Wir sind uralt und brandneu Die fünfzehnjährige Sylvia, schüchtern und zugleich mutig und rebellisch, zieht aus Newcastle ins wilde Northumberland und fühlt sich fremd in der riesigen, scheinbar leeren Landschaft. Aber dann trifft sie Gabriel, einen seltsam vertrauten Jungen. Als sie gemeinsam durch die Wälder und Fjells streifen, sieht sie die Natur mit neuen Augen. Unter einem grenzenlosen Sternenhimmel verbindet sie sich intensiv mit der uralten Vorzeit - überall um sie herum ist die Vergangenheit und steckt zugleich tief in ihr selbst. Aus dem Flügel eines toten Bussards stellen die beiden eine Knochenflöte her, jene Art von Instrument, mit dem einst die erste Musik der Menschheit erklang. Und Sylvia entdeckt, was es wirklich bedeutet, in der heutigen Welt jung zu sein. Ein Buch, das die Menschlichkeit feiert und den tiefen Verbindungen zwischen uns und der Natur nachspürt. Atemberaubende Schilderungen einer magischen, einzigartigen Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2022Der Raum ist in alle Richtungen offen
Ein toter Raubvogel verändert Sylvias Welt für immer: In "Bone Music" schickt David Almond ein Mädchen in die Natur.
Von Lena Bopp
Die Mutter möchte eine Auszeit, das Kind muss mit: So einfach ist die Ausgangslage in "Bone Music", dem neuen Buch von David Almond. Die Mutter, die auch in der deutschen Übersetzung von Alexandra Ernst meist nur liebevoll "Mum" genannt wird, packt ihre Malsachen ein und bricht nach Northumberland auf, wo sie in einem winzigen Dorf geboren wurde. Dort möchte sie, ja, was eigentlich? Und was soll ihre Tochter Sylvia, die sich mit ihren fünfzehn Jahren Spannenderes vorstellen kann als ein Kaff, das aus zwei Reihen mit Holzhäusern besteht, was soll Sylvia in Northumberland machen? Sie nimmt es gelassen: "Ich mache, was man hier machen kann, Mum. Ich öffne die Tür, gehe hinaus in die Leere, dann drehe ich um und komme wieder rein."
Doch daraus wird nichts. Denn natürlich erweist sich die Leere als hochkomplexe Angelegenheit. Sylvia kehrt nicht einfach zurück, sondern sie kehrt als ein Mädchen zurück, das sich auf ein Abenteuer eingelassen hat, und dieses Abenteuer hat ebenso mit der Orientierung in einem neuen, fremden Gebiet zu tun wie vor allem mit ihrer Haltung dazu. Es wäre eine naheliegende Möglichkeit, sich vor der Natur, dem Dorf und seinen Bewohnern, dem fünfundneunzig Jahre alten Andreas Müller, dem kleinen Colin und seinem Bruder Gabriel, zu verschließen. Alles hinterwäldlerisch zu finden. Aber Sylvia entscheidet sich anders. Sie zieht die Leinenschuhe aus und die neuen Wanderschuhe an, sie versucht, dem Grashalm zwischen ihren Händen einen Ton zu entlocken, und lässt sich von dem alten Andreas einen Stein schenken, mit dem die Menschen hier vor Jahrtausenden die Felle der Tiere säuberten, die sie erlegt hatten.
Auf diese Weise gerät der Aufenthalt in Northumberland zu einer Reise durch Raum und Zeit. Eine gewisse Mystik zieht in das Geschehen, das deutlich die Handschrift Almonds trägt, der in vielen seiner gut zwanzig Kinder- und Jugendbücher die Schwelle zwischen Realität und Fantasie überschreitet, oder besser: der diese Schwelle zu seinem Thema macht. Almond, geboren 1951, öffnet auch in "Bone Music" einen Raum zum Unerklärlichen und zu Dingen, die seine Heldin eher fühlt als weiß, wobei sie zur Heldin macht, dass sie diesen Gefühlen vertraut. Sylvia lässt sich von einer Musik leiten, die sie in ihrer ersten Nacht in Northumberland hört. Es ist ein Flötenton, der eine Saite in ihr zum Klingen bringt, die sie erst kennenlernen muss und die sie in Verbindung nicht nur mit der Vergangenheit des Dorfes, sondern auch mit seiner Natur bringt. Sylvia, die in Newcastle mit ihren Freunden für Klimaschutz demonstriert, lernt in Northumberland den Ruf des Brachvogels kennen. Sie versteht den Kreislauf von Vergehen und Entstehen und macht sich auf dem Höhepunkt dieser Neuverortung nachts allein auf den Weg in den Wald. Und als sie morgens aus ihm zurückkehrt, hat sie zum ersten Mal nicht einen, sondern einen ihr entsprechenden Platz gefunden in der Welt.
