Oktober 1999 - im Irak herrscht Saddam Hussein, in Libyen Gaddafi, in Ägypten Mubarak, in Syrien Hafiz al-Assad und in Jordanien König Abdullah II bin Hussein. Die arabische Facebook und Twitter-Revolution gegen die Despoten ist noch fernste Zukunft. Einen Brief an der Zensur vorbeizuschicken, ist ein langwieriges und gefährliches Abenteuer. Das nach dem Golfkrieg verhängte Handelsembargo treibt die irakische Bevölkerung ins Elend - einzig Auberginen gibt es im Überfluss, sodass die Iraker ihrem Land den Beinamen "Auberginenrepublik " verpasst haben. Salim, ein ehemaliger Student, schlägt sich im libyschen Exil als Bauarbeiter durch. Er war wegen des Besitzes verbotener Bücher verhaftet worden. Über seinen Onkel ist ihm die Flucht aus dem Irak gelungen, doch er hat nie wieder von seiner Familie, seinen Freunden und vor allem von seiner Geliebten Samia gehört, deren Namen er auch unter Folter nicht preisgegeben hatte. Nun erfährt er in Bengasi von einem die ganze arabische Welt überspannenden Netzwerk von illegalen Briefboten und wagt es, Samia einen Brief mit einem Lebenszeichen zu senden...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013Die Briefträger der Hölle
Sechs Millionen Iraker lebten während Saddams Diktatur im Exil. Wer schmuggelte all deren Briefe in die Heimat an der Zensur vorbei? Abbas Khiders Roman "Brief in die Auberginenrepublik" erzählt von einem teuflischen Zustelldienst.
Von Hubert Spiegel
Dieser Roman erzählt die Geschichte eines Briefes, der durch viele Hände geht, aber seine Adressatin nie erreicht. Es ist ein Liebesbrief, der im September 1999 in der libyschen Hafenstadt Benghasi geschrieben wird und über Kairo und Amman nach Bagdad gelangt. Wer heute in einem gängigen Routenplaner die Strecke Benghasi-Bagdad eingibt, dürfte sich wundern, denn die Software wird ihm nicht die Direktverbindung zeigen, sondern vorschlagen, einmal um das gesamte Mittelmeer herumzufahren, erst westwärts Richtung Tunis, dann über Italien, Griechenland und die Türkei in die irakische Hauptstadt. Eine Strecke von mehr als sechstausend Kilometern. Geschätzte Fahrzeit: 85 Stunden.
Es sind politische Gründe, die heute diesen Umweg erforderlich machen, so wie damals, als Salim seinen Liebesbrief an Samia schrieb, politische Gründe dafür verantwortlich waren, dass der verzweifelte Exilant seinen Brief nicht einfach mit der Post aufgeben konnte, sondern einen ganz besonderen Zustelldienst bemühen musste. Das machte die Sache ein wenig teurer: Das Porto für einen Brief von Benghasi nach Bagdad betrug im Jahr 1999 zweihundert Dollar.
Das ist viel Geld. Salim muss dafür fast zwei Monate arbeiten. Dennoch zögert er nicht, die Summe auf den Tisch zu legen. Es ist die einzige Möglichkeit, wieder Kontakt mit seinem früheren Leben aufzunehmen. In Benghasi schlägt Salim sich als Bauarbeiter durch, in Bagdad war er Student, bevor er 1997 aus heiterem Himmel von der irakischen Geheimpolizei verhaftet wurde, weil er sich mit anderen Studenten jede Woche einmal zum Leseabend getroffen hatte. Der Vorwurf der Lektüre verbotener Bücher trug ihm Gefängnishaft und Folter ein, bevor es seinem einflussreichen Onkel gelang, Salim außer Landes zu schmuggeln, erst nach Syrien, dann nach Libyen.
