Das Leben der beiden Schwestern könnte unterschiedlicher nicht sein: Adriana lebt prekär in Borgo Sud, dem heruntergekommenen Hafenviertel von Pescara, ihre Schwester lehrt an der Universität in Grenoble. Eines Tages erhält sie einen Anruf, dass Adriana, die Jüngere, die Wilde, nach einem Sturz vom Balkon lebensgefährlich verletzt auf der Intensivstation liegt. Der Anruf löst eine Flut von Erinnerungen aus: an die Nacht, in der Adriana mit einem Baby auf dem Arm vor ihrer Tür stand, an deren Liebe zum jungen Fischer Rafael, für den sie die Schule geschwänzt hat, mit dem sie nachts zum Fischen rausfährt, den sie verteidigt, egal in welche Schwierigkeiten er verwickelt ist. An die eigene Verlobung mit Piero und das Festessen, bei dem sie verkündet wurde. An ihre gescheiterte Ehe, weil Piero Männer liebt. In Borgo Sud scheinen alle zu wissen, dass Adriana keinen Unfall hatte, aber was wirklich geschehen ist, darüber schweigen sie. Mit der Weisheit und Selbstverständlichkeit großer Autoren beschenkt uns Donatella Di Pietrantonio mit einem Familienroman von großer Wärme, der noch lange nachklingt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Maike Albath ist nicht überzeugt von Donatella Di Pietrantoninos Versuch, mit einer Fortsetzung ihres Romans "Arminuta" in die Fußstapfen von Elena Ferrante zu treten. Zwar ist das Thema der "emotionalen Kosten" einer Generation für ihren Bildungsaufstieg ein dankbares, findet Albath. Doch der Text scheint ihr formal wie inhaltlich etwas unausgegoren. Der Autorin gelingt es laut Albath nicht nur nicht, die verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen glaubhaft zu verknüpfen, auch die Haltung der Ich-Erzählerin zu den Geschehnissen erscheint der Rezensentin instabil. Gelungen dagegen sind die Milieuschilderungen aus Pescara, wo das beschriebene Frauenschicksal seinen Anfang nimmt, findet Albath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2021Das Prinzip
der Serie
Donatella Di Pietrantonio setzt mit „Borgo Sud“
ihren Erfolgsroman über zwei Schwestern zwischen
Tradition und sozialem Aufstieg fort. Ganz sicher
scheint sie sich ihrer Sache nicht mehr zu sein
VON MAIKE ALBATH
Fortsetzungen sind so eine Sache. Lässt sich an die Intensität eines ersten Buches anknüpfen, mit demselben Personal und einem ähnlichen Milieu, nur in einer etwas anderen Zeit mit gealterten Helden? Es gibt Beispiele, bei denen dieses erzählerische Prinzip funktioniert. Karl Ove Knausgård mit seinen mäandernden autobiografischen Selbstzergliederungen quer durch die norwegische Gegenwart ist ein prominenter Fall, ebenso die spät berühmt gewordene Engländerin Jane Gardam mit ihrer Trilogie über den Anwalt in Hongkong, „Old Filth“. Auch Virginie Despentes gehört dazu, die mit ihrer dreiteiligen Reihe über den Pariser Plattenverkäufer Subutex die brutale Gentrifizierung und das neoliberale Frankreich in den Blick nahm. Und natürlich Elena Ferrante und ihre Neapel-Tetralogie, Psychogramm einer Freundschaft und Porträt eines Landes, in dem das Prinzip der Serie dramaturgisch bewusst ausgereizt wurde.
Es mag sein, dass die italienische Schriftstellerin Donatella Di Pietrantonio, Zahnärztin von Beruf und 2017 mit dem Roman „Arminuta“ berühmt geworden, genau diese Mehrteiler im Kopf hatte, als sie sich an einen zweiten Band machte. 1962 in den Abruzzen geboren, war sie keine Debütantin, sondern hatte bereits zwei schmale Bücher über ihre Heimatregion vorgelegt. „Arminuta“ wurde dann zum bestverkauften Buch des Jahres und auch im Ausland ein Erfolg.