Die Familie bietet für die Abenteuer der Protagonistin nur eine Art von Rahmen, der alles andere als perfekt ist. Sylvias Vater ist ein Kriegsfotograf. Ihre Mutter ist hin- und hergerissen, was diese Abwesenheit für sie bedeutet. Zu ihrer besten Freundin hat Sylvia kaum Kontakt, weil das Handynetz in Northumberland so schlecht ist. Und der Junge, Gabriel, dem sie im Dorf begegnet, entwickelt sich im Lauf des Geschehens zwar zu einem echten Gefährten, an dessen Seite sie einen toten Raubvogel entdeckt, aus dessen Knochen sie eine Flöte schnitzt, die wie jene klingt, deren Ton sie in der allerersten Nacht hörte.
Die beiden lachen viel und führen Gespräche, deren Pathos man ihnen angesichts ihrer Jugend gern verzeihen möchte. Doch auch Gabriel bleibt letztlich eine Figur, deren Funktion vor allem darin liegt, Sylvia einen Weg frei zu machen. Ob sie sich wiedersehen? Weiß man nicht. Ob Sylvia eine virtuose Flötenspielerin wird? Wird man sehen. Gewiss ist nur, und darin liegt die Kraft ihrer Geschichte, dass der Raum für sie in alle Richtungen offen steht.
David Almond: "Bone Music". Roman
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022. 213 S., geb., 18,- Euro. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein toter Raubvogel verändert Sylvias Welt für immer: In "Bone Music" schickt David Almond ein Mädchen in die Natur.
Von Lena Bopp
Die Mutter möchte eine Auszeit, das Kind muss mit: So einfach ist die Ausgangslage in "Bone Music", dem neuen Buch von David Almond. Die Mutter, die auch in der deutschen Übersetzung von Alexandra Ernst meist nur liebevoll "Mum" genannt wird, packt ihre Malsachen ein und bricht nach Northumberland auf, wo sie in einem winzigen Dorf geboren wurde. Dort möchte sie, ja, was eigentlich? Und was soll ihre Tochter Sylvia, die sich mit ihren fünfzehn Jahren Spannenderes vorstellen kann als ein Kaff, das aus zwei Reihen mit Holzhäusern besteht, was soll Sylvia in Northumberland machen? Sie nimmt es gelassen: "Ich mache, was man hier machen kann, Mum. Ich öffne die Tür, gehe hinaus in die Leere, dann drehe ich um und komme wieder rein."
Doch daraus wird nichts. Denn natürlich erweist sich die Leere als hochkomplexe Angelegenheit. Sylvia kehrt nicht einfach zurück, sondern sie kehrt als ein Mädchen zurück, das sich auf ein Abenteuer eingelassen hat, und dieses Abenteuer hat ebenso mit der Orientierung in einem neuen, fremden Gebiet zu tun wie vor allem mit ihrer Haltung dazu. Es wäre eine naheliegende Möglichkeit, sich vor der Natur, dem Dorf und seinen Bewohnern, dem fünfundneunzig Jahre alten Andreas Müller, dem kleinen Colin und seinem Bruder Gabriel, zu verschließen. Alles hinterwäldlerisch zu finden. Aber Sylvia entscheidet sich anders. Sie zieht die Leinenschuhe aus und die neuen Wanderschuhe an, sie versucht, dem Grashalm zwischen ihren Händen einen Ton zu entlocken, und lässt sich von dem alten Andreas einen Stein schenken, mit dem die Menschen hier vor Jahrtausenden die Felle der Tiere säuberten, die sie erlegt hatten.
