Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir »Ich« sagen? Sind wir ein Leben lang dieselben? Lassen wir nicht immer etwas zurück, wenn unser Leben eine Wendung nimmt? Und wo bleibt all das? In den Wohnungen, in denen wir gelebt haben? Bewahren sie die Erinnerung an uns und an die, die vor uns darin lebten, an gedachte Gedanken, ungedachte, nicht zu Ende gedachte? Andrea Bajani erzählt in seinem virtuos gebauten Roman aus dem Leben eines Mannes – anhand der Wohnungen, in denen er lebte: von seinen Freundschaften, von einer Ehe, in die er sich geflüchtet hat, von vielen Verletzungen, der Entdeckung von Sex und Poesie und davon, wie er sich befreit hat, von einer Familie, die sich selbst zu zerstören drohte. Von Wohnung zu Wohnung geht es, hin und her in der Zeit: Der Mann ist der junge Liebhaber einer verheirateten Frau in einer Provinzstadt, er ist das Kleinkind, das in einer römischen Wohnung einer Schildköte nachkrabbelt, er ist Ehemann in einer Wohnung in Turin, Bohemien in einer Mansarde in Paris und erfolgreicher Geschäftsmann in einem Londoner Hotel, er ist der Junge, der in einer Ferienwohnung vom Vater verprügelt wird, und der Student, der auf einer Matratze übernachtet. Und manchmal jemand, der einfach die Tür einer leeren Wohnung hinter sich zuzieht.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Christian Metz fragt sich, wo Andrea Bajani poetisch zu Hause ist. Wenn der italienische Autor seine Lebensstationen im "Buch der Wohnungen" auffächert, dann mutet es für den Rezensenten reichlich gewollt an: Er liest von einer "Wörterwohnung", einer Sex- und einer Schrankwohnung oder der "mobilen Wohnung", mit der dann das Auto gemeint ist. Erkenntnisgewinn vermisst der Rezensent ebenso wie poetischen Mehrwert. Bajani formuliere das Ich in der dritten Person (Ich geht rein) und lässt Fenster fenstern. Für Metz ist das Murks.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2022Was wir von Ich wissen
Andrea Bajanis Roman "Buch der Wohnungen"
Ich ist hier wirklich mal ein anderer, schon erkennbar dadurch, dass von diesem Ich konsequent in der dritten Person erzählt wird: "Ich genügt es, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, über das Gitter zu steigen und an die Decke zu starren, so wie eine Schildkröte ihren Panzer von innen betrachtet." Das erfahren wir über den Fünfjährigen in diesem Roman, der Ich auf dessen Lebensweg begleitet, der 1975 beginnt und 2021 zwar nicht an ein natürliches Ende, aber zumindest an das des Buchs gelangt. Diese Eckdaten entsprechen der Biographie des Verfassers Andrea Bajani, dessen Roman "Il libro delle case" 2021 in Italien erschienen ist, aber Bajani möchte nicht so einfach mit seiner Hauptfigur verwechselt werden, und deshalb erzählt er von Ich nicht in der ersten Person.
"Ich" steht hier also nur an Namens statt für einen Protagonisten, der mit dem eben zitierten Satz von Seite 35 des Romans schon gut charakterisiert wird: Er ist introvertiert, ein Beobachter seiner selbst, und auch das könnte man natürlich leicht auf Bajani und die Machart dieses Buchs übertragen. Aber dessen Anlage ist denn doch komplexer: "Buch der Wohnungen", wie es auf Deutsch heißt - in der gewohnt stimmungsgenauen Übertragung durch Maja Pflug, die schon mit ihren Pavese-Neuübersetzungen bewiesen hat, wie sich ihr Deutsch dem spirito italiano anzupassen versteht -, hat noch viele weitere Figuren zu bieten, teilweise gar autonom von Ich agierende, obwohl sie durchaus Gegenstände seiner Beobachtungen sind. Da ist die eingangs schon genannte Schildkröte, die im Hof der großmütterlichen Souterrainwohnung lebt und im Gegensatz zu den Menschen nie umziehen muss, weil sie mit ihrer Wohnung verwachsen ist. Und da ist Aldo Moro, der 1978 von den Brigate Rosse verschleppte, wochenlang gefangen gehaltene und schließlich ermordete italienische Spitzenpolitiker, dessen Aufnahmen aus dem Geiselversteck der damals dreijährige Ich im Fernsehen sieht und sich dabei vorstellt, er könnte durch den Bildschirm über einen Tunnel direkt zu dem Gepeinigten gelangen. Moros Gefängnis ist deshalb ebenso eine der titelgebenden Wohnungen wie der Kofferraum des roten Renault 4, in dem seine Leiche gefunden wurde.