Der junge politisch verfolgte Iraker im unfreiwilligen, meist illegalen Exil, das ist das Thema, das Abbas Khider, der 1973 in Bagdad geboren wurde, nun zum dritten Mal auf seine ganz eigene, ingeniöse Weise literarisch behandelt. Auf seinen 2008 erschienenen Debütroman "Der falsche Inder" folgte vor zwei Jahren mit "Die Orangen des Präsidenten" Khiders zweiter Roman. Auch "Brief in die Auberginenrepublik" handelt wieder von einem Opfer der grausamen Willkürherrschaft des Diktators Saddam. Aber Salim ist nur der Ausgangspunkt der Geschichte, die Khider multiperspektivisch angelegt hat: In den sieben Kapiteln des Romans berichten außer Salim noch sechs weitere Ich-Erzähler, die auf unterschiedliche Weise mit dem Brief in Berührung kommen, aus ihrem Leben. So wird Station für Station der Weg nachvollzogen, auf dem der Brief schließlich nach Bagdad gelangt, und zugleich entfaltet das Buch ein Panorama des Alltagslebens in drei arabischen Ländern am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Noch ist die arabische Revolution unvorstellbar, noch sitzen Saddam, Gaddafi und Syriens Assad fest auf ihren Thronen. Twitter, E-Mails und soziale Netzwerke scheinen Lichtjahre entfernt. Wer aus dem Exil einen Brief in die irakische Heimat schicken will, muss ihn an der Zensur vorbei ins Land schmuggeln. Fast noch größer als die Angst, die Nachricht könnte nicht ankommen, ist die Sorge, sie könnte in die falschen Hände geraten und ihrem Adressaten womöglich ebenfalls Gefängnis und Folter einbringen.
So ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommt, aus der Not seiner Landsleute ein Geschäft zu machen. Wie Schleuserbanden die Flüchtlinge gegen viel Geld aus dem Land geschafft haben, so tragen nun illegale Kuriere, die sich teuer bezahlen lassen, die sehnsuchtsvollen Briefe zurück in die Heimat. Es ist ein Netzwerk des Kummers, des Heimwehs und der Sorge um die Freunde und engsten Verwandten, die in der Heimat zurückgeblieben sind, das die gesamte arabische Welt überzieht. Aber keiner der Exil-Iraker, die ihre Briefe diesem Netzwerk anvertrauen, kann ahnen, wer wirklich die Fäden darin zieht.
Im Exil leben unzählige Kreaturen, die an nichts anderes als an Geschäfte denken, wie der junge Salim weiß. Sie sind die "Fachmänner der Hölle", Folterknechte, die den Schmerz bereiten, ihn aber auch mildern können. Denn "manchmal braucht man sie einfach, die Geldgeilen des Friedhofs, die einem das Leben im Grab erleichtern können". Die Adresse von Malik Gaddaf-A-Dam erfährt Salim im Café Tigris, dem Treffpunkt aller Exil-Iraker in Benghasi. Von Malik, der zweihundert Dollar Porto kassiert, geht der Brief an den ägyptischen Taxifahrer Haytham, der ihn in Kairo an Maliks Geschäftspartner Majed Munir aushändigt, der die Fracht mit einem Reisebus in die jordanische Hauptstadt Amman bringen lässt. Dort wartet der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, um die letzte Etappe zu bewältigen. Dann ist der Brief in Bagdad angekommen, in Saddam City, dem elendesten aller Viertel der Stadt.
Jeder, der mit dem Brief in Berührung kommt, spielt seine Rolle in dem obskuren Netzwerk, aber nicht allen gesteht Abbas Khider eine eigene Geschichte zu. Mehr als Malik, den korrupten Geschäftsmann in Benghasi, interessieren ihn die Taxikuriere und Lastwagenfahrer, kleine Leute, die nicht ahnen, wie die Maschinerie aussieht, in der sie nur ein Rädchen sind. Ihnen gilt die Zuneigung des Autors, der in seinem dritten Roman sein Personal erweitert hat: Jetzt kommen auch die Täter zu Wort. Und weil sie anders als die Opfer ihr Herz nicht auf der Zunge tragen, lässt Abbas Khider uns in ihre Köpfe blicken.
So sehen wir die Niedertracht, mit der ein kleiner Polizist seine Position ausnutzt, um Geld und Sex von Frauen zu erpressen, deren Männer das Land verlassen haben, und wir erfahren, wie ein hoher Offizier die kleinen Skrupel bekämpft, die ihn befallen, wenn vor seinen Augen ein Wehrloser massakriert wird. Am Ende dient der Brief dazu, der verwöhnten jungen Ehefrau des Offiziers die Augen zu öffnen und sie erkennen zu lassen, wie schmutzig die Privilegien sind, die sie genießt.
Und was ist mit Salim, dem jungen Exilanten in Benghasi, der den Namen seiner geliebten Saima nicht einmal unter der Folter preisgeben wollte? Er hat trotz allem sein Ziel erreicht, denn er wusste von Anfang an, dass nur der wirklich aufrichtig sein kann, der sich mit seinen Worten "an niemanden wendet, höchstens an sich selber".
