Stellen Sie sich vor, Sie sind ein bekannter Schriftsteller und werden um ein ausführliches Interview gebeten. Sie sollen Auskunft geben über Ihre Interessen und intellektuellen Vorlieben, über die Voraussetzungen und Hintergründe, über Motive und Themen Ihres umfangreichen Werks. Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt nichts ein, gar nichts, so sehr Sie sich auch bemühen. Dann muss eben jemand anderer über Sie erzählen. Aber wer sollte das sein? Wer weiß gut genug über Sie und ihre Bücher Bescheid? Im Fall des Schriftstellers Clemens J. Setz fand sich eine Alternative. Aber keine natürliche Person steht hier Rede und Antwort, sondern eine Art künstliche Intelligenz, sein Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch – die ausgelagerte Seele des Autors, kurz gesagt: ein Clemens-Setz-Bot. Und was der Befragte selbst im mündlichen Gespräch nicht zu verbalisieren mochte, gibt das Werk allein, völlig losgelöst von seinem Autor, in verblüffender Offenheit preis.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2018Die geheime Lust der Stiefmütterchen
Klammeraffe laust Engel: Clemens J. Setz narrt und beschenkt uns mit Kurztexten
Clemens J. Setz ist der Böhmermann unter den Autoren, und das ist nicht despektierlich gemeint, schließlich ist Böhmermann der Jorge Luis Borges unter den Moderatoren. Wer also sichergehen will, der begreift Setz, der das Spiel mit der Autorkategorie verwirrend oft um sich selbst zu winden versteht, als die Setzung einer Setzung, seine sich so wirklichkeitsvernarrt gebenden Bücher mithin als reine Fiktion. Aber auch damit entkommt man ihm nicht, denn allenthalben beißt man in diesen Texten auf etwas Widerständiges, auf Realitätskerne, die sich nicht restlos zu Poesie haben pürieren lassen wollen. Wer Setz liest, möchte ständig nachgooglen, und selbst dann glaubt man es noch nicht. Kann jemand über derart viele hochsymbolische Kuriosa stolpern? Solche Skepsis freilich tut der wichtigsten Dimension dieser lustvoll alle traditionellen Sinnstiftungen dekonstruierenden Prosa keinen Abbruch: ihrer Offenheit auf die Zukunft hin.
Dass sich dieser Autor Roman für Roman am Düsteren, Drastischen und Manischen labt, was er freilich mit (österreichischem) Humor abschmeckt, das sollte man nicht als Seeleneruption eines Pessimisten lesen, sondern als ziemlich konsequent durchgezogenes Programm der Normalitätsaufweitung, der Grenzverschiebung unserer Erfahrungswelt in einen vielleicht digitalen, jedenfalls nicht mehr unmittelbar greifbaren Raum, der sich aber erzählerisch hochrechnen lässt. Es ist der Raum, in dem Roboter seltsam triebhaft von Menschen träumen und in dem wir uns, verhakt an einem Programmfehler (Glitch), als diesen Trauminhalt wiedererkennen. In diese Linie passt das neue kleine Buch perfekt, das vorgibt, in seiner Entstehung und formalen Anlage ohne den Autor auszukommen. Wer hier wen manipuliert, ist damit aber noch keineswegs klar.
Dem Vorwort zufolge wollte die Lektorin Angelika Klammer ein Interview mit Setz führen, das aber mangels Interessantheit der Antworten des interviewerprobten Autors (kokett, kokett) zu nichts geführt habe. In Anlehnung an das Projekt Phil - ein Roboternachbau von Philip K. Dick, der auf alle Fragen Antworten aus einer Dick-Datenbank gibt (existiert tatsächlich) - wurde das Interview stattdessen auf algorithmischer Basis geführt. Angelika Klammer also stellte ihre Fragen nicht Setz direkt, sondern seinen "Journalen": "Diese Journale sind in einer elendslangen Worddatei gesammelt, die so etwas wie eine ausgelagerte Seele bildet."