Auf diese Weise gerät der Aufenthalt in Northumberland zu einer Reise durch Raum und Zeit. Eine gewisse Mystik zieht in das Geschehen, das deutlich die Handschrift Almonds trägt, der in vielen seiner gut zwanzig Kinder- und Jugendbücher die Schwelle zwischen Realität und Fantasie überschreitet, oder besser: der diese Schwelle zu seinem Thema macht. Almond, geboren 1951, öffnet auch in "Bone Music" einen Raum zum Unerklärlichen und zu Dingen, die seine Heldin eher fühlt als weiß, wobei sie zur Heldin macht, dass sie diesen Gefühlen vertraut. Sylvia lässt sich von einer Musik leiten, die sie in ihrer ersten Nacht in Northumberland hört. Es ist ein Flötenton, der eine Saite in ihr zum Klingen bringt, die sie erst kennenlernen muss und die sie in Verbindung nicht nur mit der Vergangenheit des Dorfes, sondern auch mit seiner Natur bringt. Sylvia, die in Newcastle mit ihren Freunden für Klimaschutz demonstriert, lernt in Northumberland den Ruf des Brachvogels kennen. Sie versteht den Kreislauf von Vergehen und Entstehen und macht sich auf dem Höhepunkt dieser Neuverortung nachts allein auf den Weg in den Wald. Und als sie morgens aus ihm zurückkehrt, hat sie zum ersten Mal nicht einen, sondern einen ihr entsprechenden Platz gefunden in der Welt.
Die Familie bietet für die Abenteuer der Protagonistin nur eine Art von Rahmen, der alles andere als perfekt ist. Sylvias Vater ist ein Kriegsfotograf. Ihre Mutter ist hin- und hergerissen, was diese Abwesenheit für sie bedeutet. Zu ihrer besten Freundin hat Sylvia kaum Kontakt, weil das Handynetz in Northumberland so schlecht ist. Und der Junge, Gabriel, dem sie im Dorf begegnet, entwickelt sich im Lauf des Geschehens zwar zu einem echten Gefährten, an dessen Seite sie einen toten Raubvogel entdeckt, aus dessen Knochen sie eine Flöte schnitzt, die wie jene klingt, deren Ton sie in der allerersten Nacht hörte.
Die beiden lachen viel und führen Gespräche, deren Pathos man ihnen angesichts ihrer Jugend gern verzeihen möchte. Doch auch Gabriel bleibt letztlich eine Figur, deren Funktion vor allem darin liegt, Sylvia einen Weg frei zu machen. Ob sie sich wiedersehen? Weiß man nicht. Ob Sylvia eine virtuose Flötenspielerin wird? Wird man sehen. Gewiss ist nur, und darin liegt die Kraft ihrer Geschichte, dass der Raum für sie in alle Richtungen offen steht.
David Almond: "Bone Music". Roman
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022. 213 S., geb., 18,- Euro. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit David Almonds neuem Jugendroman entdeckt Rezensent Michael Schmitt eine andere, realistischere Seite des Autors. In dieser Geschichte begleitet die junge Sylvia ihre Mutter in ein im Wald gelegenes Dorf. Nach erster Bestürzung über geringe Telefonnetzausstattung beginnt die Protagonistin sich mit ihrer Umgebung zu beschäftigen, lernt von der Natur und den Geschichten der EinwohnerInnen und entwickelt ein neues Gefühl der Zugehörigkeit, resümiert der Rezensent. Wenn Almonds die Handlung mit "kurzen, suggestiven Sätzen" beschleunigt und einige Erfahrungen des Teenagers überspitzt "feiert", gibt sich der Rezensent diesem Rausch gern hin und verliert sich bisweilen darin. Das Bewusstsein für die Realität verliert er allerdings nie, denn der Autor schaffe, ohne zu verklären, am Ende klare Bezüge zur gegenwärtigen jungen Generation und ihrem Kampf für eine klimagerechtere Welt, lobt Schmitt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Flöten aus der Steinzeit
Eine Auszeit für Sylvia – mit schamanistischen Erfahrungen
David Almond hält sich in seinen Geschichten für junge Leserinnen und Leser nicht mit Erklärungen auf, sondern konfrontiert sie ganz selbstverständlich mit Erlebnissen, die ihre Alltagserfahrungen überschreiten. Mit einem seltsamen Vogelwesen in dem Erfolgsroman „Skellig“ aus dem Jahr 1998 oder jüngst in „Ein finster heller Tag“ mit der Wiederkehr von Verstorbenen. Seine Heldinnen und Helden lässt er daran wachsen, beschreibt das aber nicht als Reihung von Ursache und Wirkung, sondern als Folge einer Fülle von rätselhaften Eindrücken, für die den Charakteren oft zunächst noch die Sprache fehlt, um sie zu fassen. Almond sprengt auch gerne vorgegebene Muster des Erzählens, löst Romane auf in locker verbundene Tagebuchnotizen, wie etwa in „Mina“ – gemeinsam ist seinen Geschichten dabei jedoch fast immer die Verortung in jenem nordöstlichen Teil von England, in dem er selbst aufgewachsen ist, und eine überschaubare Lebenswelt, die an die Fünfziger- oder Sechzigerjahre erinnert.