Bereits in "Der falsche Inder" hat Abbas Khider auf kunstvolle Weise mit dem Motiv der Schrift gespielt, deren Botschaft die Erlösung, aber auch den Tod bringen kann. Auch der Brief in die Auberginenrepublik Irak, wo es nach zwei Kriegen und westlichen Boykottmaßnahmen außer Auberginen oft kaum genug zu essen gab, ist ein janusköpfiges Dokument, Quelle des Trostes wie der Verzweiflung. Für Salim ist seine Botschaft an die ferne Geliebte auch ein Schreiben an sich selbst und an das Nichts, dass sich nur aushalten lässt, solange wir ihm mit Worten begegnen.
Abbas Khider: "Brief in die Auberginenrepublik". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2013. 155 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sechs Millionen Iraker lebten während Saddams Diktatur im Exil. Wer schmuggelte all deren Briefe in die Heimat an der Zensur vorbei? Abbas Khiders Roman "Brief in die Auberginenrepublik" erzählt von einem teuflischen Zustelldienst.
Von Hubert Spiegel
Dieser Roman erzählt die Geschichte eines Briefes, der durch viele Hände geht, aber seine Adressatin nie erreicht. Es ist ein Liebesbrief, der im September 1999 in der libyschen Hafenstadt Benghasi geschrieben wird und über Kairo und Amman nach Bagdad gelangt. Wer heute in einem gängigen Routenplaner die Strecke Benghasi-Bagdad eingibt, dürfte sich wundern, denn die Software wird ihm nicht die Direktverbindung zeigen, sondern vorschlagen, einmal um das gesamte Mittelmeer herumzufahren, erst westwärts Richtung Tunis, dann über Italien, Griechenland und die Türkei in die irakische Hauptstadt. Eine Strecke von mehr als sechstausend Kilometern. Geschätzte Fahrzeit: 85 Stunden.
Es sind politische Gründe, die heute diesen Umweg erforderlich machen, so wie damals, als Salim seinen Liebesbrief an Samia schrieb, politische Gründe dafür verantwortlich waren, dass der verzweifelte Exilant seinen Brief nicht einfach mit der Post aufgeben konnte, sondern einen ganz besonderen Zustelldienst bemühen musste. Das machte die Sache ein wenig teurer: Das Porto für einen Brief von Benghasi nach Bagdad betrug im Jahr 1999 zweihundert Dollar.
Das ist viel Geld. Salim muss dafür fast zwei Monate arbeiten. Dennoch zögert er nicht, die Summe auf den Tisch zu legen. Es ist die einzige Möglichkeit, wieder Kontakt mit seinem früheren Leben aufzunehmen. In Benghasi schlägt Salim sich als Bauarbeiter durch, in Bagdad war er Student, bevor er 1997 aus heiterem Himmel von der irakischen Geheimpolizei verhaftet wurde, weil er sich mit anderen Studenten jede Woche einmal zum Leseabend getroffen hatte. Der Vorwurf der Lektüre verbotener Bücher trug ihm Gefängnishaft und Folter ein, bevor es seinem einflussreichen Onkel gelang, Salim außer Landes zu schmuggeln, erst nach Syrien, dann nach Libyen.
Der junge politisch verfolgte Iraker im unfreiwilligen, meist illegalen Exil, das ist das Thema, das Abbas Khider, der 1973 in Bagdad geboren wurde, nun zum dritten Mal auf seine ganz eigene, ingeniöse Weise literarisch behandelt. Auf seinen 2008 erschienenen Debütroman "Der falsche Inder" folgte vor zwei Jahren mit "Die Orangen des Präsidenten" Khiders zweiter Roman. Auch "Brief in die Auberginenrepublik" handelt wieder von einem Opfer der grausamen Willkürherrschaft des Diktators Saddam. Aber Salim ist nur der Ausgangspunkt der Geschichte, die Khider multiperspektivisch angelegt hat: In den sieben Kapiteln des Romans berichten außer Salim noch sechs weitere Ich-Erzähler, die auf unterschiedliche Weise mit dem Brief in Berührung kommen, aus ihrem Leben. So wird Station für Station der Weg nachvollzogen, auf dem der Brief schließlich nach Bagdad gelangt, und zugleich entfaltet das Buch ein Panorama des Alltagslebens in drei arabischen Ländern am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Noch ist die arabische Revolution unvorstellbar, noch sitzen Saddam, Gaddafi und Syriens Assad fest auf ihren Thronen. Twitter, E-Mails und soziale Netzwerke scheinen Lichtjahre entfernt. Wer aus dem Exil einen Brief in die irakische Heimat schicken will, muss ihn an der Zensur vorbei ins Land schmuggeln. Fast noch größer als die Angst, die Nachricht könnte nicht ankommen, ist die Sorge, sie könnte in die falschen Hände geraten und ihrem Adressaten womöglich ebenfalls Gefängnis und Folter einbringen.
So ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommt, aus der Not seiner Landsleute ein Geschäft zu machen. Wie Schleuserbanden die Flüchtlinge gegen viel Geld aus dem Land geschafft haben, so tragen nun illegale Kuriere, die sich teuer bezahlen lassen, die sehnsuchtsvollen Briefe zurück in die Heimat. Es ist ein Netzwerk des Kummers, des Heimwehs und der Sorge um die Freunde und engsten Verwandten, die in der Heimat zurückgeblieben sind, das die gesamte arabische Welt überzieht. Aber keiner der Exil-Iraker, die ihre Briefe diesem Netzwerk anvertrauen, kann ahnen, wer wirklich die Fäden darin zieht.
Im Exil leben unzählige Kreaturen, die an nichts anderes als an Geschäfte denken, wie der junge Salim weiß. Sie sind die "Fachmänner der Hölle", Folterknechte, die den Schmerz bereiten, ihn aber auch mildern können. Denn "manchmal braucht man sie einfach, die Geldgeilen des Friedhofs, die einem das Leben im Grab erleichtern können". Die Adresse von Malik Gaddaf-A-Dam erfährt Salim im Café Tigris, dem Treffpunkt aller Exil-Iraker in Benghasi. Von Malik, der zweihundert Dollar Porto kassiert, geht der Brief an den ägyptischen Taxifahrer Haytham, der ihn in Kairo an Maliks Geschäftspartner Majed Munir aushändigt, der die Fracht mit einem Reisebus in die jordanische Hauptstadt Amman bringen lässt. Dort wartet der Lastwagenfahrer Latif Mohamed, um die letzte Etappe zu bewältigen. Dann ist der Brief in Bagdad angekommen, in Saddam City, dem elendesten aller Viertel der Stadt.
Jeder, der mit dem Brief in Berührung kommt, spielt seine Rolle in dem obskuren Netzwerk, aber nicht allen gesteht Abbas Khider eine eigene Geschichte zu. Mehr als Malik, den korrupten Geschäftsmann in Benghasi, interessieren ihn die Taxikuriere und Lastwagenfahrer, kleine Leute, die nicht ahnen, wie die Maschinerie aussieht, in der sie nur ein Rädchen sind. Ihnen gilt die Zuneigung des Autors, der in seinem dritten Roman sein Personal erweitert hat: Jetzt kommen auch die Täter zu Wort. Und weil sie anders als die Opfer ihr Herz nicht auf der Zunge tragen, lässt Abbas Khider uns in ihre Köpfe blicken.
So sehen wir die Niedertracht, mit der ein kleiner Polizist seine Position ausnutzt, um Geld und Sex von Frauen zu erpressen, deren Männer das Land verlassen haben, und wir erfahren, wie ein hoher Offizier die kleinen Skrupel bekämpft, die ihn befallen, wenn vor seinen Augen ein Wehrloser massakriert wird. Am Ende dient der Brief dazu, der verwöhnten jungen Ehefrau des Offiziers die Augen zu öffnen und sie erkennen zu lassen, wie schmutzig die Privilegien sind, die sie genießt.
Und was ist mit Salim, dem jungen Exilanten in Benghasi, der den Namen seiner geliebten Saima nicht einmal unter der Folter preisgeben wollte? Er hat trotz allem sein Ziel erreicht, denn er wusste von Anfang an, dass nur der wirklich aufrichtig sein kann, der sich mit seinen Worten "an niemanden wendet, höchstens an sich selber".
Bereits in "Der falsche Inder" hat Abbas Khider auf kunstvolle Weise mit dem Motiv der Schrift gespielt, deren Botschaft die Erlösung, aber auch den Tod bringen kann. Auch der Brief in die Auberginenrepublik Irak, wo es nach zwei Kriegen und westlichen Boykottmaßnahmen außer Auberginen oft kaum genug zu essen gab, ist ein janusköpfiges Dokument, Quelle des Trostes wie der Verzweiflung. Für Salim ist seine Botschaft an die ferne Geliebte auch ein Schreiben an sich selbst und an das Nichts, dass sich nur aushalten lässt, solange wir ihm mit Worten begegnen.