Das muss man trotz des schönen Bilds von der ausgelagerten Seele nicht unbedingt ganz glauben, denn erstens erscheint die Idee doch leicht kümmerlich: Jede Volltextsuche in Datenbanken funktioniert so. Zudem ist das Spiel zwischen den Fragen und den kreativen, pointierten und perfekt durchgeformten Antworten einfach zu gelungen. Drittens sind auch die Fragen alles andere als nüchterne Interviewfragen: "Himmel, Ausflug, Rast, Bank . . ." Oder: "Warum bleiben Geschichten von absurder Grausamkeit Tieren gegenüber so lang im Gedächtnis?"
Die Antwortbausteine mögen durchaus den Notizbüchern des Autors entstammen. Wir hätten dann die gewitzte Version einer Kleinschriftenedition vor uns. Es handelt sich um Reiseaufzeichnungen, die sich zu kleinen Erzählungen auswachsen (in Japan "tempelt es gewaltig"), um zugespitzte Literaturhinweise ("Die Selbstmord-Abschiedsnotiz von Neschdanov, einer Figur aus Turgenjews großem Roman ,Now', lautet ,Ich konnte mich nicht vereinfachen'."), um philosophische Miniaturen ("Wie fühlte sich die Welt an, als es noch keine Zeitlupe gab?"), um Trouvaillen (Franz Gsellmanns Weltmaschine), Nostalgien (Verlust digitaler Intimität durch sichere Passwörter anstelle von poetischen wie "igelkathedrale1") und Schreckgespinste: Demenzkranke einer Sammeleinrichtung, die in einem hellen Moment durchschauen, zum eigenen Schutz mit Pseudobushaltestellen hereingelegt zu werden, werden für verrückt erklärt.
Nicht zuletzt haben wir einen Setzkasten der aparten Aperçus vor uns: "Bagger sind die besseren Dinosaurier", "Stiefmütterchen sehen aus wie Günter Grass", "Meisen werfen Handgranaten-Schatten". Auch Poetologisches wird verhandelt, wobei sich die Aussage gern in den Fragen verbirgt: "Sie entwerfen oft Schlussbilder voll sanfter Schönheit, wenn die Kämpfe ausgetragen sind"; "Sie haben einen besonderen Sinn für Ungleichzeitigkeiten"; "Wie ist das Leben als literarische Figur?" Es dürfte ganz angenehm sein, dieses Leben. Das gesamte "Journal", soweit hier offengelegt, scheint jedenfalls von einer solchen verfasst worden zu sein. Sie zielt aus der Fiktion heraus auf das Echte, diese Figur. Für vorbildlich hält der Autor das Video einer Autorin, die ihre erotische Geschichte vorliest und dazu masturbiert (der Link ist angegeben): Es "sollte auf Schreibschulen gezeigt werden". Gegen solche Authentizität kommt kein Rasierklingenstirnritzen an.
In ihrer Gesamtheit fügen sich die Fragmente tatsächlich zu einem Psychogramm. Und was sich dabei in zittrigen Konturen abzeichnet, das ist nicht allein das literarische Wunderkind Setz (das auch) oder der nahe am Wahnsinn gebaute Dionysiker (die Marke Setz), sondern ein tief romantischer Geist, der sich angesichts der Paketwaagen-Anzeige, die zwischen 0,00 kg und -0,002 kg hin und her springt, "natürlich den unsichtbaren Engel vorstellt, der mit seinem negativen Gewicht vor uns auf der Wiegefläche hüpft". "Natürlich", das ist hier das entscheidende Wort. Er kann gar nicht anders, dieser Autor, als die Realität mit negativem Gewicht zu beschweren, also ins Luftige, Engelhafte zu zerstäuben.
OLIVER JUNGEN
Clemens J. Setz: "Bot". Gespräch ohne Autor.