Daran anzuknüpfen, musste verführerisch erscheinen, zumal sie ein sehr ungewöhnliches Thema verhandelt hatte. In dem Bestseller ging es um ein behütetes Mittelschichtsmädchen, das sich auf der Schwelle zur Pubertät plötzlich in ihrer bäuerlichen Ursprungsfamilie wiederfindet. „Arminuta“, was im Dialekt „die Zurückgekehrte“ bedeutet, war als Säugling zu einer kinderlosen, wohlhabenden Cousine gegeben worden, wovon sie nichts wusste. Nun muss sie den Verlust der sozialen Mutter ebenso verkraften wie die Tatsache, von der leiblichen im Stich gelassen worden zu sein. In ihrer Familie bleibt sie ein Fremdkörper, nur zu ihrer jüngeren Schwester Adriana findet sie Zugang. Schließlich schafft sie es, durch den Besuch des Gymnasiums dem Dorf wieder zu entkommen. Die Schwester nimmt sie gleich mit.
Diesen Faden nimmt Di Pietrantonio in ihrem neuen Roman „Borgo Sud“ auf. Die Ich-Erzählerin, eine vielversprechende Doktorandin der Literaturwissenschaften, steht Mitte der 1980er-Jahre kurz vor der Heirat mit einem Zahnarzt aus einer der besten Familien der Kleinstadt am Meer, hinter der unschwer Pescara zu erkennen ist. Es lag an der namenlosen jungen Frau und ihrer zähen Beständigkeit, dass ihr Verlobter Piero überhaupt seinen Abschluss schaffte. Voller Glück über die solide Schwiegertochter schenken die Eltern dem Paar eine Eigentumswohnung.
Dass ihre Herkunft wie Pech an ihr klebt, zeigt sich aber schon in der ersten Szene: Bei einem Examensfest für Piero geht mitten im Sommer ein Hagelsturm über der Tafel nieder, und die Heldin verletzt sich an einem Stück Dachrinne. Ihre Schwester Adriana, die zweite Hauptfigur des Romans, deutet den Unfall sofort als ein Zeichen. In einer archaischen Welt verhaftet, mit einem Fischer liiert und anders als die Erzählerin nicht in der Lage, einen sozialen Aufstieg zu bewältigen, sucht Adriana drei Jahre später bei ihr Unterschlupf, und zwar nicht allein: Mit Anfang zwanzig steht sie mit einem Baby vor der Tür.
Sie wirkt wie eine Getriebene. Wie sich nach einer Weile herausstellt, hat ihr Mann Rafael hohe Schulden, und seine Gläubiger bedrohen nun auch Adriana. Die ungleichen Schwestern sind eng verbunden, und im Unterschied zu der Älteren hat sich Adriana ihre Intuition bewahrt. Sie spürt, dass bei Piero etwas nicht in Ordnung ist. Auch wenn ihr Bildungsstatus der Erzählerin am Ende einen Ausweg ermöglicht hat, müssen beide jungen Frauen tiefe Brüche verkraften, was mit ihrer unsteten Mutter zusammenzuhängen scheint: Entweder verschlingt sie die Töchter durch übertriebene Nähe oder sie lässt sie im Stich. Bis zu ihrem Tod ändert sich nichts daran, und Adriana kann ihr die erlittene Ablehnung nicht einmal danach verzeihen.
Ähnlich wie in „Arminuta“ gibt es wieder ein Knäuel verworrener Familienbeziehungen und ambivalenter Bindungen, verquickt mit der Unfähigkeit, sich daraus zu befreien. Vielleicht um dieser Gefühlslava einen strukturierenden Rahmen zu geben, fügt Donatella Di Pietrantonio eine zweite Zeitebene ein: Die Ich-Erzählerin ist längst bestallte Professorin im französischen Grenoble und von ihrem Mann getrennt, als sie mitten im Unterricht über das Sekretariat ein Anruf erreicht, der etwas mit einem Unfall zu tun zu haben scheint. Sie tritt eine Zugreise von Frankreich in die Abruzzen an, erlebt eine durchwachte Nacht im Hotel in der Stadt, in der sie einst verheiratet war, und geht schließlich ins Krankenhaus. Um wen es überhaupt geht, stellt sich erst in der Mitte von „Borgo Sud“ heraus, und dann gewinnt auch die Handlung an Fahrt.