Abbas Khider: "Brief in die Auberginenrepublik". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2013. 155 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kein Großwerk, doch ein lesenswertes Buch wittert Meike Fessmann bei diesem Roman von Abbas Khider. Vermisst sie den Übermut des ersten, die nüchterne wie poetische Sprache des zweiten, so bietet ihr Khiders dritter Roman, in dem der Autor die Liebesbriefe seiner Figur quer durch die arabischen Diktaturen befördern und die jeweiligen Übermittler erzählen lässt, immerhin eine Menge Pointen, ein Schweben zwischen Komik und Tragik und den Genuss von Khiders Fähigkeit, mit wenigen Worten den Alltag im Irak, in Jordanien, Ägypten, Syrien etc. vor Beginn des arabischen Frühlings zu beschreiben. Ferner lernt Fessmann mittels der verblüffend einfachen wie wirkungsvollen Idee, mit den Briefstationen verschiedene Erzähler zum Zuge kommen zu lassen, wie selektiv sich Wirklichkeit wahrnehmen lässt und wie wenig sich Gut und Böse, Opfer und Täter in diesem Kontext voneinander trennen lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2013Von Bengasi
nach Bagdad
Abbas Khider über den Alltag arabischer Diktaturen
Wie viele Finten, Tricks und glückliche Zufälle es braucht, um eine Diktatur zu überleben und im Exil zu bestehen, davon erzählt Abbas Khider, seit er vor fünf Jahren mit seinem Buch „Der falsche Inder“ auf Deutsch debütierte. Dieses Wunderwerk, das in Form einer Schelmengeschichte die eigene Lebenserfahrung zu einem vielstimmigen Roman verarbeitete, hat dem deutschen Leser eine Welt erschlossen, die er nicht kennt, auch dann nicht, wenn er mit gültigen Reisepapieren auf dem ganzen Globus unterwegs ist: jene Schattenwelt aus Angst, tödlicher Bedrohung, riskanten Grenzübertritten, zeitweiligen Ruhepausen und Getriebensein, in der Flüchtlinge existieren müssen, die auf illegalen Wegen in ein besseres Leben zu kommen hoffen.
Auch der zweite, im Irak der Achtziger- und Neunzigerjahre spielende Roman, „Die Orangen des Präsidenten“, erzählt von einer Grenzerfahrung: Wie man ein Gefängnis überleben kann, in dem Hunger und Folter an der Tagesordnung sind. Für beide Bücher wurde der 1973 in Bagdad geborene und über zahlreiche Länder nach Deutschland geflohene Schriftsteller zu Recht bewundert und gepriesen. Nun legt er seinen dritten Roman vor. „Brief in die Auberginenrepublik“ kehrt nach den Erfahrungen des arabischen Frühlings noch einmal in die Zeit zurück, in der das Internet noch nicht jenes Medium war, das Diktaturen ins Wanken bringt.
Äußerlich hat diese Prosa vieles mit ihren Vorgängern gemeinsam. Doch ihre innere Bewegung ist genau umgekehrt: die ersten Etappen der Flucht, also der Weg von Bagdad nach Bengasi, wird nun in entgegengesetzter Richtung zum roten Faden der Handlung. Es ist auch kein Mensch, der hier reist, sondern ein Brief. In den ersten Oktobertagen 1999 ist er von Gaddafi City, dem schäbigsten Viertel der libyschen Hafenstadt Bengasi, nach Saddam City, dem Armenviertel von Bagdad, unterwegs.
Salim, ein junger muslimischer Iraker, der für das Lesen verbotener Bücher verhaftet wurde und nach kurzem Gefängnisaufenthalt fliehen konnte, schickt ihn auf illegalen Wegen an seine Geliebte, eine kurdische Christin, die er noch immer in Bagdad wähnt. Zwei Jahre sind seit ihrem letzten Treffen vergangen, jeden Tag hat er an sie gedacht und ihr unzählige Briefe geschrieben. Aus Furcht, ihr zu schaden, schickte er sie niemals ab. Erst als er von dem illegalen Netzwerk aus Bussen, Taxis und Lkw erfährt, das Postsendungen als Beiladungen quer durch die arabischen Staaten schmuggelt, kann er endlich tun, was ihm wichtig ist: Samia seine Liebe erklären und ihr mitteilen, dass es ihm gut geht und dass er kein Verräter ist, obwohl er so schnell aus der Haft entlassen wurde.
