Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Erstmals liegt der komplette Briefwechsel zwischen Marina Zwetajewa und Boris Pasternak auf Deutsch vor. Und es gibt auch einen neuen Lyrikband.
Von Hannah Bethke
Es klingt wie ausgedacht. Ein Mann, eine Frau. Eine Lyrikerin, ein Schriftsteller. Nur flüchtig sind sie sich einige Male begegnet. Sie kennen sich vor allem aus ihren Texten. Beide sind verheiratet und Anfang dreißig, als ein Gedichtband der Frau den Mann so ergreift, dass er ihr einen Brief schreibt - der Beginn eines jahrelangen Briefwechsels, der sich zur intensiven, schutzlosen und schmerzhaften Liebe entwickelt. Aber einer, die nur im Kopf existiert.
Marina Zwetajewa (1892 bis 1941) und Boris Pasternak (1890 bis 1960), beide in Moskau geboren, sind die Protagonisten dieser eindrucksvollen Korrespondenz, die sich so liest, als wäre sie selbst eine Erfindung der Lyrik. Erstmals liegt der vollständige Briefwechsel auch auf Deutsch vor. Mit einem akribischen Anmerkungsapparat ausgestattet, bezieht die von Marie-Luise Bott herausgegebene und übersetzte Edition auch die Arbeitshefte Zwetajewas ein.
Pasternak, der aus einem jüdischen Elternhaus stammt, war Anhänger der Oktoberrevolution, rang aber mit dem Kommunismus und bekam die Repressalien der sowjetischen Diktatur zu spüren. Bücher und Briefe wurden zensiert, unter Stalin konnte er kaum noch publizieren. Als er für den Roman "Doktor Schiwago" 1958 den Nobelpreis bekommen sollte, musste Pasternak ihn auf Druck des Moskauer Regimes ablehnen.
Zwetajewa war bis 1922 in Moskau geblieben, 1920 ihre jüngste Tochter Irina an Unterernährung gestorben. Sie emigrierte mit der zweiten Tochter Ariadna nach Berlin, nach der Geburt ihres Sohnes Georgij wanderte sie 1925 von dort nach Paris aus, wo sie in Vororten unter ärmlichsten Verhältnissen lebte. 1939 kehrte sie in die Sowjetunion zurück. Im selben Jahr wurde ihre Schwester wegen angeblich konterrevolutionärer Aktivitäten zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Auch ihre Tochter und ihr Mann Sergej Efron wurden verhaftet. Ariadna kehrte erst 1955 nach sechzehn Jahren Lagerhaft und Verbannung zurück. Zwetajewas Sohn fiel 1944 an der Front in Lettland. Ihr Mann wurde im Oktober 1941 in der Lubjanka, dem Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, erschossen. Zwei Monate zuvor - die deutschen Truppen waren gerade in die Sowjetunion einmarschiert - war Zwetajewa mit ihrem Sohn nach Jelabuga evakuiert worden, wo sie sich kurze Zeit später das Leben nahm.
Im Juli 1922 schreibt Pasternak ihr seinen ersten Brief und spricht sie in männlicher Form an: "mein lieber, teurer, unvergleichlicher Poet". Gerade war ihr Gedichtband "Werstpfähle" erschienen. Eine "Welle von Schluchzern" habe ihn beim Lesen überfallen. Zwetajewa antwortet selbstbewusst, mitunter fordernd - ihr Interesse ist sofort geweckt. Sie kenne Pasternaks Gedichte kaum, erwarte sein Buch - und ihn. Denn damals planten beide, sich zu sehen.
Aus dem ersehnten Auslandsaufenthalt Pasternaks aber wurde nichts. Ein ums andere Mal verfehlten sie sich, die Jahre vergingen, sie hofften auf ein Treffen, schoben es auf, vermissten sich, drängten auf eine Begegnung, fürchteten sie im nächsten Moment. Und so blieb es eine Liebe in Briefen - vielleicht die einzige, die Zwetajewa wirklich ausleben konnte: "Liebe lebt von Worten und stirbt an Taten", schreibt sie in einem Brief an Rainer Maria Rilke von 1926.
Zwetajewa hatte zahlreiche Affären mit Männern und Frauen, blieb trotzdem verheiratet und sah in Pasternak einen seelischen Rettungsanker. "Außer Ihnen habe ich in Russland kein Zuhause", schreibt sie im Juni 1925. Pasternak ist für sie "wie ein Traum, in den man zurück-kehrt". Nach zwei Jahren des Träumens kann sie mit Gewissheit sagen: "Du bist mir durch und durch nah, so unheimlich und schrecklich nah wie ich mir selbst, ohne jede Geborgenheit, wie die Berge. (Das ist keine Liebeserklärung, sondern eine Schicksalserklärung.)"
Auch Pasternak beteuert, seine Ehefrau zu lieben und reinen Gewissens zu sein, obwohl er gleichzeitig erklärt, Zwetajewa derart stark zu lieben, "so ganz und gar, dass ich in diesem Gefühl zu einem Ding werde wie ein im Sturm Badender". Sie sei zu ihm vom Himmel gefallen: "Du bist mein und warst immer mein und mein ganzes Leben ist in Dir." Nicht nur dass er sie atme, sie ist für ihn noch viel mehr: "Du bist von Kopf bis Fuß glühendes verkörpertes Vorhaben, wie auch ich, Du bist die unglaubliche Belohnung für meine Geburt, mein Umherirren, den Glauben an Gott und die Kränkungen."