Der erste Teil des Romans ist weder auf formaler noch auf inhaltlicher Ebene in sich stimmig. Die Verknüpfungen zwischen den Erinnerungen an die ersten Ehejahre, Kindheitsbildern, nachgeschobenen Erläuterungen zu den Verwandtschaftsbeziehungen und Versatzstücken aus der kürzer zurückliegenden Vergangenheit in Frankreich zerfasern, und selbst starke Momente wirken merkwürdig ausgebremst, so als habe die Schriftstellerin, anders als in „Arminuta“, nicht auf ihren Stoff vertraut. Di Pietrantonios Ich-Erzählerin findet keine Haltung zu den Geschehnissen, sondern schwankt zwischen ihren Rollen als unmittelbare Beteiligte und reflektierende Beobachterin.
Das zeigt sich besonders deutlich in einer zentralen Szene, als die Mutter nach der Geburt des unehelichen Enkels sich mit Adriana prügelt und einen Fluch ausspricht. „Ich betrachtete sie mit einer unentwirrbaren Mischung aus Mitleid und Grauen“, heißt es, statt diese Stimmung erzählerisch zu vermitteln. Dadurch nimmt die Autorin der Geste ihre Wucht. Und dass die Ich-Erzählerin ein paar Sätze weiter sogar von „Aberglaube“ und „magischem Denken“ spricht, verwässert das Ganze weiter. In „Arminuta“ hatte Di Pietrantonio durch die Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung überzeugt. Das Abgründige ist in „Borgo Sud“ weniger spürbar, auch das Schwesternpaar ist längst nicht so fesselnd.
Immerhin nimmt die Ehegeschichte dann doch noch eine unerwartete Wendung. Hüten sollte man sich tunlichst vor der Lektüre des Klappentextes: Aus unerklärlichen Gründen werden dort sämtliche spannungstreibenden Elemente vorweggenommen. Die Schilderungen des armseligen Stadtteils, in dem die Fischer wohnen und wo Adriana beheimatet ist, sind ebenfalls gelungen. Ungeachtet der rasanten Industrialisierung gilt im Borgo Sud noch eine andere Vorstellung von Gemeinwohl. Allerdings reproduzieren diese solidarischen Gepflogenheiten auch die tradierten Machtverhältnisse, denen Frauen schutzlos ausgeliefert sind.
Auch deshalb ist Donatella Di Pietrantonio in Italien so erfolgreich: Wie Elena Ferrante benennt sie die emotionalen Kosten, die ihre Generation für den Bildungsaufstieg zahlen musste. Die Entfremdung von der eigenen Familie ist nicht mehr einzuholen. Mal sehen, ob Di Pietrantonio in einem dritten Band vom Schicksal des Neffen ihrer Heldin erzählt. Wie es um die Serientauglichkeit bestellt ist, bleibt abzuwarten.
Die Mutter verschlingt die
Töchter durch übertriebene Nähe
oder sie lässt sie im Stich
Wie Elena Ferrante benennt sie
die emotionalen Kosten
für den Bildungsaufstieg
Donatella Di
Pietrantonio: Borgo Sud. Roman. Aus dem
Italienischen von Maja Pflug. Kunstmann,
München 2021,
224 Seiten, 20 Euro.
Rasante Industrialisierung und traditionelle Bindungen beschreibt Donatella Di Pietrantonio in einer Stadt, die deutlich Pescara gleicht.
Foto: Valerio Mei/mauritius/ Alamy
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der Serie
Donatella Di Pietrantonio setzt mit „Borgo Sud“
ihren Erfolgsroman über zwei Schwestern zwischen
Tradition und sozialem Aufstieg fort. Ganz sicher
scheint sie sich ihrer Sache nicht mehr zu sein
VON MAIKE ALBATH
Fortsetzungen sind so eine Sache. Lässt sich an die Intensität eines ersten Buches anknüpfen, mit demselben Personal und einem ähnlichen Milieu, nur in einer etwas anderen Zeit mit gealterten Helden? Es gibt Beispiele, bei denen dieses erzählerische Prinzip funktioniert. Karl Ove Knausgård mit seinen mäandernden autobiografischen Selbstzergliederungen quer durch die norwegische Gegenwart ist ein prominenter Fall, ebenso die spät berühmt gewordene Engländerin Jane Gardam mit ihrer Trilogie über den Anwalt in Hongkong, „Old Filth“. Auch Virginie Despentes gehört dazu, die mit ihrer dreiteiligen Reihe über den Pariser Plattenverkäufer Subutex die brutale Gentrifizierung und das neoliberale Frankreich in den Blick nahm. Und natürlich Elena Ferrante und ihre Neapel-Tetralogie, Psychogramm einer Freundschaft und Porträt eines Landes, in dem das Prinzip der Serie dramaturgisch bewusst ausgereizt wurde.