Sieben Stationen durchläuft der Brief auf seinem Weg von Libyen über Ägypten und Jordanien in den Irak, drei davon allein in Bagdad. Jeder, der ihn in Händen hält, wird zum Erzähler. Eine schlichte Idee mit verblüffender Wirkung. Denn so erhalten wir nicht nur Einblick in sieben verschiedene Innenwelten, sondern erleben mit, wie selektiv der jeweilige Ich-Erzähler wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Wie in einem Reigen kehren Motive und Konstellationen wieder. Es wimmelt von Akademikern, die sich im Exil mit Hilfsjobs durchs Leben schlagen müssen. Salim beispielsweise hat Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet in Bengasi auf dem Bau. Und es wimmelt auch von Geschäftemachern, die aus der Not der anderen Kapital schlagen, wie jener Leiter eines Reisebüros in Kairo, das als Umschlagplatz der illegalen Sendungen fungiert, mit denen sich 10 000 bis 20 000 Dollar im Monat verdienen lassen, oder der Polizist, der in einem Bagdader Gefängnis Bestechungsgelder annimmt, weil er von einer kleinen Villa am Tigris träumt.
Komprimiert auf engstem Raum, werden die Lebensläufe der sieben Ich-Erzähler mit lauter Binnengeschichten verzahnt. So entsteht eine Art Wimmelbild von Schicksalen, die sich allesamt nicht nach dem Muster von Gut und Böse sortieren lassen. Viele sind zugleich Opfer und Nutznießer der diktatorischen Regime, unter denen sie leben. Manches, was Abbas Khider in seinen ersten Romanen ausführlicher erzählt hat, setzt er nun mit wenigen Pinselstrichen ins Bild, etwa welche Nationalitäten in welchen arabischen Ländern Aufenthaltsgenehmigungen oder nur Transitvisa erhalten und wie sich sogar deren Dauer nach dem Stand der Beziehungen ihrer Despoten richtet; noch sind Saddam Hussein, Gaddafi, Mubarak, Hafis al-Assad und Abdullah II. bin al-Hussein an der Macht.
Da kommen beispielsweise auf dem Weg von Bengasi nach Kairo ein Syrer und drei Ägypter zusammen, die im Schutzraum eines Taxis offen miteinander reden, bevor der Syrer an der libyschen Grenze abgefangen wird. Auf einer anderen Station des Briefes kauft der irakische Lkw-Fahrer in Amman noch ein Spielzeug für seinen Enkel. Er fühlt sich schuldig am Tod seines Sohnes, den er am Ende des irakisch-iranischen Kriegs zurück an die Front schickte, weil er fürchtete, als Deserteur verliere er seinen Medizin-Studienplatz. Als er nach dem Einkauf in einem Taxi sitzt, muss er sich die Lobeshymnen des jordanischen Fahrers auf Saddam anhören. Dabei erfahren wir auch, was es mit dem Titel auf sich hat: während des Handelsembargos gegen den Irak waren Auberginen das Einzige, was jederzeit und im Überfluss vorhanden war. Der Jordanier attestiert dem Iraker prompt, er gehöre zu einem „lustigen Völkchen“, wenn es solche Spitznamen für ein Land findet, das einst zum stolzen Mesopotamien gehörte.
Dass die illegalen Briefsendungen schließlich doch in den Händen der Sicherheitspolizei landen, die sie nach der Auswertung weiterleitet, ist nur eine der vielen Pointen des Romans, die meist in der Schwebe zwischen Tragik und Komik bleiben. Die Einfühlungsgabe des Autors ist erstaunlich. Selbst der Oberst des Geheimdienstes, dessen Familie mit Saddam Hussein verkehrt, darf bei aller Brutalität ein fürsorglicher Familienvater sein. Seine Frau immerhin – sie ist die einzige Erzählerin – begreift bei der Lektüre von Salims Brief, den sie vom Schreibtisch ihres Mannes entwendet, dass ihr saturiertes Leben auf Kosten anderer geht. Um ihn eigenhändig zuzustellen, fährt sie zum ersten Mal nach Saddam City und ist völlig überrascht von dem Elend, das sie bisher nicht zur Kenntnis nahm.
Abbas Khider gelingt ein flimmerndes Porträt des Alltags in den arabischen Diktaturen. Doch haben die Schicksale, die er aufruft, etwas Ephemeres. Ohne das Hintergrundwissen seiner früheren Bücher bleiben sie nicht im Gedächtnis haften. Denn er greift auch dort zur Verknappung, wo Entfaltung notwendig wäre. Schmerzlich vermisst man den erzählerischen Übermut seines ersten Romans und das schöne Schweben zwischen Nüchternheit und Poesie, das die Sprache seines zweiten Romans auszeichnete. Aber warum sollte man ihm nicht auch einmal ein Nebenwerk zugestehen? Das nächste Hauptwerk kommt bestimmt. Wahrscheinlich muss er dafür auf eine innere Reise gehen.