Es ist eine Liebe, die mit jedem Brief wächst. Erst nach einer Weile legen beide das "Sie" ab. Von Anfang an aber besteht ein tiefes Vertrauen, eine ungewöhnliche Nähe im schriftlichen Gespräch. Seitenlang schreiben hier zwei empfindsame Seelen über ihre Gedichte und das Schreiben, über Selbstzweifel und die Schwere des Lebens, über bittere Armut, Krankheit und Tod, über das, was sie tagtäglich erleben und ineinander sehen. "Schreiben ist Eintreten, ohne anzuklopfen", bemerkt Zwetajewa in einem Brief vom Februar 1923. Und knapp vier Jahre später: "Ich lebe nicht, um Gedichte zu schreiben, sondern ich schreibe Gedichte, um zu leben."
Besonders Pasternak verliert sich oft, setzt kaum Absätze, vermischt tiefe Selbstreflexion mit literarischen Beobachtungen und stark assoziativen Gedankensprüngen. Das erkennt er auch selbst: "Wenn ich meine Briefe noch einmal durchlese, verstehe ich nichts. Und Du? Irgend so eine seminaristische, deprimierende Gebetsmühle!"
Zwetajewa urteilte sehr hart über Pasternaks Prosa. Vielleicht lag sie damit auch nicht so falsch, wenn man an die vernichtende Kritik Vladimir Nabokovs an "Doktor Schiwago" denkt. Er bezeichnete das Buch als "jämmerliche Angelegenheit, unbeholfen, trivial und melodramatisch". Ein wenig von diesem heute so befremdlichen Pathos findet sich in Pasternaks Briefen wieder: "Marina, Du meine Freundin mit der bodenlos tiefen Seele, benachbarter Feuerraum im Kesselhaus des Alltags . . ." Kein Zweifel: Hier sind zwei Besessene am Werk. Auch Zwetajewa verleiht ihren tiefen Gefühlen auf eine mitreißende Art Ausdruck, wie sie uns heute nicht mehr vertraut ist.
Gleichzeitig geht Pasternak mit sich selbst hart ins Gericht. Ständig wertet er sich und sein Schreiben ab, fühlt sich minderwertig, klagt über seine ausgeprägte "Graphophobie" und verfällt auf fast aggressive Weise in Selbstverachtung. In einem Brief vom April 1926 legt er ein Foto von sich bei und schreibt dazu: "Ich bin furchtbar hässlich. Ich sehe genauso aus wie auf dieser Photographie, sie ist gelungen." Zwetajewa antwortete ihm: "Du siehst wunderbar aus auf dem Bild, Boris . . . Das Gesicht der Seele."
In manchen Momenten wird Zwetajewa die Unwirklichkeit dieser Liebe bewusst. Im November 1922 notiert sie in ihr Arbeitsheft: "Nie werde ich glauben, dass es Sie gibt." Und trotzdem sei ihr gemeinsamer Weg, wie sie schreibt, "unumgänglich".
Das spiegelt sich auch in der Lyrik Zwetajewas, deren Liebesgedichte jetzt in einer neuen Sammlung und Übersetzung von Ralph Dutli erschienen sind: "Lob der Aphrodite". Chronologisch geordnet und von einem langen Essay begleitet, sind 150 Gedichte zu finden, etliche davon erstmals auf Deutsch. Der Gedichtzyklus "Zwei" ist Pasternak gewidmet: "Meinem Bruder in der fünften Jahreszeit, im sechsten Sinn und in der vierten Dimension". Schon früh verdunkelte sich Zwetajewas Sicht auf das Leben - und auf die Liebe. Im Alter von 22 Jahren dichtet sie: "Alles Liebesgeflüster kenn ich seit Jahren / Auswendig für allezeit! Meine zweiundzwanzigjährige Erfahrung - / Nichts als Traurigkeit." Solche tiefe Traurigkeit bleibt. Ein knappes Jahrzehnt später schreibt sie: "Ich erkenne die Liebe, wenn alles Nahe / In fernste Ferne stürzt." Sie ertrage die Idylle nicht, auf die alles hinauslaufe, schreibt sie in einem Brief.
Diese große Liebe auf Abstand währt einige Jahre, bis der Briefwechsel plötzlich abbricht. Im März 1931 gesteht Pasternak, eine neue Liebe gefunden zu haben. Er lässt sich scheiden und heiratet drei Jahre später eine andere Frau. Aus Angst vor dem sowjetischen Regime tilgt er eine Widmung für Zwetajewa aus einem seiner Gedichte - was sie zutiefst kränkt. Im Mai 1933, nach langem Schweigen, wirft Zwetajewa ihm vor, für ein Gedicht bei ihr abgeschrieben zu haben. Im Juni 1935 begegnen sie sich noch einmal kurz in Paris. Im Frühjahr 1936 schreibt Zwetajewa den letzten Brief an Pasternak. Sie ist enttäuscht und voller Verbitterung über ihn. Als hätten ihre traurigen Gedichte ihr eigenes Leben vorweggenommen, bleibt von dieser intensiven romantischen Beziehung im Geiste nichts als Zerstörung und Desillusionierung. Fünf Jahre nach diesem letzten Brief wählte Marina Zwetajewa den Tod.
So ungewöhnlich der Briefwechsel ist, so mitreißend seine Geschichte. Er ist Poesie und historisches Zeugnis zugleich. Eine Wohltat in dieser digitalen Zeit, die das Briefeschreiben bald wohl vollständig verlernt haben wird.
Boris Pasternak, Marina Zwetajewa: "Briefwechsel 1922-1936".
Hrsg. und aus dem Russischen von Marie-Luise Bott. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 800 S., geb., 39,90 [Euro]. Erscheint am 29. März.
Marina Zwetajewa: "Lob der Aphrodite". Gedichte von Liebe und Leidenschaft.
Aus dem Russischen und mit einem Essay von Ralph Dutli. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 232 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH