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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Unbekannt verzogen: Annette Pehnt erinnert sich in ihrem Roman "Briefe an Charley" an eine vergangene Liebe
Wer verlassen wird, hat verschiedene Möglichkeiten des Trauerns. Die Ich-Erzählerin in Annette Pehnts Roman versucht es mit Briefen. Jahre nach der Trennung von Charley ist der Mann ihr immer noch nah. Es ist Januar, der Schnee vom Vortag schon wieder weg, auf den Straßen Matsch und Silvesterasche. Die richtige Stimmung, um am Schreibtisch zu bleiben und sich zu erinnern, wie das damals zu zweit war: "Noch keine richtigen Berufe haben. Warten, aber nicht zu sehr. Ein Stipendium haben, einen Projektvertrag haben, was schreiben, ein paar Fotos machen, mal Musik machen, mit dem Buddhismus liebäugeln, mit Roland Barthes liebäugeln, mal Freud lesen, mal bei den Soziologen reinschauen ..." Das klingt nach einer wunderbaren Zeit, gefüllt mit Lektüren in Hängematten, Wandern und Zelten und Urlauben und Diskussionen. Charley fehlt irgendwie, und weit schlimmer noch: Er hat vermutlich längst geheiratet. Vielleicht eine "Laura"? Man wird es nicht wissen, denn die Briefe bleiben so unabgeschickt wie Petrarcas berühmte "Briefe an Laura". Und auch der moderne, unerreichbare Charley taugt gut als Projektionsfläche und Quelle dichterischer Inspiration.
Annette Pehnt, 1967 in Köln geboren, lebt in Freiburg. Sie ist eine Meisterin in der Beschreibung von Zuständen der Rastlosigkeit. Oft gibt es in ihren Büchern Unerledigtes. In ihrem 2012 erschienenen großen Roman "Chronik der Nähe" etwa sezierte sie komplizierte Mutter-Töchter-Beziehungen; 2013 folgte das "Lexikon der Angst", eine unheimliche Geschichtssammlung. Zuletzt hat sie mit Friedemann Holder und Michael Staiger eine "Bibliothek der ungeschriebenen Bücher" herausgegeben: von Autorenkollegen angeforderte Ideenskizzen, zu welchen Studenten der Karlsruher Hochschule für Gestaltung Buchumschläge entwarfen; ein träumerisches, visionäres Buch über nie realisierte Projekte.
Jetzt also eine Kreisbewegung um die schmerzende Wunde Charley in loser Form. Notate übers Wetter, den Besuch von Ausstellungen (Louise Bourgeois' "Angstkathedralen") und Erinnerungen an Charley (eigentlich Karl) wechseln sich ab mit Erörterungen entdeckter Lieblingstextstellen, etwa vom Philosophen Roland Barthes. Auszüge seines Buches "Fragmente einer Sprache der Liebe" leiten jeden Brief ein und liefern die Stichworte für den Pehntschen Liebesdiskurs - große Sätze, zum Beispiel über die Zeit: "Das Imperfekt ist die Zeit der Faszination: das hat den Schein von Leben und regt sich doch nicht: unvollkommene Gegenwart, unvollkommener Tod; weder Vergessen noch Auferstehen; einfach die ermüdende Illusion des Gedächtnisses."
Diesem Aggregatzustand zwischen Schein und Sein nähern sich die Briefe an. Am schönsten sind sie, wenn sie das Vergangene wie ein säkulares Gebet beschwören und Charley, die Leerstelle im Text, in immer neuen, knappen Sätzen fassen: "Nicht antworten und dann plötzlich doch. Immer dann, wenn ich nicht wartete, und manchmal hatte ich die Fragen schon fast vergessen." Im Stenogrammstil werden Fähigkeiten und Mängel aufgezählt. Sich eine "neue Haut" für Charley auszudenken wird zur Obsession der Liebeskranken. Mal phantasiert sie ihn als Forstmann im Wald, dann als Flüchtlingshelfer. Sie strotzt vor Ideen und ringt mit banalen Entscheidungen: Soll sie die Neue an Charleys Seite zur Sekretärin oder Jungärztin machen? Eine Diagnose ihrer Krankheit findet sie schließlich gleichfalls in der Liebesbibel von Roland Barthes: "acedia, Trockenheit des Herzens". "Sie hat sich in mir ausgebreitet, papierne Lustlosigkeit, und selbst wenn eine Begeisterung entsteht, hat sie nicht die gleiche Saftigkeit wie früher, weil ich sie für mich behalte." - Eine Autorin in der Krise?
Im Gegenteil. Man fühlt sich zwar mitunter wie im Vorhof zum Roman, zwischen provisorischen Figurenskizzen, die gehoben und wieder verworfen werden. Der Werkstattcharakter aber passt zum Thema der nur erinnerten Liebe und des damit verbundenen labyrinthischen Denkens. Und weil die Ich-Erzählerin Bücher schreibt, finden sich viele poetologische Passagen, mal ernsthafter, mal mit ironischem Witz versetzt. Und wenn es bei Annette Pehnt schlicht heißt: "Aus dem Fenster schauen: was kann ich brauchen für meinen Brief?", dann ist damit eine explizite Haltung verbunden, die auch andere ihrer Werke kennzeichnet: Leicht amüsiert, aber anteilnehmend. In den Passagen zu Charley oder der Tochter Zimmy liegt sogar eine große Zartheit. Ganz beiläufig lässt sie dabei die spezifischen Probleme beim Alleinerziehen mit einfließen und die authentischen Momente dieses so ganz anderen Alltags aufscheinen.
Schon immer bildeten ja die vielen ungesättigten Leben, der Mangel und das Vermissen den Antrieb fürs Erzählen. Friederike Mayröcker, die ihren Gefährten Ernst Jandl als stillen Adressaten in viele ihrer Texte einarbeitete, ist neben Roland Barthes denn auch die zweite Hausheilige und der Roman "Briefe an Charley" durchaus als Hommage an die großen Vordenker zu lesen. In der Auseinandersetzung findet die Erzählerin Halt. Sie skizziert mit Vergnügen am Wort die ungelebten Existenzen und probiert Geschichten an - vielleicht auf dem Sprung zu einem größeren Stoff. Danach wendet sie sich gut gewappnet der Gegenwart zu wie einem langjährigen Partner, den man übersehen hat und jetzt wieder entdeckt.
So erzählt Annette Pehnt von der Schönheit des Erfindens, dem ein Produktionsfluch innewohnt. "Ich möchte jemand werden, die nicht mehr sammelt, sondern verliert", lautet denn auch einer der Kernsätze dieser Selbstvergewisserungsbriefe. Ebendiese Klarheit und Freiheit, die das Loslassen verspricht, umspielt der Roman "Briefe an Charley" mit lakonischer Eloquenz.
ANJA HIRSCH
Annette Pehnt: Briefe an Charley. Roman.
Piper Verlag, München 2015. 174 S., geb., 18 [Euro].
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