MEIKE FESSMANN
Ein Brief auf der Reise –
jeder, der ihn in der Hand hält,
wird zum Erzähler
Am Ende landen die illegalen
Briefe doch in den
Händen der Sicherheitspolizei
Abbas Khider: Brief in die Auberginenrepublik. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2013. 160 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nach Bagdad
Abbas Khider über den Alltag arabischer Diktaturen
Wie viele Finten, Tricks und glückliche Zufälle es braucht, um eine Diktatur zu überleben und im Exil zu bestehen, davon erzählt Abbas Khider, seit er vor fünf Jahren mit seinem Buch „Der falsche Inder“ auf Deutsch debütierte. Dieses Wunderwerk, das in Form einer Schelmengeschichte die eigene Lebenserfahrung zu einem vielstimmigen Roman verarbeitete, hat dem deutschen Leser eine Welt erschlossen, die er nicht kennt, auch dann nicht, wenn er mit gültigen Reisepapieren auf dem ganzen Globus unterwegs ist: jene Schattenwelt aus Angst, tödlicher Bedrohung, riskanten Grenzübertritten, zeitweiligen Ruhepausen und Getriebensein, in der Flüchtlinge existieren müssen, die auf illegalen Wegen in ein besseres Leben zu kommen hoffen.
Auch der zweite, im Irak der Achtziger- und Neunzigerjahre spielende Roman, „Die Orangen des Präsidenten“, erzählt von einer Grenzerfahrung: Wie man ein Gefängnis überleben kann, in dem Hunger und Folter an der Tagesordnung sind. Für beide Bücher wurde der 1973 in Bagdad geborene und über zahlreiche Länder nach Deutschland geflohene Schriftsteller zu Recht bewundert und gepriesen. Nun legt er seinen dritten Roman vor. „Brief in die Auberginenrepublik“ kehrt nach den Erfahrungen des arabischen Frühlings noch einmal in die Zeit zurück, in der das Internet noch nicht jenes Medium war, das Diktaturen ins Wanken bringt.
Äußerlich hat diese Prosa vieles mit ihren Vorgängern gemeinsam. Doch ihre innere Bewegung ist genau umgekehrt: die ersten Etappen der Flucht, also der Weg von Bagdad nach Bengasi, wird nun in entgegengesetzter Richtung zum roten Faden der Handlung. Es ist auch kein Mensch, der hier reist, sondern ein Brief. In den ersten Oktobertagen 1999 ist er von Gaddafi City, dem schäbigsten Viertel der libyschen Hafenstadt Bengasi, nach Saddam City, dem Armenviertel von Bagdad, unterwegs.
Salim, ein junger muslimischer Iraker, der für das Lesen verbotener Bücher verhaftet wurde und nach kurzem Gefängnisaufenthalt fliehen konnte, schickt ihn auf illegalen Wegen an seine Geliebte, eine kurdische Christin, die er noch immer in Bagdad wähnt. Zwei Jahre sind seit ihrem letzten Treffen vergangen, jeden Tag hat er an sie gedacht und ihr unzählige Briefe geschrieben. Aus Furcht, ihr zu schaden, schickte er sie niemals ab. Erst als er von dem illegalen Netzwerk aus Bussen, Taxis und Lkw erfährt, das Postsendungen als Beiladungen quer durch die arabischen Staaten schmuggelt, kann er endlich tun, was ihm wichtig ist: Samia seine Liebe erklären und ihr mitteilen, dass es ihm gut geht und dass er kein Verräter ist, obwohl er so schnell aus der Haft entlassen wurde.
Sieben Stationen durchläuft der Brief auf seinem Weg von Libyen über Ägypten und Jordanien in den Irak, drei davon allein in Bagdad. Jeder, der ihn in Händen hält, wird zum Erzähler. Eine schlichte Idee mit verblüffender Wirkung. Denn so erhalten wir nicht nur Einblick in sieben verschiedene Innenwelten, sondern erleben mit, wie selektiv der jeweilige Ich-Erzähler wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Wie in einem Reigen kehren Motive und Konstellationen wieder. Es wimmelt von Akademikern, die sich im Exil mit Hilfsjobs durchs Leben schlagen müssen. Salim beispielsweise hat Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet in Bengasi auf dem Bau. Und es wimmelt auch von Geschäftemachern, die aus der Not der anderen Kapital schlagen, wie jener Leiter eines Reisebüros in Kairo, das als Umschlagplatz der illegalen Sendungen fungiert, mit denen sich 10 000 bis 20 000 Dollar im Monat verdienen lassen, oder der Polizist, der in einem Bagdader Gefängnis Bestechungsgelder annimmt, weil er von einer kleinen Villa am Tigris träumt.