Eigentlich sind also die Wohnungen die Protagonisten dieses Romans: ein rundes Dutzend, die von Ich, seiner Familie und seinen wechselnden Geliebten bewohnt werden, aber auch abgeschlossene Räume wie etwa der Lift in einem Mietshaus, eben der Kofferraum oder auch ein Bankkonto, eine Garage, ein Standesamt (für die Heirat), ein Gerichtssaal (für die Scheidung), eine Telefonzelle, ja selbst jener unbestimmbare Raum, in dem sich alles ansammelt, was Ich vergessen hat. Bajani legt den Begriff der Wohnung weit aus, und die Überraschung, die sich bei der Lektüre der 78 jeweils einzelnen dieser Wohnungen gewidmeten Kapitel einstellt, gibt ihm recht. Einmal erzählt sogar eine Wohnung selbst über den Chor der in ihr versammelten Objekte, aber Bajani setzt dieses Kapitel des Buchs (eines der kürzesten der 78) in Klammern - "es ist ein diskreter Dialog, der nicht für menschliche Ohren bestimmt ist".
Aber was erzählt er nun im "Buch der Wohnungen"? Wie gesagt, das Leben von Ich, nicht chronologisch, sondern durcheinander, obwohl das erste Kapitel der großmütterlichen Souterrainwohnung gewidmet ist, in der auch Ich als Baby und seine Eltern leben, und das vorletzte einem Notizheft, in dem Ich die Vorstufen zu einem Roman sammelt, in dem wir denjenigen vermuten dürfen, den wir lesen. In dieses Notizbuch kehrt Ich regelmäßig ein: "Der Grund, warum die Notizen sich um Ich drängeln, ist, dass sie wissen, er hat die Macht. Sie wissen, dass Ich kraft seiner Entscheidung oder aus Laune manchmal jemanden dort herausholt und für anderes bestimmt." Für ein Leben außerhalb des eingeschränkten Raums.
Das letzte Kapitel des Romans ist dann das zweite über den Raum des Vergessens - "Wohnung der geflüchteten Erinnerungen" wird er genannt. "Der Kasten mit Erinnerungen, die aus Ichs Gedächtnis geflüchtet waren, ist nur noch ein geschändeter Friedhof, auch Ich wird nicht zurückkehren, um zu sehen, was auf dem Grund liegt, oder um ihn wieder aufzurichten" (hier klingt Maja Pflugs Übersetzung missglückt). "Er wird akzeptieren, sie verloren zu haben, wird so tun, als habe es sie nie gegeben, wird das Pronomen Ich aussprechen und dabei akzeptieren, dass die Fiktion die Folge einer Entscheidung ist." Das ist zum Schluss des Romans die Entstehungsbeschreibung dessen, was wir gelesen haben.
Haben wir es somit mit einem metafiktionalen Buch zu tun, das sich im Spiel mit Identitäten erschöpft? Keineswegs, es ist ein Entwicklungsroman, der zwar nicht geradlinig verläuft, aber dank seiner Sprünge durch die Zeit ein Gefüge aus Erinnerungssplittern erzeugt, das nie vorgibt, das ganze Bild von Ich (oder des Italiens, in dem er lebt) zu bieten, sondern ziemlich exakt die ungenügende und subjektiv zudem verzerrte Wahrnehmung eines Individuums wiedergibt, die nur für dieses selbst "wahr" genannt werden kann. Bajani muss das gar nicht auserzählen, um es deutlich werden zu lassen.
Mit seinem Formexperiment der wechselnden Perspektiven auf begrenzte Räume marschiert er nicht an der Spitze der literarischen Avantgarde, aber die Vertreter des Oulipo hätten ihren Spaß am "Buch der Wohnungen" gehabt. Ein storygetriebenes Publikum wird sich dagegen am voneinander unlösbaren Streben und Ergeben von Ich erfreuen. Und ein Italienliebhaber an der Vielzahl von Reminiszenzen an einschneidende Ereignisse in der Lebenszeit von Ich. Nicht nur Moros Ermordung ist da ein Fixpunkt, auch die von Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975. Die zum Zeitpunkt der Geburt von Ich wird - einerseits ist das eine weitere Distanzierung von der verführerischen Gleichsetzung des Autors mit seiner Hauptfigur (Bajani wurde bereits im August 1975 geboren), andererseits die bewegende Andeutung einer Wiedergeburt, die jedoch nie offen thematisiert wird.
Eingestreut in die Handlung sind acht Wohnungsgrundrisse aus italienischen Katasterblättern, als wären es Porträts der vorgestellten Schauplätze. Doch keiner stimmt in den Details mit denen des Buchs überein. Das ist nur ein weiterer Versuch Bajanis, die Grenzen zwischen Fiktion und Faktizität zu verwischen. Wer sich auf die subtile Jagd nach den jeweiligen Berührungspunkten begibt, wird dennoch reichlich Beute machen. Und wer darauf verzichtet, hat immerhin ein Buch zur Hand, das literarisch einiges zu bieten hat. Und sei es nur die Konfrontation der Schildkröte mit dem eigenen Tod, als sie die verstorbene Großmutter von Ich umwandert. Tagelang lag die Leiche der alten Dame unentdeckt im Souterraindomizil. "Seit fünf Tagen ist auch für Oma ihre Wohnung ihr Grab." ANDREAS PLATTHAUS
Andrea Bajani:
"Buch der Wohnungen". Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Kampa Verlag, Zürich 2022. 301 S., 8 Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Bajanis Roman "Buch der Wohnungen"
Ich ist hier wirklich mal ein anderer, schon erkennbar dadurch, dass von diesem Ich konsequent in der dritten Person erzählt wird: "Ich genügt es, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, über das Gitter zu steigen und an die Decke zu starren, so wie eine Schildkröte ihren Panzer von innen betrachtet." Das erfahren wir über den Fünfjährigen in diesem Roman, der Ich auf dessen Lebensweg begleitet, der 1975 beginnt und 2021 zwar nicht an ein natürliches Ende, aber zumindest an das des Buchs gelangt. Diese Eckdaten entsprechen der Biographie des Verfassers Andrea Bajani, dessen Roman "Il libro delle case" 2021 in Italien erschienen ist, aber Bajani möchte nicht so einfach mit seiner Hauptfigur verwechselt werden, und deshalb erzählt er von Ich nicht in der ersten Person.
"Ich" steht hier also nur an Namens statt für einen Protagonisten, der mit dem eben zitierten Satz von Seite 35 des Romans schon gut charakterisiert wird: Er ist introvertiert, ein Beobachter seiner selbst, und auch das könnte man natürlich leicht auf Bajani und die Machart dieses Buchs übertragen. Aber dessen Anlage ist denn doch komplexer: "Buch der Wohnungen", wie es auf Deutsch heißt - in der gewohnt stimmungsgenauen Übertragung durch Maja Pflug, die schon mit ihren Pavese-Neuübersetzungen bewiesen hat, wie sich ihr Deutsch dem spirito italiano anzupassen versteht -, hat noch viele weitere Figuren zu bieten, teilweise gar autonom von Ich agierende, obwohl sie durchaus Gegenstände seiner Beobachtungen sind. Da ist die eingangs schon genannte Schildkröte, die im Hof der großmütterlichen Souterrainwohnung lebt und im Gegensatz zu den Menschen nie umziehen muss, weil sie mit ihrer Wohnung verwachsen ist. Und da ist Aldo Moro, der 1978 von den Brigate Rosse verschleppte, wochenlang gefangen gehaltene und schließlich ermordete italienische Spitzenpolitiker, dessen Aufnahmen aus dem Geiselversteck der damals dreijährige Ich im Fernsehen sieht und sich dabei vorstellt, er könnte durch den Bildschirm über einen Tunnel direkt zu dem Gepeinigten gelangen. Moros Gefängnis ist deshalb ebenso eine der titelgebenden Wohnungen wie der Kofferraum des roten Renault 4, in dem seine Leiche gefunden wurde.
Eigentlich sind also die Wohnungen die Protagonisten dieses Romans: ein rundes Dutzend, die von Ich, seiner Familie und seinen wechselnden Geliebten bewohnt werden, aber auch abgeschlossene Räume wie etwa der Lift in einem Mietshaus, eben der Kofferraum oder auch ein Bankkonto, eine Garage, ein Standesamt (für die Heirat), ein Gerichtssaal (für die Scheidung), eine Telefonzelle, ja selbst jener unbestimmbare Raum, in dem sich alles ansammelt, was Ich vergessen hat. Bajani legt den Begriff der Wohnung weit aus, und die Überraschung, die sich bei der Lektüre der 78 jeweils einzelnen dieser Wohnungen gewidmeten Kapitel einstellt, gibt ihm recht. Einmal erzählt sogar eine Wohnung selbst über den Chor der in ihr versammelten Objekte, aber Bajani setzt dieses Kapitel des Buchs (eines der kürzesten der 78) in Klammern - "es ist ein diskreter Dialog, der nicht für menschliche Ohren bestimmt ist".