In seinem neuen Roman „Bone Music“ verhält es sich nun aber anders. Mit der Geschichte der fünfzehnjährigen Sylvia, die gemeinsam mit ihrer Mutter eine Auszeit von zwei Wochen in einem Dorf tief im Wald von Northumberland verbringen soll, schreibt David Almond sich ungewohnt nah an die Gegenwart einer aktuell weltweit protestierenden Jugend heran und mobilisiert dafür die fünftausendjährige Geschichte einer Landschaft als Reservoir von Kraft und Inspiration. Denn Sylvia, die am Anfang verzweifelt ist, weil sie noch nicht einmal ein Netz findet, um per Smartphone mit ihren Freundinnen und Freunden im fünfzig Meilen entfernten Newcastle Kontakt zu halten, wird im Verlauf des Romans sozusagen initiiert, wird sich ihrer Zugehörigkeit zu einer langen Tradition menschlicher Geschichte bewusst, verschmilzt mit Landschaft, mit Natur, und nicht zuletzt auch mit den Menschen, die dort leben, zu einer für sie neuen Zugehörigkeit.
Es sind schamanistische Erfahrungen, die sie durchläuft; aber die beruhen nicht auf dem Konsum von geeigneten Rauschmitteln oder auf archaischen Ritualen, sondern auf lauter kleinen Einbrüchen von Geschichte oder Geschichten in Sylvias Bild von der Welt, in der sie lebt. Nahegebracht werden sie ihr von den Menschen im Ort, und das nicht als Gegenentwurf zur modernen Zeit, sondern als Bereicherung. Mal sind es die Erzählungen eines uralten Mannes, der in seiner Jugend freudig bei der Hitlerjugend mitmarschiert ist, dann als Kriegsgefangener nach England gekommen ist und sich seit Langem durch das Sammeln von steinzeitlichen Artefakten und durch das Leben im Dorf geheilt fühlt. Mal handelt es sich um die ungewöhnlichen, ebenso befremdlichen wie magischen Töne zierlicher Knochenflöten, die in diesem Roman eine Rolle spielen. Flöten, die aus dünnen Knochen geschnitzt und mit wenigen Grifflöchern versehen werden, Musikinstrumenten, die ebenfalls auf Steinzeitkulturen zurückverweisen und in diesem Dorf in Northumberland von einigen Menschen als Tradition gehütet und zuweilen über Generationen weitergegeben werden.
David Almond scheut sich nicht, in diesem Roman, den Alexandra Ernst übersetzt hat, manche dieser Erfahrungen in Worten und Bildern geradezu zu feiern oder fast schon wie einen Gesang zu überhöhen. In kurzen, suggestiven Sätzen treibt er die Handlung und Sylvias Wandlung voran – man kann sich beim Lesen diesem Strom von Eindrücken überlassen, sich vielleicht auch mal darin verlieren. Zur Verklärung eines zivilisationskritischen Geisterreichs aus Magie und rückwärtsgewandten Projektionen aber wird der Roman dabei nie, denn Almond führt die Geschichte am Ende zurück in die sehr reale Gegenwart einer jungen Generation, der möglicherweise noch mehr Kräfte zur Verfügung stehen als jene Formen des Aufstands, mit denen sie seit ein paar Jahren schon Aufsehen erregt hat. (ab 14 Jahre)
MICHAEL SCHMITT
Man kann sich beim
Lesen diesem
Strom von Eindrücken
überlassen, sich vielleicht
darin verlieren
David Almond:
Bone Music.
Aus dem Englischen
von Alexandra Ernst.
Freies Geistesleben 2022.
