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Für jedes Datum eine Botschaft in eigenen Worten und Fotos: "Das Buch der Tage" der Musikerin Patti Smith ist ein Begleiter durch ein ganzes Jahr.
Patti Smith hat immer fotografiert. Sie hat das schon getan, bevor ihr früherer Freund, der 1989 an AIDS gestorbene Fotograf Robert Mapplethorpe, damit begann. Bereits in ihrem Buch "Babel", das 1980 mit Texten auf Englisch und Deutsch bei Zweitausendeins erschien, gibt es Fotos; einige sind von ihr selbst. Patti Smith benutzte dafür jahrelang ihre Polaroid 250 Land Camera, mit der sie auch auf dem Umschlag ihres neuen Buchs abgebildet ist, das im goldenen Prägedruck auf schwarzem Grund "Buch der Tage" und ihren Namen stehen lässt - gleich im Format und ähnlich in der Aufmachung wie eben bei "Babel", vor nun mehr als vier Jahrzehnten.
Inzwischen setzt Patti Smith für fotografische Erinnerungsarbeit ihr Mobiltelefon ein. Am 20. März 2018 hat sie außerdem ihren Instagram-Account eröffnet, mehr als 1700 Beiträge hat sie seitdem dort gepostet, mehr als eine Million Leute folgen ihr. Sie ist dabei sich selbst und ihrem unverkennbaren Stil treu geblieben. Wie in ihren Büchern zuvor, der "Traumsammlerin" von 2013 oder dem "Jahr des Affen" von 2020, vermischt sie im "Buch der Tage" - das sich ein "Buch der Bilder" nennen ließe - eigene Aufnahmen mit fotografischen Dokumenten, die ihr lieb und wert sind. So ist eine Art Kalender entstanden mit 366 Tagen (für alle, die an einem 29. Februar geboren wurden) und einem Gedicht, das dem 22. April, dem "Tag der Erde", gewidmet ist.
Jedes ihrer Bilder ist mit einer Botschaft in Worten verbunden, denn Patti Smith ist in ihrem Innersten eine Schriftstellerin, eine Dichterin. Alle, die sie, die einstige Leitwölfin des Punks, mit ihrer kreischenden E-Gitarre und ihrer wilden Lyrik je auf der Bühne erlebt haben, wissen das. Sie ist schon immer verschwistert mit den begnadeten Untergehern einer späten Romantik, mit Nerval oder Rimbaud, mit Sinnsuchern wie Hermann Hesse oder Samuel Beckett, mit Grenzgängern wie Jean Genet oder William Burroughs. Und sie lebt ihre Art eines Animismus, im Glauben an die Beseeltheit von Natur und Kreatur und von Dingen, als eine Anwesenheit des Nicht-Sichtbaren. Diese Form der Demut verbindet Patti Smith mit ihrer politischen Einmischung als entschiedene Demokratin, als American artist, wie sie sich selbst bezeichnet hat.
Mit ihr im "Buch der Tage" sind die Lebenden und die Gestorbenen - die eigenen Toten, wie ihr 1994 verstorbener Ehemann, der Musiker Fred "Sonic" Smith, und die von ihr verehrten aus früheren Zeiten, die sie begleiten auf all ihren Wegen. Friedhöfe, Gräber sind Orte, die sie aufsucht, Museen und Gedenkstätten, als Gedächtnisspeicher und Quellen ihrer Inspiration, aber auch Cafés in Weltstädten wie Paris. Es sind die ihr nahen Menschen, denen sie immer wieder einen Tag widmet, ihrem Sohn Jackson und ihrer Tochter Jesse, ihren Musiker- und Künstlerfreunden. Sie arrangiert kunstvoll zufällige Stillleben mit Memorabilia und Büchern, gleichsam Wegmarken ihrer Biographie. So nimmt sie uns, als Gefährtinnen und Gefährten, mit auf ihre wirklichen und imaginären Reisen.
Es ist kein Widerspruch, dass das "Buch der Tage" eine Feier des Lebens ist, Tag für Tag, die Erinnerung als jenes Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können - und das erst Sinn und Zukunft eröffnet. Manche der Fotos kennt die Gemeinde von Patti Smith schon, doch nun erscheinen sie in einem neuen Zusammenhang, jede Seite ein Kalenderblatt. So steht unter dem Bild von ihr und der jüngeren Schwester Linda aus dem Jahr 1952, das schon in "Babel" zu sehen war: "Schwestern. Wahre Liebe" (16. Februar). Zum Foto einer alten Telefonzelle schreibt sie: "Mit einem göttlichen Groschen würde ich vergangene Zeiten anrufen." (18. September). Hermann Hesses Geburtstag wird zur kleinen witzigen Hommage an sich selbst - "die Smith-Premier-Nr.-4-Schreibmaschine, auf der er sein Meisterwerk Das Glasperlenspiel schrieb" (2. Juli).
Ihre lesende Liebesaffäre mit Arthur Rimbaud begann in den Siebzigern. Nun hat sie sein im Ersten Weltkrieg zerbombtes und aus den Trümmern wiederaufgebautes Haus in den Ardennen gekauft, wo er 1873 "Eine Zeit in der Hölle" geschrieben hatte. Die Familie von Rimbauds Mutter bot es ihr an, wie sie dem "Guardian" erzählte, jetzt richtet sie es her (22. Oktober). Aber auch Goethe kommt zu Ehren, am "Geburtstag des multidisziplinären Dichters" (28. August). Sie stellt ihre 21 Jahre alte Abessinierkatze Cairo vor (15. November), und sie denkt an ihre Zodiak-Spezies: an Steinböcke wie Joan Baez, Martin Luther King, Haruki Murakami oder die belgische Modemacherin Ann Demeulemeester, wahlverwandt ihrer Lieblingsattitüde als weiblicher Dandy in Schwarz. Am 30. Dezember wird Patti Smith dann selbst 76 Jahre alt.
Am Ende des Buchs stehen "Leseempfehlungen" - von Anna Achmatowa über Marguerite Duras, Yukio Mishima, Albertine Sarrazin oder Robert Walser bis zu Virginia Woolf. Es sind Lektüren für ein neues Jahr, das mit diesem wundervollen Buch als Begleiter beginnen kann, mit den fast immer ein wenig verschleierten Bildern, manche entrückt, wie schwebend, die doch so viel Energie ausstrahlen - und mit Patti Smith, als Seelenführerin. ROSE-MARIA GROPP
Patti Smith: "Buch der Tage".
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 399. S., Abb., geb., 32,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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