Rilkes berühmte "Briefe an einen jungen Dichter" zum ersten Mal ergänzt um die Briefe von Franz Xaver Kappus. Mit zehn kurzen Briefen hat Rainer Maria Rilke in den Jahren 1903-1908 ungewöhnlich couragierte Ratschläge und Leitlinien für Kunstschaffende gegeben. Er selbst hat sie nicht veröffentlicht, doch Franz Kappus, der Adressat, hat sie 1929 nach dem Tod des Dichters herausgegeben und damit den Grundstein für ein Erfolgsbuch in vielen Ländern, Sprachen und Kulturen gelegt. Die "Briefe an einen jungen Dichter" sind das unentbehrliche gedruckte Brevier für Künstler und Kreative am entscheidenden Punkt ihrer Karriere geworden und bis heute geblieben, während sich Rilkes Brief-Manuskripte seit 1953 im Dunkel verloren haben. Nun sind die Briefe von Franz Kappus - bis auf das erste Schreiben - erstmals zugänglich geworden. Mit ihnen ist auch erkennbar, auf welche Fragen Rilke geantwortet hat, Fragen, die auch seine Briefe in neuem Licht erscheinen lassen. Sie haben ihre Aktualität nicht verloren und an Aussagekraft gewonnen.
»Unvergängliche Wahrheitssuche und aus der Zeit gefallenes Pathos in trautem Nebeneinander.« (Gregor Dotzauer, Der Tagesspiegel, 20.04.2019) »Zeitlose Briefe über den Schaffensprozess und geliebte Bücher, die jeden Literaturfreund erfreuen werden.« (Freya Rickert, ekz.bibliotheksservice, 23.04.2019) »Es ist eines dieser Bücher, die wieder und wieder gelesen werden müssen.« (Linn Penelope Micklitz, kreuzer-leipzig.de, 26.02.2020) »Es ist ein Buch entstanden, das auf der ganzen Linie eine wahre Freude ist.« (Sandra von Siebenthal, Denkzeiten-Blog, 24.08.2021) »Der Briefwechsel, zuweilen erschütternd rührend, mutig und liebevoll im Ton gehalten, ist in seiner Rollenverteilung - hier der fragende, unsichere Kappus, da der Antwort gebende Rilke - auch universell lesbar.« (Ulrike Hug-Stüwe, NZZ Bellevue, 30.12.2022) »Wer bisher glaubte, das bekannteste Buch Rainer Maria Rilkes, die Briefe an einen jungen Dichter, zu kennen, muss nun sein Urteil revidieren. Die neuste Edition (...)bringt nicht nur (bis auf den ersten) die Gegenbriefe des Adressaten Franz Xaver Kappus, sondern stellt sie in einem luziden Kommentar auch in das richtige Verhältnis zu diesem.« (Wolfgang Bock, Glanz und Elend, 11.07.2022) »In dieser Edition der beiden Briefeschreiber bleiben die Fadenenden der Geschichte lose. Sie werden am Ende nicht künstlich harmonisiert oder verödet. Die Welt öffnet sich so auf eine andere Weise.« (Wolfgang Bock, Glanz und Elend, 11.07.2022) »in die Entstehung und Rezeption der Korrespondenz geben uns das Nachwort und die Endnoten erhellende Einblicke« (Christian Mariotte, literaturkritik.de, 06.06.2022) »Das ist eins dieser ganz seltenen Bücher, das einen während des Lesens verändert und danach mit ganz vielen (schönen) Gedanken zurücklässt.« (Josefine Maria Farkas, MDR Kultur, 12.01.2024)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2019Mamatschi, schenk mir ein Verschen!
Geht es nicht ein bisschen konkreter, Meister? Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" in einer neuen Edition
Im Film "Sister Act II" versucht Whoopie Goldberg eine Schülerin von der Berufung zur Sängerin zu überzeugen. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich einst an Rainer Maria Rilke gewandt habe: "I wanna be a writer, please read my stuff." Rilke habe dem Möchtegern-Autor daraufhin erklärt, er solle einfach darauf achten, ob er morgens aufwache und an nichts anderes als ans Schreiben denken könne. Dann sei er ein Dichter. Die Schülerin, gespielt von der großartig enerviert augenrollenden Lauryn Hill, hält das für eine sehr lustige Story: "But what's the point?" Und Goldberg antwortet: "Read the book."