Aber was erzählt er nun im "Buch der Wohnungen"? Wie gesagt, das Leben von Ich, nicht chronologisch, sondern durcheinander, obwohl das erste Kapitel der großmütterlichen Souterrainwohnung gewidmet ist, in der auch Ich als Baby und seine Eltern leben, und das vorletzte einem Notizheft, in dem Ich die Vorstufen zu einem Roman sammelt, in dem wir denjenigen vermuten dürfen, den wir lesen. In dieses Notizbuch kehrt Ich regelmäßig ein: "Der Grund, warum die Notizen sich um Ich drängeln, ist, dass sie wissen, er hat die Macht. Sie wissen, dass Ich kraft seiner Entscheidung oder aus Laune manchmal jemanden dort herausholt und für anderes bestimmt." Für ein Leben außerhalb des eingeschränkten Raums.
Das letzte Kapitel des Romans ist dann das zweite über den Raum des Vergessens - "Wohnung der geflüchteten Erinnerungen" wird er genannt. "Der Kasten mit Erinnerungen, die aus Ichs Gedächtnis geflüchtet waren, ist nur noch ein geschändeter Friedhof, auch Ich wird nicht zurückkehren, um zu sehen, was auf dem Grund liegt, oder um ihn wieder aufzurichten" (hier klingt Maja Pflugs Übersetzung missglückt). "Er wird akzeptieren, sie verloren zu haben, wird so tun, als habe es sie nie gegeben, wird das Pronomen Ich aussprechen und dabei akzeptieren, dass die Fiktion die Folge einer Entscheidung ist." Das ist zum Schluss des Romans die Entstehungsbeschreibung dessen, was wir gelesen haben.
Haben wir es somit mit einem metafiktionalen Buch zu tun, das sich im Spiel mit Identitäten erschöpft? Keineswegs, es ist ein Entwicklungsroman, der zwar nicht geradlinig verläuft, aber dank seiner Sprünge durch die Zeit ein Gefüge aus Erinnerungssplittern erzeugt, das nie vorgibt, das ganze Bild von Ich (oder des Italiens, in dem er lebt) zu bieten, sondern ziemlich exakt die ungenügende und subjektiv zudem verzerrte Wahrnehmung eines Individuums wiedergibt, die nur für dieses selbst "wahr" genannt werden kann. Bajani muss das gar nicht auserzählen, um es deutlich werden zu lassen.
Mit seinem Formexperiment der wechselnden Perspektiven auf begrenzte Räume marschiert er nicht an der Spitze der literarischen Avantgarde, aber die Vertreter des Oulipo hätten ihren Spaß am "Buch der Wohnungen" gehabt. Ein storygetriebenes Publikum wird sich dagegen am voneinander unlösbaren Streben und Ergeben von Ich erfreuen. Und ein Italienliebhaber an der Vielzahl von Reminiszenzen an einschneidende Ereignisse in der Lebenszeit von Ich. Nicht nur Moros Ermordung ist da ein Fixpunkt, auch die von Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975. Die zum Zeitpunkt der Geburt von Ich wird - einerseits ist das eine weitere Distanzierung von der verführerischen Gleichsetzung des Autors mit seiner Hauptfigur (Bajani wurde bereits im August 1975 geboren), andererseits die bewegende Andeutung einer Wiedergeburt, die jedoch nie offen thematisiert wird.
Eingestreut in die Handlung sind acht Wohnungsgrundrisse aus italienischen Katasterblättern, als wären es Porträts der vorgestellten Schauplätze. Doch keiner stimmt in den Details mit denen des Buchs überein. Das ist nur ein weiterer Versuch Bajanis, die Grenzen zwischen Fiktion und Faktizität zu verwischen. Wer sich auf die subtile Jagd nach den jeweiligen Berührungspunkten begibt, wird dennoch reichlich Beute machen. Und wer darauf verzichtet, hat immerhin ein Buch zur Hand, das literarisch einiges zu bieten hat. Und sei es nur die Konfrontation der Schildkröte mit dem eigenen Tod, als sie die verstorbene Großmutter von Ich umwandert. Tagelang lag die Leiche der alten Dame unentdeckt im Souterraindomizil. "Seit fünf Tagen ist auch für Oma ihre Wohnung ihr Grab." ANDREAS PLATTHAUS
Andrea Bajani:
"Buch der Wohnungen". Roman.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Kampa Verlag, Zürich 2022. 301 S., 8 Abb., geb., 24,- Euro.
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