Komprimiert auf engstem Raum, werden die Lebensläufe der sieben Ich-Erzähler mit lauter Binnengeschichten verzahnt. So entsteht eine Art Wimmelbild von Schicksalen, die sich allesamt nicht nach dem Muster von Gut und Böse sortieren lassen. Viele sind zugleich Opfer und Nutznießer der diktatorischen Regime, unter denen sie leben. Manches, was Abbas Khider in seinen ersten Romanen ausführlicher erzählt hat, setzt er nun mit wenigen Pinselstrichen ins Bild, etwa welche Nationalitäten in welchen arabischen Ländern Aufenthaltsgenehmigungen oder nur Transitvisa erhalten und wie sich sogar deren Dauer nach dem Stand der Beziehungen ihrer Despoten richtet; noch sind Saddam Hussein, Gaddafi, Mubarak, Hafis al-Assad und Abdullah II. bin al-Hussein an der Macht.
Da kommen beispielsweise auf dem Weg von Bengasi nach Kairo ein Syrer und drei Ägypter zusammen, die im Schutzraum eines Taxis offen miteinander reden, bevor der Syrer an der libyschen Grenze abgefangen wird. Auf einer anderen Station des Briefes kauft der irakische Lkw-Fahrer in Amman noch ein Spielzeug für seinen Enkel. Er fühlt sich schuldig am Tod seines Sohnes, den er am Ende des irakisch-iranischen Kriegs zurück an die Front schickte, weil er fürchtete, als Deserteur verliere er seinen Medizin-Studienplatz. Als er nach dem Einkauf in einem Taxi sitzt, muss er sich die Lobeshymnen des jordanischen Fahrers auf Saddam anhören. Dabei erfahren wir auch, was es mit dem Titel auf sich hat: während des Handelsembargos gegen den Irak waren Auberginen das Einzige, was jederzeit und im Überfluss vorhanden war. Der Jordanier attestiert dem Iraker prompt, er gehöre zu einem „lustigen Völkchen“, wenn es solche Spitznamen für ein Land findet, das einst zum stolzen Mesopotamien gehörte.
Dass die illegalen Briefsendungen schließlich doch in den Händen der Sicherheitspolizei landen, die sie nach der Auswertung weiterleitet, ist nur eine der vielen Pointen des Romans, die meist in der Schwebe zwischen Tragik und Komik bleiben. Die Einfühlungsgabe des Autors ist erstaunlich. Selbst der Oberst des Geheimdienstes, dessen Familie mit Saddam Hussein verkehrt, darf bei aller Brutalität ein fürsorglicher Familienvater sein. Seine Frau immerhin – sie ist die einzige Erzählerin – begreift bei der Lektüre von Salims Brief, den sie vom Schreibtisch ihres Mannes entwendet, dass ihr saturiertes Leben auf Kosten anderer geht. Um ihn eigenhändig zuzustellen, fährt sie zum ersten Mal nach Saddam City und ist völlig überrascht von dem Elend, das sie bisher nicht zur Kenntnis nahm.
Abbas Khider gelingt ein flimmerndes Porträt des Alltags in den arabischen Diktaturen. Doch haben die Schicksale, die er aufruft, etwas Ephemeres. Ohne das Hintergrundwissen seiner früheren Bücher bleiben sie nicht im Gedächtnis haften. Denn er greift auch dort zur Verknappung, wo Entfaltung notwendig wäre. Schmerzlich vermisst man den erzählerischen Übermut seines ersten Romans und das schöne Schweben zwischen Nüchternheit und Poesie, das die Sprache seines zweiten Romans auszeichnete. Aber warum sollte man ihm nicht auch einmal ein Nebenwerk zugestehen? Das nächste Hauptwerk kommt bestimmt. Wahrscheinlich muss er dafür auf eine innere Reise gehen.
MEIKE FESSMANN
Ein Brief auf der Reise –
jeder, der ihn in der Hand hält,
wird zum Erzähler
Am Ende landen die illegalen
Briefe doch in den
Händen der Sicherheitspolizei
Abbas Khider: Brief in die Auberginenrepublik. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2013. 160 Seiten, 18 Euro.
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