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Sechs Millionen Iraker lebten während Saddams Diktatur im Exil. Wer schmuggelte all deren Briefe in die Heimat an der Zensur vorbei? Abbas Khiders Roman "Brief in die Auberginenrepublik" erzählt von einem teuflischen Zustelldienst.
Von Hubert Spiegel
Dieser Roman erzählt die Geschichte eines Briefes, der durch viele Hände geht, aber seine Adressatin nie erreicht. Es ist ein Liebesbrief, der im September 1999 in der libyschen Hafenstadt Benghasi geschrieben wird und über Kairo und Amman nach Bagdad gelangt. Wer heute in einem gängigen Routenplaner die Strecke Benghasi-Bagdad eingibt, dürfte sich wundern, denn die Software wird ihm nicht die Direktverbindung zeigen, sondern vorschlagen, einmal um das gesamte Mittelmeer herumzufahren, erst westwärts Richtung Tunis, dann über Italien, Griechenland und die Türkei in die irakische Hauptstadt. Eine Strecke von mehr als sechstausend Kilometern. Geschätzte Fahrzeit: 85 Stunden.
Es sind politische Gründe, die heute diesen Umweg erforderlich machen, so wie damals, als Salim seinen Liebesbrief an Samia schrieb, politische Gründe dafür verantwortlich waren, dass der verzweifelte Exilant seinen Brief nicht einfach mit der Post aufgeben konnte, sondern einen ganz besonderen Zustelldienst bemühen musste. Das machte die Sache ein wenig teurer: Das Porto für einen Brief von Benghasi nach Bagdad betrug im Jahr 1999 zweihundert Dollar.
Das ist viel Geld. Salim muss dafür fast zwei Monate arbeiten. Dennoch zögert er nicht, die Summe auf den Tisch zu legen. Es ist die einzige Möglichkeit, wieder Kontakt mit seinem früheren Leben aufzunehmen. In Benghasi schlägt Salim sich als Bauarbeiter durch, in Bagdad war er Student, bevor er 1997 aus heiterem Himmel von der irakischen Geheimpolizei verhaftet wurde, weil er sich mit anderen Studenten jede Woche einmal zum Leseabend getroffen hatte. Der Vorwurf der Lektüre verbotener Bücher trug ihm Gefängnishaft und Folter ein, bevor es seinem einflussreichen Onkel gelang, Salim außer Landes zu schmuggeln, erst nach Syrien, dann nach Libyen.
Der junge politisch verfolgte Iraker im unfreiwilligen, meist illegalen Exil, das ist das Thema, das Abbas Khider, der 1973 in Bagdad geboren wurde, nun zum dritten Mal auf seine ganz eigene, ingeniöse Weise literarisch behandelt. Auf seinen 2008 erschienenen Debütroman "Der falsche Inder" folgte vor zwei Jahren mit "Die Orangen des Präsidenten" Khiders zweiter Roman. Auch "Brief in die Auberginenrepublik" handelt wieder von einem Opfer der grausamen Willkürherrschaft des Diktators Saddam. Aber Salim ist nur der Ausgangspunkt der Geschichte, die Khider multiperspektivisch angelegt hat: In den sieben Kapiteln des Romans berichten außer Salim noch sechs weitere Ich-Erzähler, die auf unterschiedliche Weise mit dem Brief in Berührung kommen, aus ihrem Leben. So wird Station für Station der Weg nachvollzogen, auf dem der Brief schließlich nach Bagdad gelangt, und zugleich entfaltet das Buch ein Panorama des Alltagslebens in drei arabischen Ländern am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Noch ist die arabische Revolution unvorstellbar, noch sitzen Saddam, Gaddafi und Syriens Assad fest auf ihren Thronen. Twitter, E-Mails und soziale Netzwerke scheinen Lichtjahre entfernt. Wer aus dem Exil einen Brief in die irakische Heimat schicken will, muss ihn an der Zensur vorbei ins Land schmuggeln. Fast noch größer als die Angst, die Nachricht könnte nicht ankommen, ist die Sorge, sie könnte in die falschen Hände geraten und ihrem Adressaten womöglich ebenfalls Gefängnis und Folter einbringen.
So ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommt, aus der Not seiner Landsleute ein Geschäft zu machen. Wie Schleuserbanden die Flüchtlinge gegen viel Geld aus dem Land geschafft haben, so tragen nun illegale Kuriere, die sich teuer bezahlen lassen, die sehnsuchtsvollen Briefe zurück in die Heimat. Es ist ein Netzwerk des Kummers, des Heimwehs und der Sorge um die Freunde und engsten Verwandten, die in der Heimat zurückgeblieben sind, das die gesamte arabische Welt überzieht. Aber keiner der Exil-Iraker, die ihre Briefe diesem Netzwerk anvertrauen, kann ahnen, wer wirklich die Fäden darin zieht.
Im Exil leben unzählige Kreaturen, die an nichts anderes als an Geschäfte denken, wie der junge Salim weiß. Sie sind die "Fachmänner der Hölle", Folterknechte, die den Schmerz bereiten, ihn aber auch mildern können. Denn "manchmal braucht man sie einfach, die Geldgeilen des Friedhofs, die einem das Leben im Grab erleichtern können". Die Adresse von Malik Gaddaf-A-Dam erfährt Salim im Café Tigris, dem Treffpunkt aller Exil-Iraker in Benghasi. Von Malik, der zweihundert Dollar Porto kassiert, geht der Brief an den ägyptischen Taxifahrer Haytham, der ihn in Kairo an Maliks Geschäftspartner Majed Munir aushändigt, der die Fracht mit einem Reisebus in die jordanische Hauptstadt Amman bringen lässt. Dort wartet der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, um die letzte Etappe zu bewältigen. Dann ist der Brief in Bagdad angekommen, in Saddam City, dem elendesten aller Viertel der Stadt.
Jeder, der mit dem Brief in Berührung kommt, spielt seine Rolle in dem obskuren Netzwerk, aber nicht allen gesteht Abbas Khider eine eigene Geschichte zu. Mehr als Malik, den korrupten Geschäftsmann in Benghasi, interessieren ihn die Taxikuriere und Lastwagenfahrer, kleine Leute, die nicht ahnen, wie die Maschinerie aussieht, in der sie nur ein Rädchen sind. Ihnen gilt die Zuneigung des Autors, der in seinem dritten Roman sein Personal erweitert hat: Jetzt kommen auch die Täter zu Wort. Und weil sie anders als die Opfer ihr Herz nicht auf der Zunge tragen, lässt Abbas Khider uns in ihre Köpfe blicken.
So sehen wir die Niedertracht, mit der ein kleiner Polizist seine Position ausnutzt, um Geld und Sex von Frauen zu erpressen, deren Männer das Land verlassen haben, und wir erfahren, wie ein hoher Offizier die kleinen Skrupel bekämpft, die ihn befallen, wenn vor seinen Augen ein Wehrloser massakriert wird. Am Ende dient der Brief dazu, der verwöhnten jungen Ehefrau des Offiziers die Augen zu öffnen und sie erkennen zu lassen, wie schmutzig die Privilegien sind, die sie genießt.
Und was ist mit Salim, dem jungen Exilanten in Benghasi, der den Namen seiner geliebten Saima nicht einmal unter der Folter preisgeben wollte? Er hat trotz allem sein Ziel erreicht, denn er wusste von Anfang an, dass nur der wirklich aufrichtig sein kann, der sich mit seinen Worten "an niemanden wendet, höchstens an sich selber".
Bereits in "Der falsche Inder" hat Abbas Khider auf kunstvolle Weise mit dem Motiv der Schrift gespielt, deren Botschaft die Erlösung, aber auch den Tod bringen kann. Auch der Brief in die Auberginenrepublik Irak, wo es nach zwei Kriegen und westlichen Boykottmaßnahmen außer Auberginen oft kaum genug zu essen gab, ist ein janusköpfiges Dokument, Quelle des Trostes wie der Verzweiflung. Für Salim ist seine Botschaft an die ferne Geliebte auch ein Schreiben an sich selbst und an das Nichts, dass sich nur aushalten lässt, solange wir ihm mit Worten begegnen.
Abbas Khider: "Brief in die Auberginenrepublik". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2013. 155 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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