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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Woher ich kam: Anousch Müller baut einen Roman um die psychischen Ausnahmezustände ihrer Erzählerin
In der Literatur bildet der Wahnsinn das unsichtbare Band, das narrative Inkonsistenzen legitimiert und die auseinanderdriftende Sprache und Wahrnehmung der Figuren zusammenhält. Erst der Wahnsinn verleiht bei Gogol dem Datum "Da 34 tum, Jahr, 349. Februar" seinen Sinn. Bei der jungen Autorin Anousch Müller muss der Wahnsinn ein ganzes Buch zusammenhalten. Das ist mehr, als er leisten kann. Erschöpft sackt er zusammen.
Dabei beginnt der Roman vielversprechend: Die Erzählerin Annie Veit lebt Anfang der neunziger Jahre mit ihren Eltern in einem thüringischen Dorf. Sie ist noch minderjährig, als sie eine Affäre mit Jan Pajak eingeht, der vor ihrer Geburt bereits ein Verhältnis mit Annies Mutter hatte. Mittlerweile lebt Pajak aber - von der Dorfgemeinschaft geächtetet - auf dem "verwunschenen Hof" Brandstatt, weil ihm nachgesagt wird, für das Verschwinden einer jungen Frau verantwortlich zu sein. Müller zeichnet also zu Beginn das spannende, wenn auch tendenziös generische Bild eines obskuren Dorfs. Nicht nur der ungelöste Fall der Verschwundenen und die morbide Legende, wie Brandstatt zu seinem Namen kam, sondern insbesondere der unheimliche Pajak und sein Verhältnis zur Erzählerin erwecken Neugierde. Die Spannung entsteht dabei nicht zuletzt durch die Andeutung von Gewalt und deren anschließende Auslassung. Allein wie Pajak mit Annie spricht ("Gefällt dir das?") und wie er sich vor ihr gebärdet, kreieren eine opake Atmosphäre der Bedrohung.
Als Pajak aus dem Dorf verschwindet, reißt die Erzählung ab und setzt sechzehn Jahre später wieder ein. Annie lebt mittlerweile in Berlin und schreibt gerade ihre Master-Arbeit. Der Roman bricht hier mit dem bisher Erzählten; auch sprachlich, was wenig Sinn ergibt, da es sich nach wie vor um dieselbe Erzählerin in derselben Zeitform handelt. Ausführlich wird man über Annies Liebesleben in Berlin aufgeklärt. Eine ständig auf Sex referierende und langweilige Befindlichkeitsprosa tritt an die Stelle des Obskuren. Annie erscheint jetzt als zeitgenössische Melancholikerin, inszeniert sich selbst als "Opfer der Ungeduld des Zeitalters", das gebannt mit ihrer "Weltfluchtmaschine" über "Sehnsüchte" und die "ganz großen Fragen" twittert. Dieses possierliche Pathos ermüdet, da ihr Dasein in Berlin weder traurig noch amüsant, noch idiosynkratisch ist.
Der dritte Teil des Romans wirft jedoch ein unerwartet neues Licht auf die Erzählerin. Wir erfahren, dass Annie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Das Gespräch mit einem Psychologen liest sich mit einem Mal wie ein Metakommentar zum Roman selbst: "Es gab zwar diese seltsame Geschichte aus meiner frühen Jugend, aber ich ahnte, dass Dr. Pieteriet das Ganze unnötig aufladen würde ... Und so schwieg ich davon und schob die ganze Schuld auf die langjährige Dressur zu Liebesverzicht durch meinen Liebhaber." Mit anderen Worten: Annies Verdrängen der Vergangenheit auf psychologischer Ebene ist der Grund, weshalb auf formaler Ebene eine thematische Verschiebung stattfindet. Statt die Geheimnisse des Dorfes aufzudecken, wird der Leser mit Attrappen abgespeist. Ein äußerst elaboriertes und gelungenes Spiel mit Form und Inhalt.
Die Einführung des Wahnsinns liest sich jedoch auch als Versuch, die Inkonsistenzen des Romans aufzulösen. Ob dieser technische Kniff es jedoch rechtfertigt, den Leser geraume Zeit zu langweilen? In keiner Weise rechtfertigt er jedenfalls die unsägliche Sprache des Romans. Die tonale Inkonsistenz (zwischen kindlich, großmütterlich und naturwissenschaftlich changierend) ließe sich womöglich noch über Annies Psyche abwickeln, nicht aber die Sprache selbst. Es ist der Versuch, Annie interessant zu machen, indem man das Vokabular irgendwo zwischen "Fick-Rhythmus", Austausch von "Sekreten", "Seelenelend" und "Coitus Infernale" pendeln lässt. In der Folge verkommt der Roman zum albernen Tagebucheintrag und will dabei doch eigentlich düster sein.
Wahnsinn ist hierfür keine Ausrede. Denn wenn man die unerträgliche Sprache und die langweilige Verlagerung nach Berlin als bloße Folgen eines psychischen Zustands rechtfertigt, dann wird Wahnsinn zum universalen Auffangbecken, in dem alles möglich ist. Das vermeintlich Tragische wird ins Rührselige geschleift: "Ich hatte unterdessen meine Seelenapparatur auf mittlere Leuchtkraft hochfahren können und mit der Charme-Vollfunktion verschaltet." Oder: "Ich habe immer an der Stelle Schmerzen, wo die Flügelchen sitzen müssten, wenn ich ein Engel wäre. Ich nenne es meinen Flügelschmerz."
Dabei schreibt Müller einige großartige Szenen: der erste Sex mit Pajak und wie dessen Körper danach surreal in sich zusammensackt. Oder der Bühnenmoderator auf einem Dorffest, der sich vom Schenkelklopfer- in den schwarzen Humor hineinsteigert, bis er einen Witz über Vergewaltigung im Wald erzählt und es mit einem Mal vollkommen still ist. Außerdem ist ihr mit Pajak eine unheimlich lebendige Figur gelungen, über die wir zwar immer mehr erfahren (seine Beziehung zu Annies Mutter und dem verschwundenen Mädchen), die wir aber nie einzuordnen wissen. Annie hingegen erscheint zumeist als Summe von Behauptungen und herbeizitierten Gefühlen, die auch ein gogolscher Wahnsinn nicht zusammenhalten kann.
JUAN S. GUSE
Anousch Müller: "Brandstatt".
Roman.
Verlag C. H. Beck,
München 2013. 223 S., geb., 18,95 [Euro].
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