Es mag sein, dass die italienische Schriftstellerin Donatella Di Pietrantonio, Zahnärztin von Beruf und 2017 mit dem Roman „Arminuta“ berühmt geworden, genau diese Mehrteiler im Kopf hatte, als sie sich an einen zweiten Band machte. 1962 in den Abruzzen geboren, war sie keine Debütantin, sondern hatte bereits zwei schmale Bücher über ihre Heimatregion vorgelegt. „Arminuta“ wurde dann zum bestverkauften Buch des Jahres und auch im Ausland ein Erfolg.
Daran anzuknüpfen, musste verführerisch erscheinen, zumal sie ein sehr ungewöhnliches Thema verhandelt hatte. In dem Bestseller ging es um ein behütetes Mittelschichtsmädchen, das sich auf der Schwelle zur Pubertät plötzlich in ihrer bäuerlichen Ursprungsfamilie wiederfindet. „Arminuta“, was im Dialekt „die Zurückgekehrte“ bedeutet, war als Säugling zu einer kinderlosen, wohlhabenden Cousine gegeben worden, wovon sie nichts wusste. Nun muss sie den Verlust der sozialen Mutter ebenso verkraften wie die Tatsache, von der leiblichen im Stich gelassen worden zu sein. In ihrer Familie bleibt sie ein Fremdkörper, nur zu ihrer jüngeren Schwester Adriana findet sie Zugang. Schließlich schafft sie es, durch den Besuch des Gymnasiums dem Dorf wieder zu entkommen. Die Schwester nimmt sie gleich mit.
Diesen Faden nimmt Di Pietrantonio in ihrem neuen Roman „Borgo Sud“ auf. Die Ich-Erzählerin, eine vielversprechende Doktorandin der Literaturwissenschaften, steht Mitte der 1980er-Jahre kurz vor der Heirat mit einem Zahnarzt aus einer der besten Familien der Kleinstadt am Meer, hinter der unschwer Pescara zu erkennen ist. Es lag an der namenlosen jungen Frau und ihrer zähen Beständigkeit, dass ihr Verlobter Piero überhaupt seinen Abschluss schaffte. Voller Glück über die solide Schwiegertochter schenken die Eltern dem Paar eine Eigentumswohnung.
Dass ihre Herkunft wie Pech an ihr klebt, zeigt sich aber schon in der ersten Szene: Bei einem Examensfest für Piero geht mitten im Sommer ein Hagelsturm über der Tafel nieder, und die Heldin verletzt sich an einem Stück Dachrinne. Ihre Schwester Adriana, die zweite Hauptfigur des Romans, deutet den Unfall sofort als ein Zeichen. In einer archaischen Welt verhaftet, mit einem Fischer liiert und anders als die Erzählerin nicht in der Lage, einen sozialen Aufstieg zu bewältigen, sucht Adriana drei Jahre später bei ihr Unterschlupf, und zwar nicht allein: Mit Anfang zwanzig steht sie mit einem Baby vor der Tür.
Sie wirkt wie eine Getriebene. Wie sich nach einer Weile herausstellt, hat ihr Mann Rafael hohe Schulden, und seine Gläubiger bedrohen nun auch Adriana. Die ungleichen Schwestern sind eng verbunden, und im Unterschied zu der Älteren hat sich Adriana ihre Intuition bewahrt. Sie spürt, dass bei Piero etwas nicht in Ordnung ist. Auch wenn ihr Bildungsstatus der Erzählerin am Ende einen Ausweg ermöglicht hat, müssen beide jungen Frauen tiefe Brüche verkraften, was mit ihrer unsteten Mutter zusammenzuhängen scheint: Entweder verschlingt sie die Töchter durch übertriebene Nähe oder sie lässt sie im Stich. Bis zu ihrem Tod ändert sich nichts daran, und Adriana kann ihr die erlittene Ablehnung nicht einmal danach verzeihen.