Natürlich funktioniert die Strategie. Und nicht nur im Film: Dennis Hopper fand in den "Briefen an einen jungen Dichter" sein "Credo der Kreativität". Dustin Hoffman erklärte kurz und bündig: "It's my bible." In den Pop-Parnass gelangten die "Briefe" durch ein Tattoo-Zitat auf dem Oberarm von Lady Gaga, die bei Konzerten ausführlich ihre liebsten Rilke-Stellen rezitiert. Sie hat sich als Körperschmuck die zentrale Passage über den "Grund" künstlerischer Ambitionen ausgewählt: "Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Muß ich schreiben?" Das ist philologisch zwar nicht ganz korrekt, weil im Tätowierstudio ein überleitender Satz verlorengegangen ist, aber so viel Platz ist ja selbst auf einem gut durchtrainierten Arm auch wieder nicht.
"Please read my stuff!" - leider wurde der erste Brief, den der Offiziersanwärter Franz Xaver Kappus im Spätherbst 1902 an Rilke gesandt hat, nicht überliefert. Dafür haben sich elf weitere Schreiben und einige Gedichte erhalten, die nun von Erich Unglaub erstmals gemeinsam mit den berühmten Antwortbriefen Rilkes ediert, kommentiert und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen wurden. Auf dieser neuen Quellengrundlage lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Anfrage im Original nicht ganz so lässig geklungen haben dürfte wie Whoopie Goldbergs prägnante Formulierung. Kappus bemühte sich um den hohen Rilke-Ton. Er las die Briefe wie eine heilige Schrift, "anvertraut mit der schlichten Größe des Evangeliums und dem Reichtum märchengeborener Könige".
Rilke gab Kappus im Wesentlichen einen Tipp: Er möge derjenige werden, der er eigentlich schon ist, ohne Rücksicht auf seine Umwelt. Wer aber war Kappus? Er verehrte Rilke und zugleich Heine, vermutete hinter jedem Wort Richard Dehmels "tausend Gedanken" oder gar keinen. Einmal zog es ihn in den Trubel der Metropole, dann wieder in entlegenste Garnisonsstandorte. Angesichts dieser turbulenten Interessenlage empfahl Rilke Duldsamkeit und Einsamkeit. Meinte er aber die innere oder die äußere Einsamkeit? Gerade schmerzhafte Erfahrungen erklärt Rilke für wertvoll, weil sie zur inneren Entwicklung beitragen. Das therapeutische Mantra lautet: "Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen."
Sobald Kappus einen konkreten Ratschlag erhielt, befolgte er ihn umgehend und studierte etwa das Werk das dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen oder verzichtete darauf, Liebesgedichte zu schreiben. Meistens aber blieben die Hinweise Rilkes zu abstrakt, um zu entscheiden, ob das Leben der inneren "Notwendigkeit" folgt oder sich auf Irrwegen befindet. Rilke, der beredte Dichter mit entschiedenem Hang zum Unsagbaren, verhielt sich zum Nagel wie der sprichwörtliche Pudding. Kappus möge sich von seiner ironischen Neigung nicht beherrschen lassen, die Ironie aber sehr wohl "rein" gebrauchen. Er soll sich an das "Kleine" halten, das zugleich das "Große und Unermeßliche" in sich berge. Kappus müsse "geduldig sein wie ein Kranker und zuversichtlich wie ein Genesender" und sich noch dazu als sein eigener Arzt begreifen. Fragen, so erklärte Rilke dem auf den Knien seines Herzens Ratsuchenden, seien nicht dazu da, um beantwortet, sondern um gelebt zu werden - "vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein".
Nun ja, möchte man sagen, vielleicht auch nicht. Beides ist möglich und passt ins Konzept. Und so musste sich Rilke auch die Überraschung nicht anmerken lassen, als Kappus die Andeutungen endlich sein ließ und die "wichtigste Verwandlung" seiner Seele exakt auf den Augenblick zurückdatiert, als "im ungestümen Liebesdrang mein verquältes Knabenherz für den Freund schlug" und sich der Dreizehnjährige "dem gleichaltrigen Freunde hinwarf und ihn liebte und küßte, wie kaum nachher ein Mädchen". Rilke quittierte dieses Bekenntnis mit einer kurzen Rekapitulation der immer gleichen Botschaft. Danach klafft eine beinahe vierjährige Lücke in der Korrespondenz, unterbrochen nur von einer Begegnung nach einer Lesung Rilkes in einer Wiener Buchhandlung.
Arthur Schnitzler hielt Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" für "schön, tief; - und doch - man muss hier sagen ,irgendwie' - ein heilloses Geschwätz". Das stimmte zumindest für Kappus, der nach all den insistierenden Empfehlungen, sich nach innen zu richten und nicht auf Bestätigung von außen zu warten, allen Ernstes ein Drama über sein Leiden an der Welt des Offizierskorps ins Auge fasste. Er wollte es an "alle deutschen Bühnen" schicken, weil es unbedingt aufgeführt werden sollte. Ästhetisch ging Rilke jedenfalls spurlos an Kappus vorüber. Sein größter Erfolg wurde der Schlagertext "Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen". Das Lied war von den Vierzigern bis in die Siebziger - nicht zuletzt durch die Interpretation Heintjes - so grauenvoll erfolgreich, dass noch Steven Spielberg es in "Schindlers Liste" nutzte, um den Nazi-Terror musikalisch zu untermalen.
Rilkes Lebenshilfe funktioniert in ihrer Mischung aus Radikalität und Vagheit, weil sie alle Krisen ins irgendwie Bedeutsame abpuffert. Nicht umsonst haben sich unzählige Leser an den "Briefen" innerlich aufgerichtet und ihre je eigene Notwendigkeit entdeckt, die von Rilkes Vorstellungen sehr weit wegführen konnte. Dies eröffnete den "Briefe" eine popkulturelle Karriere, in deren Verlauf sie eben auch auf dem Gaga-Arm landeten - auf dem linken übrigens, denn ihr Vater, so erklärt die Künstlerin, habe sie gebeten, "wenigstens auf einer Körperseite halbwegs normal zu bleiben". Er sehe ihre "rechte Seite als meine Marylin-Monroe- und meine linke als meine Iggy-Pop-Seite". Von der Sache her hätte das Zitat allerdings genauso gut auf die andere Körperhälfte genadelt werden können, denn Marilyn Monroe war ebenfalls eine begeisterte Rilke-Leserin.
Monroe war auf die "Briefen" zufällig bei einer ihrer regelmäßigen Stippvisiten in ihrer Stammbuchhandlung auf dem Hollywood Boulevard gestoßen. Tatsächlich verkaufen sich die "Briefe" bis heute gerade auf dem amerikanischen Buchmarkt ausgezeichnet und zählen fest zum Sortiment. Dort setzt Ratgeber-Literatur jährlich rund zehn Milliarden Dollar um, und zwar mit steigender Tendenz.
Was bei Rilke zunächst als Abwehrzauber gegen die Moderne daherkam, als Antidot gegen die Welt der Medien, der promisken Sexualität, der sozialen Überforderung und Nivellierung, erweist sich als Effekt einer sehr modernen Arbeit am eigenen Selbst und der Selbstverwirklichung. Die in der Tat bedeutende Prüfungsfrage "Muss ich schreiben?" wird dabei leider allzu häufig positiv beantwortet.
STEFFEN MARTUS
Rainer Maria Rilke: "Briefe an einen jungen Dichter". Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus.