Hrsg. von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 168 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klammeraffe laust Engel: Clemens J. Setz narrt und beschenkt uns mit Kurztexten
Clemens J. Setz ist der Böhmermann unter den Autoren, und das ist nicht despektierlich gemeint, schließlich ist Böhmermann der Jorge Luis Borges unter den Moderatoren. Wer also sichergehen will, der begreift Setz, der das Spiel mit der Autorkategorie verwirrend oft um sich selbst zu winden versteht, als die Setzung einer Setzung, seine sich so wirklichkeitsvernarrt gebenden Bücher mithin als reine Fiktion. Aber auch damit entkommt man ihm nicht, denn allenthalben beißt man in diesen Texten auf etwas Widerständiges, auf Realitätskerne, die sich nicht restlos zu Poesie haben pürieren lassen wollen. Wer Setz liest, möchte ständig nachgooglen, und selbst dann glaubt man es noch nicht. Kann jemand über derart viele hochsymbolische Kuriosa stolpern? Solche Skepsis freilich tut der wichtigsten Dimension dieser lustvoll alle traditionellen Sinnstiftungen dekonstruierenden Prosa keinen Abbruch: ihrer Offenheit auf die Zukunft hin.
Dass sich dieser Autor Roman für Roman am Düsteren, Drastischen und Manischen labt, was er freilich mit (österreichischem) Humor abschmeckt, das sollte man nicht als Seeleneruption eines Pessimisten lesen, sondern als ziemlich konsequent durchgezogenes Programm der Normalitätsaufweitung, der Grenzverschiebung unserer Erfahrungswelt in einen vielleicht digitalen, jedenfalls nicht mehr unmittelbar greifbaren Raum, der sich aber erzählerisch hochrechnen lässt. Es ist der Raum, in dem Roboter seltsam triebhaft von Menschen träumen und in dem wir uns, verhakt an einem Programmfehler (Glitch), als diesen Trauminhalt wiedererkennen. In diese Linie passt das neue kleine Buch perfekt, das vorgibt, in seiner Entstehung und formalen Anlage ohne den Autor auszukommen. Wer hier wen manipuliert, ist damit aber noch keineswegs klar.
Dem Vorwort zufolge wollte die Lektorin Angelika Klammer ein Interview mit Setz führen, das aber mangels Interessantheit der Antworten des interviewerprobten Autors (kokett, kokett) zu nichts geführt habe. In Anlehnung an das Projekt Phil - ein Roboternachbau von Philip K. Dick, der auf alle Fragen Antworten aus einer Dick-Datenbank gibt (existiert tatsächlich) - wurde das Interview stattdessen auf algorithmischer Basis geführt. Angelika Klammer also stellte ihre Fragen nicht Setz direkt, sondern seinen "Journalen": "Diese Journale sind in einer elendslangen Worddatei gesammelt, die so etwas wie eine ausgelagerte Seele bildet."
Das muss man trotz des schönen Bilds von der ausgelagerten Seele nicht unbedingt ganz glauben, denn erstens erscheint die Idee doch leicht kümmerlich: Jede Volltextsuche in Datenbanken funktioniert so. Zudem ist das Spiel zwischen den Fragen und den kreativen, pointierten und perfekt durchgeformten Antworten einfach zu gelungen. Drittens sind auch die Fragen alles andere als nüchterne Interviewfragen: "Himmel, Ausflug, Rast, Bank . . ." Oder: "Warum bleiben Geschichten von absurder Grausamkeit Tieren gegenüber so lang im Gedächtnis?"
Die Antwortbausteine mögen durchaus den Notizbüchern des Autors entstammen. Wir hätten dann die gewitzte Version einer Kleinschriftenedition vor uns. Es handelt sich um Reiseaufzeichnungen, die sich zu kleinen Erzählungen auswachsen (in Japan "tempelt es gewaltig"), um zugespitzte Literaturhinweise ("Die Selbstmord-Abschiedsnotiz von Neschdanov, einer Figur aus Turgenjews großem Roman ,Now', lautet ,Ich konnte mich nicht vereinfachen'."), um philosophische Miniaturen ("Wie fühlte sich die Welt an, als es noch keine Zeitlupe gab?"), um Trouvaillen (Franz Gsellmanns Weltmaschine), Nostalgien (Verlust digitaler Intimität durch sichere Passwörter anstelle von poetischen wie "igelkathedrale1") und Schreckgespinste: Demenzkranke einer Sammeleinrichtung, die in einem hellen Moment durchschauen, zum eigenen Schutz mit Pseudobushaltestellen hereingelegt zu werden, werden für verrückt erklärt.
Nicht zuletzt haben wir einen Setzkasten der aparten Aperçus vor uns: "Bagger sind die besseren Dinosaurier", "Stiefmütterchen sehen aus wie Günter Grass", "Meisen werfen Handgranaten-Schatten". Auch Poetologisches wird verhandelt, wobei sich die Aussage gern in den Fragen verbirgt: "Sie entwerfen oft Schlussbilder voll sanfter Schönheit, wenn die Kämpfe ausgetragen sind"; "Sie haben einen besonderen Sinn für Ungleichzeitigkeiten"; "Wie ist das Leben als literarische Figur?" Es dürfte ganz angenehm sein, dieses Leben. Das gesamte "Journal", soweit hier offengelegt, scheint jedenfalls von einer solchen verfasst worden zu sein. Sie zielt aus der Fiktion heraus auf das Echte, diese Figur. Für vorbildlich hält der Autor das Video einer Autorin, die ihre erotische Geschichte vorliest und dazu masturbiert (der Link ist angegeben): Es "sollte auf Schreibschulen gezeigt werden". Gegen solche Authentizität kommt kein Rasierklingenstirnritzen an.
In ihrer Gesamtheit fügen sich die Fragmente tatsächlich zu einem Psychogramm. Und was sich dabei in zittrigen Konturen abzeichnet, das ist nicht allein das literarische Wunderkind Setz (das auch) oder der nahe am Wahnsinn gebaute Dionysiker (die Marke Setz), sondern ein tief romantischer Geist, der sich angesichts der Paketwaagen-Anzeige, die zwischen 0,00 kg und -0,002 kg hin und her springt, "natürlich den unsichtbaren Engel vorstellt, der mit seinem negativen Gewicht vor uns auf der Wiegefläche hüpft". "Natürlich", das ist hier das entscheidende Wort. Er kann gar nicht anders, dieser Autor, als die Realität mit negativem Gewicht zu beschweren, also ins Luftige, Engelhafte zu zerstäuben.
OLIVER JUNGEN
Clemens J. Setz: "Bot". Gespräch ohne Autor.
Hrsg. von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 168 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2018Stolpereffekte
Clemens J. Setz will seine Leser ins Bockshorn jagen und lädt zum „Gespräch ohne Autor“.
Darin findet sich manch Exzentrisches – und ein doppeltes Selbstporträt des Verfassers
VON LOTHAR MÜLLER
Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, dann können wir hineinblättern, wo wir wollen, die letzte Seite zuerst lesen, die Lektüre unterbrechen und zum Bücherregal oder ins Internet gehen, um eine Behauptung nachzuprüfen, die uns seltsam vorkommt. Und wenn uns das Buch langweilt, können wir es beiseite legen. Der Autor ist dagegen machtlos. Er ist abwesend, während wir lesen, seine Abwesenheit begünstigt die Freiheit des Lesers.
Der Schriftsteller Clemens J. Setz, der 1982 in Graz geboren wurde, setzt gerne Unterbrechungen, unverhoffte Begegnungen und Zufallsgeneratoren an die Stelle überschaubarer storylines. Gern erzählt er die Geschichte, er habe bis zum sechzehnten Lebensjahr keine Bücher gelesen, sondern nur Computerspiele gespielt, bis er 1998 durch eine Zufallsbegegnung mit einem Buch von Ernst Jandl auf den Geschmack gekommen sei. Seitdem ist er ein kultureller Omnivore, der sich von allen möglichen Medien ernährt, von Büchern, Blogs und Bots. Die visuellen Stolpereffekte der „Glitches“, der Fehler im Programmcode eines Computerspiels, zählt er zu den Vorbildern seiner Erzählstrategien.
Im Jahr 2015 hat Clemens Setz einen riesigen Roman von mehr als tausend Seiten veröffentlicht, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Man kann es ihm nicht verdenken, dass er sich davon ein wenig erholen musste. Aus dieser Erholungspause ist sein jüngstes, ziemlich schmales Buch hervorgegangen. Es heißt „Bot. Gespräch ohne Autor“ und ist der Versuch, seine Leser ins Bockshorn zu jagen. Sie sollen glauben, sie hätten hier etwas unerhört Neues vor sich, ein Buch, in dem das Schreiben algorithmisch gesteuert wird und ein Computerprogramm an die Stelle des abwesenden Autors tritt.
Clemens J. Setz hat eigens eine kleine Geschichte um den Science Fiction-Autor Philip K. Dick und das aus seinen nachgelassenen Notizen konstruierte Buch „Exegesis“ erfunden, um für sein Spiel mit den Lesern ein Modell zu fingieren. Und er hat die Lektorin Angelika Klammer in einen weiblichen Eckermann verwandelt, der in Kenntnis aller Werke von Clemens J. Setz Fragen formuliert, auf deren Schlüsselbegriffe hin ein Computerprogramm die Worddateien durchsucht, die er seit Jahren mit Beobachtungen, Lektürekommentaren, Reiseaufzeichnungen etc. füllt.
Die Spielanordnung ist dazu da, den Verdacht der Eitelkeit zu zerstreuen: „Bekanntlich ist es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine schwer zu verteidigende Eitelkeit, seine Notizbücher und Journale schon zu Lebzeiten zu publizieren. Glücklicherweise schwebte uns aber gerade kein solches Buch vor, sondern ein, in gewissem Sinne, postumes.“
Man muss nicht Sigmund Freuds Essay über die Verneinung gelesen haben, es bedarf nur der Freiheit des Lesers, um diese Zeilen gegen den Strich zu lesen und dem Autor zu sagen: Eben das, was Du hier dementierst, praktizierst Du zugleich. Und es ist überhaupt nicht ehrenrührig, seine Aufzeichnungen schon vor dem Tod zu publizieren, es setzt nur ein gewisses Selbstbewusstsein voraus, so wie in Robert Musils „Nachlass zu Lebzeiten“.
An heiligen Datensätzen wurde der Einsatz von Zufallsgeneratoren zuerst erprobt, beim „Bibelstechen“ wurde irgendeine Seite aufgeschlagen und vorgelesen. Nie mangelte es an Kommentierenswertem. Und, o Wunder, so ist es auch in den Aufzeichnungen des Autors Clemens J. Setz. Er ist nämlich ein sehr wacher Geist, bei dem das Vermischte aus allen möglichen Medien schon kunterbunt nebeneinandersteht, ehe ein Bot darangeht, seine Notizen fiktiv als Interview anzuordnen.
In der kompakten, dicht gefügten Prosa einer Erzählung Kleists ist der Leser gut beraten, sich wie ein Spürhund auf die Fährte zu setzen, die das Zeilenband auslegt. Einem so porösen, luftigen Gebilde wie diesem gegenüber wird er sich verhalten wie jemand, der das Vermischte einer Zeitung liest, manches flüchtig, anderes genauer zur Kenntnis nehmen. Dem Autor dieser Zeilen, um eine verblichene Wendung aus dem älteren Rezensionswesen aufzugreifen, haben es in diesem Buch vor allem die Stellen angetan, in denen Clemens J. Setz sich den einfachen, lange bekannten oder unspektakulären Dingen und ästhetischen Formen widmet. Sie fallen auch deshalb auf, weil so viel Exzentrisches, Bizarres, Apartes um sie herum steht, der Mann, der mit einer Kreissäge Selbstmord begeht, die „Weltmaschine“ des Bastlers Franz Gsellmann in der Steiermark.
Zum Unbekannten, das aus dem Bekannten hervortritt, zählt Rilkes Panther, den Setz in den Tagebüchern von Jules Renard und auf einer Postkarte entdeckt. Es zählen dazu die Verwandtschaft von Passwörtern mit Zaubersprüchen, die Kometen, das alte Kinderspielzeug, der Tod auf frühneuzeitlichen Holzschnitten, die eingestreuten Gedichte nach festem Reimschema, die Kataloge des Unheimlichen, viele Kindheitserinnerungen: „Der kleine Hulk fuhr als winziger Fahrstuhl meine Kehle auf und ab.“
Jeder Nachlass zu Lebzeiten ist ein Selbstporträt des Autors. Dieses ist ein Doppelbildnis. Im Vordergrund steht der nervöse Nerd, der Computerspieler und Internetnomade. Hinter ihm zeichnet sich sein Zwilling ab, ein Autor, dessen Sprachgefühl, Fantasie und Sprachreichtum aus seiner innigen Verbindung mit dem Elementaren, der physischen Existenz, dem Kreatürlichen erwächst. Das Wort Kreatur verbindet Menschen und Tiere. Wer in diesem Buch auf die Tiere achtet, seien es die im Zoo, im Labor, in der Natur oder in Büchern, kommt dem nur scheinbar abwesenden Autor auf die Spur.