213 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Auszeit für Sylvia – mit schamanistischen Erfahrungen
David Almond hält sich in seinen Geschichten für junge Leserinnen und Leser nicht mit Erklärungen auf, sondern konfrontiert sie ganz selbstverständlich mit Erlebnissen, die ihre Alltagserfahrungen überschreiten. Mit einem seltsamen Vogelwesen in dem Erfolgsroman „Skellig“ aus dem Jahr 1998 oder jüngst in „Ein finster heller Tag“ mit der Wiederkehr von Verstorbenen. Seine Heldinnen und Helden lässt er daran wachsen, beschreibt das aber nicht als Reihung von Ursache und Wirkung, sondern als Folge einer Fülle von rätselhaften Eindrücken, für die den Charakteren oft zunächst noch die Sprache fehlt, um sie zu fassen. Almond sprengt auch gerne vorgegebene Muster des Erzählens, löst Romane auf in locker verbundene Tagebuchnotizen, wie etwa in „Mina“ – gemeinsam ist seinen Geschichten dabei jedoch fast immer die Verortung in jenem nordöstlichen Teil von England, in dem er selbst aufgewachsen ist, und eine überschaubare Lebenswelt, die an die Fünfziger- oder Sechzigerjahre erinnert.
In seinem neuen Roman „Bone Music“ verhält es sich nun aber anders. Mit der Geschichte der fünfzehnjährigen Sylvia, die gemeinsam mit ihrer Mutter eine Auszeit von zwei Wochen in einem Dorf tief im Wald von Northumberland verbringen soll, schreibt David Almond sich ungewohnt nah an die Gegenwart einer aktuell weltweit protestierenden Jugend heran und mobilisiert dafür die fünftausendjährige Geschichte einer Landschaft als Reservoir von Kraft und Inspiration. Denn Sylvia, die am Anfang verzweifelt ist, weil sie noch nicht einmal ein Netz findet, um per Smartphone mit ihren Freundinnen und Freunden im fünfzig Meilen entfernten Newcastle Kontakt zu halten, wird im Verlauf des Romans sozusagen initiiert, wird sich ihrer Zugehörigkeit zu einer langen Tradition menschlicher Geschichte bewusst, verschmilzt mit Landschaft, mit Natur, und nicht zuletzt auch mit den Menschen, die dort leben, zu einer für sie neuen Zugehörigkeit.
Es sind schamanistische Erfahrungen, die sie durchläuft; aber die beruhen nicht auf dem Konsum von geeigneten Rauschmitteln oder auf archaischen Ritualen, sondern auf lauter kleinen Einbrüchen von Geschichte oder Geschichten in Sylvias Bild von der Welt, in der sie lebt. Nahegebracht werden sie ihr von den Menschen im Ort, und das nicht als Gegenentwurf zur modernen Zeit, sondern als Bereicherung. Mal sind es die Erzählungen eines uralten Mannes, der in seiner Jugend freudig bei der Hitlerjugend mitmarschiert ist, dann als Kriegsgefangener nach England gekommen ist und sich seit Langem durch das Sammeln von steinzeitlichen Artefakten und durch das Leben im Dorf geheilt fühlt. Mal handelt es sich um die ungewöhnlichen, ebenso befremdlichen wie magischen Töne zierlicher Knochenflöten, die in diesem Roman eine Rolle spielen. Flöten, die aus dünnen Knochen geschnitzt und mit wenigen Grifflöchern versehen werden, Musikinstrumenten, die ebenfalls auf Steinzeitkulturen zurückverweisen und in diesem Dorf in Northumberland von einigen Menschen als Tradition gehütet und zuweilen über Generationen weitergegeben werden.
David Almond scheut sich nicht, in diesem Roman, den Alexandra Ernst übersetzt hat, manche dieser Erfahrungen in Worten und Bildern geradezu zu feiern oder fast schon wie einen Gesang zu überhöhen. In kurzen, suggestiven Sätzen treibt er die Handlung und Sylvias Wandlung voran – man kann sich beim Lesen diesem Strom von Eindrücken überlassen, sich vielleicht auch mal darin verlieren. Zur Verklärung eines zivilisationskritischen Geisterreichs aus Magie und rückwärtsgewandten Projektionen aber wird der Roman dabei nie, denn Almond führt die Geschichte am Ende zurück in die sehr reale Gegenwart einer jungen Generation, der möglicherweise noch mehr Kräfte zur Verfügung stehen als jene Formen des Aufstands, mit denen sie seit ein paar Jahren schon Aufsehen erregt hat. (ab 14 Jahre)
MICHAEL SCHMITT
Man kann sich beim
Lesen diesem
Strom von Eindrücken
überlassen, sich vielleicht
darin verlieren
David Almond:
Bone Music.
Aus dem Englischen
von Alexandra Ernst.
Freies Geistesleben 2022.
213 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de