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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Gertrud Kolmars Briefe sind ihre bedeutendste autobiographische Hinterlassenschaft: Jetzt gibt es sie in überarbeiteter Neuausgabe
Gertrud Kolmar, 1894 geboren, gehört zu den bedeutendsten, bildkräftigsten Dichterinnen deutscher Sprache. Als Schwester Franz Kafkas wurde sie bezeichnet, mit Walter Benjamin war sie verwandt. Bis Anfang 1943 lebte sie in Berlin, und wenn man nun ihre Briefe der letzten Lebensjahre liest, irritiert zunächst die völlige Privatheit ihrer Auskünfte. Erwartet man von einer Jüdin, die aus der Kommandostadt des Nationalsozialismus schreibt und deren Alltag immer schikanöser wird, Auskünfte über den "Honiggehalt" von "braunen Pfefferkuchen"? Oder liegt darin womöglich eine politische Anspielung?
Je länger Gertrud Kolmar kein einziges unverstelltes Wort über Antisemitismus, Terror und Krieg riskiert, desto mehr erscheinen ihre Briefe von ungeheuerlichen Leerstellen und Aussparungen gekennzeichnet. Das Zeitgeschehen wird nur über die Bande angespielt. Nichts wird direkt touchiert, keine antijüdische Maßnahme erwähnt und keine Schikane beklagt. Es ist eben nur so, dass sie ab 1941 um vier Uhr früh aufstehen und den ganzen Tag Zwangsarbeit leisten muss. Oder dass sie am Wochenende Gewaltmärsche unternimmt, um Besuche im Westend zu machen, als gäbe es keine öffentlichen Verkehrsmittel. Für Juden gab es sie wirklich nicht mehr, ihre Benutzung war seit dem April 1942 verboten.
Die jüdische Identität befestigt sich durch die Verfolgung. Seit je hatte sich die Dichterin in Außenseitern und verworfenen Gestalten gespiegelt: Blinde, Kranke, Irre, Kindsräuberinnen, eine lange Reihe verschreckter Schreckgestalten, an deren Ende die "Jüdin" steht. Im August 1938 schreibt sie: "Ich stecke jetzt mitten im Johannisbeerpflücken, das bei mächtiger Hitze vor sich geht; insofern ,trainiere' ich für Palästina." Zu solchem Training gehören auch die Stunden in hebräischer Konversation, die sie ab April 1940 nimmt und die sie inspirieren, Gedichte in dieser Sprache zu verfassen. Immer wieder ist in den Briefen von Abschieden die Rede, von Freunden und Bekannten, die nach Palästina, Südamerika oder in die Vereinigten Staaten auswandern, aber sie weiß schon, dass ihr eigenes "Training" nur eine Trockenübung und ihr Traum vom "Südosten" unerfüllt bleiben wird.
Dass die Themen Verfolgung und Exil diese Briefe untergründig bestimmen, wird schon dadurch deutlich, dass sie sich zum allergrößten Teil an eine Ausgewanderte richten: die jüngere Schwester Hilde, die im März 1938 mit ihrem Mann und ihrer fünfjährigen Tochter Sabine in die Schweiz emigrierte. Kolmars Werke kreisen obsessiv um das Motiv einer traumatischen Kinderlosigkeit; schmerzlich vermisst sie auch die Nichte, die sie nie wieder sehen wird und der sie zu den Geburtstagen hinreißende Briefe schreibt. So variiert sie im Herbst 1939 das alte Märchen von der Zauberseifenblase, in welche sie sich wie in eine Glaskugel hineinsetzen und über Städte, Flüsse und hohe Berge hinweg bis zur Nichte in der Schweiz fliegen könnte - eine Phantasie der Überwindung räumlicher Beschränkungen, die ihre reale Unüberwindbarkeit täglich deutlicher erweisen: Seifenblase statt Emigration.