Ähnlich wie in „Arminuta“ gibt es wieder ein Knäuel verworrener Familienbeziehungen und ambivalenter Bindungen, verquickt mit der Unfähigkeit, sich daraus zu befreien. Vielleicht um dieser Gefühlslava einen strukturierenden Rahmen zu geben, fügt Donatella Di Pietrantonio eine zweite Zeitebene ein: Die Ich-Erzählerin ist längst bestallte Professorin im französischen Grenoble und von ihrem Mann getrennt, als sie mitten im Unterricht über das Sekretariat ein Anruf erreicht, der etwas mit einem Unfall zu tun zu haben scheint. Sie tritt eine Zugreise von Frankreich in die Abruzzen an, erlebt eine durchwachte Nacht im Hotel in der Stadt, in der sie einst verheiratet war, und geht schließlich ins Krankenhaus. Um wen es überhaupt geht, stellt sich erst in der Mitte von „Borgo Sud“ heraus, und dann gewinnt auch die Handlung an Fahrt.
Der erste Teil des Romans ist weder auf formaler noch auf inhaltlicher Ebene in sich stimmig. Die Verknüpfungen zwischen den Erinnerungen an die ersten Ehejahre, Kindheitsbildern, nachgeschobenen Erläuterungen zu den Verwandtschaftsbeziehungen und Versatzstücken aus der kürzer zurückliegenden Vergangenheit in Frankreich zerfasern, und selbst starke Momente wirken merkwürdig ausgebremst, so als habe die Schriftstellerin, anders als in „Arminuta“, nicht auf ihren Stoff vertraut. Di Pietrantonios Ich-Erzählerin findet keine Haltung zu den Geschehnissen, sondern schwankt zwischen ihren Rollen als unmittelbare Beteiligte und reflektierende Beobachterin.
Das zeigt sich besonders deutlich in einer zentralen Szene, als die Mutter nach der Geburt des unehelichen Enkels sich mit Adriana prügelt und einen Fluch ausspricht. „Ich betrachtete sie mit einer unentwirrbaren Mischung aus Mitleid und Grauen“, heißt es, statt diese Stimmung erzählerisch zu vermitteln. Dadurch nimmt die Autorin der Geste ihre Wucht. Und dass die Ich-Erzählerin ein paar Sätze weiter sogar von „Aberglaube“ und „magischem Denken“ spricht, verwässert das Ganze weiter. In „Arminuta“ hatte Di Pietrantonio durch die Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung überzeugt. Das Abgründige ist in „Borgo Sud“ weniger spürbar, auch das Schwesternpaar ist längst nicht so fesselnd.
Immerhin nimmt die Ehegeschichte dann doch noch eine unerwartete Wendung. Hüten sollte man sich tunlichst vor der Lektüre des Klappentextes: Aus unerklärlichen Gründen werden dort sämtliche spannungstreibenden Elemente vorweggenommen. Die Schilderungen des armseligen Stadtteils, in dem die Fischer wohnen und wo Adriana beheimatet ist, sind ebenfalls gelungen. Ungeachtet der rasanten Industrialisierung gilt im Borgo Sud noch eine andere Vorstellung von Gemeinwohl. Allerdings reproduzieren diese solidarischen Gepflogenheiten auch die tradierten Machtverhältnisse, denen Frauen schutzlos ausgeliefert sind.
Auch deshalb ist Donatella Di Pietrantonio in Italien so erfolgreich: Wie Elena Ferrante benennt sie die emotionalen Kosten, die ihre Generation für den Bildungsaufstieg zahlen musste. Die Entfremdung von der eigenen Familie ist nicht mehr einzuholen. Mal sehen, ob Di Pietrantonio in einem dritten Band vom Schicksal des Neffen ihrer Heldin erzählt. Wie es um die Serientauglichkeit bestellt ist, bleibt abzuwarten.
Die Mutter verschlingt die
Töchter durch übertriebene Nähe
oder sie lässt sie im Stich
Wie Elena Ferrante benennt sie
die emotionalen Kosten
für den Bildungsaufstieg
Donatella Di
Pietrantonio: Borgo Sud. Roman. Aus dem
Italienischen von Maja Pflug. Kunstmann,
München 2021,
224 Seiten, 20 Euro.
Rasante Industrialisierung und traditionelle Bindungen beschreibt Donatella Di Pietrantonio in einer Stadt, die deutlich Pescara gleicht.
Foto: Valerio Mei/mauritius/ Alamy
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