Hrsg. von Erich Unglaub. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 112 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geht es nicht ein bisschen konkreter, Meister? Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" in einer neuen Edition
Im Film "Sister Act II" versucht Whoopie Goldberg eine Schülerin von der Berufung zur Sängerin zu überzeugen. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich einst an Rainer Maria Rilke gewandt habe: "I wanna be a writer, please read my stuff." Rilke habe dem Möchtegern-Autor daraufhin erklärt, er solle einfach darauf achten, ob er morgens aufwache und an nichts anderes als ans Schreiben denken könne. Dann sei er ein Dichter. Die Schülerin, gespielt von der großartig enerviert augenrollenden Lauryn Hill, hält das für eine sehr lustige Story: "But what's the point?" Und Goldberg antwortet: "Read the book."
Natürlich funktioniert die Strategie. Und nicht nur im Film: Dennis Hopper fand in den "Briefen an einen jungen Dichter" sein "Credo der Kreativität". Dustin Hoffman erklärte kurz und bündig: "It's my bible." In den Pop-Parnass gelangten die "Briefe" durch ein Tattoo-Zitat auf dem Oberarm von Lady Gaga, die bei Konzerten ausführlich ihre liebsten Rilke-Stellen rezitiert. Sie hat sich als Körperschmuck die zentrale Passage über den "Grund" künstlerischer Ambitionen ausgewählt: "Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Muß ich schreiben?" Das ist philologisch zwar nicht ganz korrekt, weil im Tätowierstudio ein überleitender Satz verlorengegangen ist, aber so viel Platz ist ja selbst auf einem gut durchtrainierten Arm auch wieder nicht.
"Please read my stuff!" - leider wurde der erste Brief, den der Offiziersanwärter Franz Xaver Kappus im Spätherbst 1902 an Rilke gesandt hat, nicht überliefert. Dafür haben sich elf weitere Schreiben und einige Gedichte erhalten, die nun von Erich Unglaub erstmals gemeinsam mit den berühmten Antwortbriefen Rilkes ediert, kommentiert und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen wurden. Auf dieser neuen Quellengrundlage lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Anfrage im Original nicht ganz so lässig geklungen haben dürfte wie Whoopie Goldbergs prägnante Formulierung. Kappus bemühte sich um den hohen Rilke-Ton. Er las die Briefe wie eine heilige Schrift, "anvertraut mit der schlichten Größe des Evangeliums und dem Reichtum märchengeborener Könige".
Rilke gab Kappus im Wesentlichen einen Tipp: Er möge derjenige werden, der er eigentlich schon ist, ohne Rücksicht auf seine Umwelt. Wer aber war Kappus? Er verehrte Rilke und zugleich Heine, vermutete hinter jedem Wort Richard Dehmels "tausend Gedanken" oder gar keinen. Einmal zog es ihn in den Trubel der Metropole, dann wieder in entlegenste Garnisonsstandorte. Angesichts dieser turbulenten Interessenlage empfahl Rilke Duldsamkeit und Einsamkeit. Meinte er aber die innere oder die äußere Einsamkeit? Gerade schmerzhafte Erfahrungen erklärt Rilke für wertvoll, weil sie zur inneren Entwicklung beitragen. Das therapeutische Mantra lautet: "Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen."
Sobald Kappus einen konkreten Ratschlag erhielt, befolgte er ihn umgehend und studierte etwa das Werk das dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen oder verzichtete darauf, Liebesgedichte zu schreiben. Meistens aber blieben die Hinweise Rilkes zu abstrakt, um zu entscheiden, ob das Leben der inneren "Notwendigkeit" folgt oder sich auf Irrwegen befindet. Rilke, der beredte Dichter mit entschiedenem Hang zum Unsagbaren, verhielt sich zum Nagel wie der sprichwörtliche Pudding. Kappus möge sich von seiner ironischen Neigung nicht beherrschen lassen, die Ironie aber sehr wohl "rein" gebrauchen. Er soll sich an das "Kleine" halten, das zugleich das "Große und Unermeßliche" in sich berge. Kappus müsse "geduldig sein wie ein Kranker und zuversichtlich wie ein Genesender" und sich noch dazu als sein eigener Arzt begreifen. Fragen, so erklärte Rilke dem auf den Knien seines Herzens Ratsuchenden, seien nicht dazu da, um beantwortet, sondern um gelebt zu werden - "vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein".