Im November 1938 findet der Zwangsverkauf des Elternhauses in Finkenkrug statt. Der Umzug vom westlichen Berliner Stadtrand in eine Wohnung im Bayerischen Viertel steht an, und Gertrud Kolmar will ihren alten Vater, für den sie sorgt und von dessen Vermögen sie lebt, nicht alleinlassen. Sie "müssen und wollen" sich "sehr verkleinern" heißt es - kaum zu entscheiden, in welchem Maß solche Formulierungen des Einverständnisses einer inneren Schicksalsergebenheit oder der Briefzensur geschuldet sind. Das "Verkleinern" geht bald innerhalb der Wohnung weiter, denn ein Zimmer nach dem anderen muss untervermietet werden, es sind die verordneten Zusammenlegungen in den "Judenwohnungen". Es gilt, auf immer engerem Raum zusammenzurücken (bis für Gertrud Kolmar nur eine Bettstelle im Esszimmer bleibt), mit Menschen, die der Dichterin allenfalls Komödienstoff bieten, wie jene ältliche Dame von "unerschöpflichem Redefluss", die "alle Viertelstunden mit irgendeinem neuen Quatsch zu mir kommt" und beschlossen hat, "an gebrochenem Herzen zu sterben". Melancholie ist ihr allerdings selbst nicht fremd - sie vermisst das Harken und Graben im Garten von Finkenkrug, leidet an "Autodünsten" statt Frühlingsluft. Das nördliche Schöneberg bleibt ihr fremd und widrig: "Dies Bayrische Viertel ist im Winter schrecklich, wenn auch nicht schrecklicher als etwa die Tauentzienstraße oder der Nollendorfplatz."
Es ist nicht nur Zensurangst (von 1940 an tragen alle Briefe an die Schwester einen Zensurstempel), die zum Verzicht auf jede Kommentierung politischer Ereignisse führt, sondern auch das Bemühen um eine stoizistische, erhabene, "klassizistische" Haltung gegenüber dem "niederen" Zeitgeschehen, das erst aus der Ferne "richtbar" werde. Man kann von Strategien der Entwirklichung sprechen. Ihr früheres Leben sei ihr nah, schreibt sie - aber "was mir jetzt geschieht ist für mich das Unwirkliche, das Ferne. Wenn ich nicht eigentlich träume, so wache ich doch auch nicht; ich wandle gleichsam durch eine Zwischenwelt, die keinen Teil an mir hat, an der ich keinen Teil habe." So wandelt sie täglich außer sonntags in die Kartonagefabrik Epeco nach Lichtenberg. Trotz der kurzen Nächte und der aufreibenden Schichten in der Fabrik gelingt es ihr, ein wenig zu schreiben, und sie zieht aus diesem "Trotzdem" Bestätigung: "Es muss schon eine wirkliche, echte Kunst sein, die nicht auf stundenlange Muße, nicht auf Schreibtisch und Sessel, auf den Frieden eines Arbeitszimmers ... angewiesen ist, sondern imstand ist, jede Ungunst von Zeit und Raum zu besiegen." Das Argumentationsmuster der subjektiven Bejahung dessen, was ihr objektiv als Verneinung ihrer jüdischen Existenz entgegentritt, wird mit einer gelegentlich an die Ironie Robert Walsers erinnernden Konsequenz verfolgt: Dank der körperlich harten Arbeit bleibe sie auch den ganzen Tag verschont vom Geplapper in der mit zwangseinquartierten Menschen überfüllten Wohnung, allein als Frau unter schweigend schuftenden oder wortkarg werkelnden Männern, von denen sie sich anerkannt fühlt (mit einem Zweiundzwanzigjährigen erlebt die Achtundvierzigjährige im letzten Jahr ihres Lebens eine aufwühlende und beglückende platonische Liebesgeschichte): "Ich merke, dass ich dort ein Heimatgefühl bekomme ... und weiß, dass ich Montag früh die dunklen Hallen mit dem Gefühl betreten werde: ,Wieder zuhause!'"
Die früheren Zeiten mit ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen seien nichts für sie gewesen, dem "Heute" jedoch sei sie "gewachsen". Solche Sätze schreibt sie noch bis zum Dezember 1942, dunkle Ahnungen mischen sich darunter: "So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein." Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihr Vater Ludwig Chodziesner schon in Theresienstadt, wo er im Februar 1943 starb. Wenige Wochen später wurde Gertrud Kolmar mit den anderen Berliner "Rüstungsjuden" nach Auschwitz deportiert und vermutlich gleich nach der Ankunft ermordet. Ihre Briefe, die diese überarbeitete Neuausgabe vollständig versammelt, sind ihre bedeutendste autobiographische Hinterlassenschaft. Texte, in denen mehr zwischen den Zeilen verborgen wäre, in denen das Ungesagte größere Schwerkraft entwickeln würde, sind kaum vorstellbar.
WOLFGANG SCHNEIDER
Gertrud Kolmar: "Briefe". Herausgegeben von Johanna Woltmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 324 S., 24,90 [Euro].
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