohne Identitätsnachweis irrt er als Staatenloser durch ganz Europa. Seine Irrfahrt nimmt für Buch das Schicksal heutiger Boat People vorweg, denen man in den Häfen Amerikas und Europas die Landung verwehrt. In Jens Rehns Roman „Nichts in Sicht“ (1954) entdeckt Buch dasselbe literarische Motiv bei zwei schiffbrüchigen Soldaten, die nach einem verlorenen Seegefecht im Schlauchboot steuerlos über den Ozean treiben. So zeigt Buch, von Sindbad aus 1001 Nacht über Franz Kafkas „Jäger Gracchus“ bis hin zu Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ über den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff , wie Literatur reale oder fiktive Flüchtlingsschicksale erlebbar macht.
Als Krisenreporter in Tschetschenien, Bosnien, Algerien, am Hindukusch, im Sudan, in Kambodscha, Liberia oder Ruanda, in politisch-historischen Essays und Romanen hat Buch immer wieder Genregrenzen überschritten. Dass er in Erinnerungen, literarischer Fiktion und Erlebnisberichten die subjektive Wahrheit hinter den faktischen Geschehnissen aufspüren will, hat man ihm oft vorgeworfen. Als er 1963 mit gerade einmal 19 Jahren auf einer Tagung der Gruppe 47 einen Text vortrug, bemängelten Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki, dass Buchs Schilderung einer archäologischen Ausgrabung „nichts zu Tage befördere“, während der Philosoph Ernst Bloch ihn als ein „Relikt spätbürgerlicher Dekadenz“ bezeichnete. Die Theoretiker der Studentenrevolte dagegen vermissten in Buchs Erzählband „Unerhörte Begebenheiten“ (1966) das politische Engagement.
Als er in den Siebzigerjahren für die „neue Sensibilität“, also die historisch-politische Analyse aufgrund subjektiver Wahrnehmung plädierte, warf man ihm reaktionäre Geschichtsklitterung vor. Unlängst klagte Buch, er habe sich von der deutschen Literaturkritik stets „gemobbt“ gefühlt.
Mitte der Achtzigerjahre begann er, als Journalist über das Elend der Kriege in aller Welt zu schreiben und veröffentlichte seine erste Reportage über den Sturz der blutigen Diktatur in Haiti unter Papa Doc in der Süddeutschen Zeitung . „Als ich mich Jahre später dabei ertappte, dass ich enttäuscht war, wenn kein Blut floss, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück, weil die Gewalt einen Sog erzeugt, der zur Sucht werden kann“, sagte Buch vor wenigen Wochen auf einer Berliner Tagung über die Erzählbarkeit von Krieg. Seitdem versucht er, in Romanen wie „Haiti Chérie“ (1990), „Der Burgwart der Wartburg“ (1994) über Denunziantentum in der DDR, oder „Reise um die Welt in acht Nächten“ (2009) in einem „literarischen Experiment etwas über den Zustand der Welt herauszufinden“.
Der autobiografische Roman „Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod“ (2013) ist von der Spannung zwischen märchenhafter Phantastik, politischer Reportage und kritischer Reflexion geprägt. Von der Klosterschule in Südfrankreich über die Besichtigung der Reste der „Casa-Buch“ in Haiti folgt man dem Erzähler auf einer fiktiven Reise durch sein Leben, die am Ende den Tod nicht ausspart. Und in seiner Erzählung „Nolde und Ich. Ein Südseetraum“ (2013) reiste Buch auf den Spuren des Malers nach Papa-Neuguinea und versuchte in einer halb-dokumentarischen Fiktion Noldes widersprüchliche Seelenwelt zu erkunden. Als zeitgleich neue Dokumente über die Anbiederung Noldes an die Nationalsozialisten auftauchten, wurde ihm – ungeachtet der literarischen Form seiner Erzählung – einmal mehr „Geschichtsfälschung“ vorgeworfen.
Hans Christoph Buch, dessen Romane in der Karibik als illegale Übersetzungen kursieren, bezeichnet sich gern als „frankophonen Schriftsteller“. Anfang des Jahres besuchte er die Robinson-Insel Juan Fernández im Südpazifik und arbeitet derzeit an einer neuen Version des Robinson-Crusoe-Romans. An diesem Sonntag wird der reisende Schriftsteller, literarische Reporter, Seelenerkunder, Chronist menschlicher Befindlichkeiten, politische Kommentator und Geschichtenerzähler siebzig Jahre alt.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Hans Christoph Buch: Boat People. Literatur als Geisterschiff. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014. 122 Seiten, 17,90 Euro.
Buch spiegelt das Schicksal
der realen Flüchtlinge in der
Literaturgeschichte
Seine erste Reportage schrieb
Buch über den Sturz des
Diktators „Baby Doc“ in Haiti
Hans Christoph Buch auf einer seiner vielen Reisen in die nicht-europäische Welt.
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