Und hinter tausend Stempeln keine Welt: Auf dieser Postkarte hat Clemens Setz den Panther Rilkes entdeckt, er war gefleckt, nicht schwarz!
Foto: Suhrkamp Verlag
Clemens J. Setz
Foto: Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag
Clemens J. Setz: Bot.
Gespräch ohne Autor. Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Clemens J. Setz will seine Leser ins Bockshorn jagen und lädt zum „Gespräch ohne Autor“.
Darin findet sich manch Exzentrisches – und ein doppeltes Selbstporträt des Verfassers
VON LOTHAR MÜLLER
Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, dann können wir hineinblättern, wo wir wollen, die letzte Seite zuerst lesen, die Lektüre unterbrechen und zum Bücherregal oder ins Internet gehen, um eine Behauptung nachzuprüfen, die uns seltsam vorkommt. Und wenn uns das Buch langweilt, können wir es beiseite legen. Der Autor ist dagegen machtlos. Er ist abwesend, während wir lesen, seine Abwesenheit begünstigt die Freiheit des Lesers.
Der Schriftsteller Clemens J. Setz, der 1982 in Graz geboren wurde, setzt gerne Unterbrechungen, unverhoffte Begegnungen und Zufallsgeneratoren an die Stelle überschaubarer storylines. Gern erzählt er die Geschichte, er habe bis zum sechzehnten Lebensjahr keine Bücher gelesen, sondern nur Computerspiele gespielt, bis er 1998 durch eine Zufallsbegegnung mit einem Buch von Ernst Jandl auf den Geschmack gekommen sei. Seitdem ist er ein kultureller Omnivore, der sich von allen möglichen Medien ernährt, von Büchern, Blogs und Bots. Die visuellen Stolpereffekte der „Glitches“, der Fehler im Programmcode eines Computerspiels, zählt er zu den Vorbildern seiner Erzählstrategien.
Im Jahr 2015 hat Clemens Setz einen riesigen Roman von mehr als tausend Seiten veröffentlicht, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Man kann es ihm nicht verdenken, dass er sich davon ein wenig erholen musste. Aus dieser Erholungspause ist sein jüngstes, ziemlich schmales Buch hervorgegangen. Es heißt „Bot. Gespräch ohne Autor“ und ist der Versuch, seine Leser ins Bockshorn zu jagen. Sie sollen glauben, sie hätten hier etwas unerhört Neues vor sich, ein Buch, in dem das Schreiben algorithmisch gesteuert wird und ein Computerprogramm an die Stelle des abwesenden Autors tritt.
Clemens J. Setz hat eigens eine kleine Geschichte um den Science Fiction-Autor Philip K. Dick und das aus seinen nachgelassenen Notizen konstruierte Buch „Exegesis“ erfunden, um für sein Spiel mit den Lesern ein Modell zu fingieren. Und er hat die Lektorin Angelika Klammer in einen weiblichen Eckermann verwandelt, der in Kenntnis aller Werke von Clemens J. Setz Fragen formuliert, auf deren Schlüsselbegriffe hin ein Computerprogramm die Worddateien durchsucht, die er seit Jahren mit Beobachtungen, Lektürekommentaren, Reiseaufzeichnungen etc. füllt.