Nun ja, möchte man sagen, vielleicht auch nicht. Beides ist möglich und passt ins Konzept. Und so musste sich Rilke auch die Überraschung nicht anmerken lassen, als Kappus die Andeutungen endlich sein ließ und die "wichtigste Verwandlung" seiner Seele exakt auf den Augenblick zurückdatiert, als "im ungestümen Liebesdrang mein verquältes Knabenherz für den Freund schlug" und sich der Dreizehnjährige "dem gleichaltrigen Freunde hinwarf und ihn liebte und küßte, wie kaum nachher ein Mädchen". Rilke quittierte dieses Bekenntnis mit einer kurzen Rekapitulation der immer gleichen Botschaft. Danach klafft eine beinahe vierjährige Lücke in der Korrespondenz, unterbrochen nur von einer Begegnung nach einer Lesung Rilkes in einer Wiener Buchhandlung.
Arthur Schnitzler hielt Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" für "schön, tief; - und doch - man muss hier sagen ,irgendwie' - ein heilloses Geschwätz". Das stimmte zumindest für Kappus, der nach all den insistierenden Empfehlungen, sich nach innen zu richten und nicht auf Bestätigung von außen zu warten, allen Ernstes ein Drama über sein Leiden an der Welt des Offizierskorps ins Auge fasste. Er wollte es an "alle deutschen Bühnen" schicken, weil es unbedingt aufgeführt werden sollte. Ästhetisch ging Rilke jedenfalls spurlos an Kappus vorüber. Sein größter Erfolg wurde der Schlagertext "Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen". Das Lied war von den Vierzigern bis in die Siebziger - nicht zuletzt durch die Interpretation Heintjes - so grauenvoll erfolgreich, dass noch Steven Spielberg es in "Schindlers Liste" nutzte, um den Nazi-Terror musikalisch zu untermalen.
Rilkes Lebenshilfe funktioniert in ihrer Mischung aus Radikalität und Vagheit, weil sie alle Krisen ins irgendwie Bedeutsame abpuffert. Nicht umsonst haben sich unzählige Leser an den "Briefen" innerlich aufgerichtet und ihre je eigene Notwendigkeit entdeckt, die von Rilkes Vorstellungen sehr weit wegführen konnte. Dies eröffnete den "Briefe" eine popkulturelle Karriere, in deren Verlauf sie eben auch auf dem Gaga-Arm landeten - auf dem linken übrigens, denn ihr Vater, so erklärt die Künstlerin, habe sie gebeten, "wenigstens auf einer Körperseite halbwegs normal zu bleiben". Er sehe ihre "rechte Seite als meine Marylin-Monroe- und meine linke als meine Iggy-Pop-Seite". Von der Sache her hätte das Zitat allerdings genauso gut auf die andere Körperhälfte genadelt werden können, denn Marilyn Monroe war ebenfalls eine begeisterte Rilke-Leserin.
Monroe war auf die "Briefen" zufällig bei einer ihrer regelmäßigen Stippvisiten in ihrer Stammbuchhandlung auf dem Hollywood Boulevard gestoßen. Tatsächlich verkaufen sich die "Briefe" bis heute gerade auf dem amerikanischen Buchmarkt ausgezeichnet und zählen fest zum Sortiment. Dort setzt Ratgeber-Literatur jährlich rund zehn Milliarden Dollar um, und zwar mit steigender Tendenz.
Was bei Rilke zunächst als Abwehrzauber gegen die Moderne daherkam, als Antidot gegen die Welt der Medien, der promisken Sexualität, der sozialen Überforderung und Nivellierung, erweist sich als Effekt einer sehr modernen Arbeit am eigenen Selbst und der Selbstverwirklichung. Die in der Tat bedeutende Prüfungsfrage "Muss ich schreiben?" wird dabei leider allzu häufig positiv beantwortet.
STEFFEN MARTUS
Rainer Maria Rilke: "Briefe an einen jungen Dichter". Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus.
Hrsg. von Erich Unglaub. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 112 S., geb., 18,- [Euro].
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