Die Spielanordnung ist dazu da, den Verdacht der Eitelkeit zu zerstreuen: „Bekanntlich ist es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine schwer zu verteidigende Eitelkeit, seine Notizbücher und Journale schon zu Lebzeiten zu publizieren. Glücklicherweise schwebte uns aber gerade kein solches Buch vor, sondern ein, in gewissem Sinne, postumes.“
Man muss nicht Sigmund Freuds Essay über die Verneinung gelesen haben, es bedarf nur der Freiheit des Lesers, um diese Zeilen gegen den Strich zu lesen und dem Autor zu sagen: Eben das, was Du hier dementierst, praktizierst Du zugleich. Und es ist überhaupt nicht ehrenrührig, seine Aufzeichnungen schon vor dem Tod zu publizieren, es setzt nur ein gewisses Selbstbewusstsein voraus, so wie in Robert Musils „Nachlass zu Lebzeiten“.
An heiligen Datensätzen wurde der Einsatz von Zufallsgeneratoren zuerst erprobt, beim „Bibelstechen“ wurde irgendeine Seite aufgeschlagen und vorgelesen. Nie mangelte es an Kommentierenswertem. Und, o Wunder, so ist es auch in den Aufzeichnungen des Autors Clemens J. Setz. Er ist nämlich ein sehr wacher Geist, bei dem das Vermischte aus allen möglichen Medien schon kunterbunt nebeneinandersteht, ehe ein Bot darangeht, seine Notizen fiktiv als Interview anzuordnen.
In der kompakten, dicht gefügten Prosa einer Erzählung Kleists ist der Leser gut beraten, sich wie ein Spürhund auf die Fährte zu setzen, die das Zeilenband auslegt. Einem so porösen, luftigen Gebilde wie diesem gegenüber wird er sich verhalten wie jemand, der das Vermischte einer Zeitung liest, manches flüchtig, anderes genauer zur Kenntnis nehmen. Dem Autor dieser Zeilen, um eine verblichene Wendung aus dem älteren Rezensionswesen aufzugreifen, haben es in diesem Buch vor allem die Stellen angetan, in denen Clemens J. Setz sich den einfachen, lange bekannten oder unspektakulären Dingen und ästhetischen Formen widmet. Sie fallen auch deshalb auf, weil so viel Exzentrisches, Bizarres, Apartes um sie herum steht, der Mann, der mit einer Kreissäge Selbstmord begeht, die „Weltmaschine“ des Bastlers Franz Gsellmann in der Steiermark.
Zum Unbekannten, das aus dem Bekannten hervortritt, zählt Rilkes Panther, den Setz in den Tagebüchern von Jules Renard und auf einer Postkarte entdeckt. Es zählen dazu die Verwandtschaft von Passwörtern mit Zaubersprüchen, die Kometen, das alte Kinderspielzeug, der Tod auf frühneuzeitlichen Holzschnitten, die eingestreuten Gedichte nach festem Reimschema, die Kataloge des Unheimlichen, viele Kindheitserinnerungen: „Der kleine Hulk fuhr als winziger Fahrstuhl meine Kehle auf und ab.“
Jeder Nachlass zu Lebzeiten ist ein Selbstporträt des Autors. Dieses ist ein Doppelbildnis. Im Vordergrund steht der nervöse Nerd, der Computerspieler und Internetnomade. Hinter ihm zeichnet sich sein Zwilling ab, ein Autor, dessen Sprachgefühl, Fantasie und Sprachreichtum aus seiner innigen Verbindung mit dem Elementaren, der physischen Existenz, dem Kreatürlichen erwächst. Das Wort Kreatur verbindet Menschen und Tiere. Wer in diesem Buch auf die Tiere achtet, seien es die im Zoo, im Labor, in der Natur oder in Büchern, kommt dem nur scheinbar abwesenden Autor auf die Spur.
Und hinter tausend Stempeln keine Welt: Auf dieser Postkarte hat Clemens Setz den Panther Rilkes entdeckt, er war gefleckt, nicht schwarz!
Foto: Suhrkamp Verlag
Clemens J. Setz
Foto: Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag
Clemens J. Setz: Bot.
Gespräch ohne Autor. Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Was bei Interviews dadurch entsteht, dass sich zwei Menschen bestimmter Sozialisation in einem klaren Setting begegnen, fehlt dem Text; stattdessen fühlt es sich so an, als schaue man Setz tatsächlich beim Denken zu. Absolut lesenswert.« Sophie Elmenthaler der Freitag 20190919