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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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Robert Schneider ist zurück: Dreißig Jahre nach "Schlafes Bruder" erscheint "Buch ohne Bedeutung"
Habent sua fata libelli. Und wenn dieses Schicksal ein günstiges war, haben Bücher auch Jubiläen, die Beachtung finden. So wie der Roman "Schlafes Bruder", der 1992 herauskam, sofort zum Sensationserfolg wurde, den damals erst dreißigjährigen österreichischen Schriftsteller Robert Schneider zu einem Star der deutschsprachigen Literatur machte und die Hoffnung aufkeimen ließ, dass ostdeutsche Traditionsverlage auch noch nach der Wende reüssieren könnten. Denn "Schlafes Bruder" erschien nach zahlreichen vorherigen Absagen im Westen bei Reclam Leipzig, einem ehemaligen DDR-Renommierverlag, der zwar mittlerweile in westliches Eigentum übergegangen war, aber noch eigenständige Programmarbeit leistete. Nicht umsonst begründete der Bucherfolg von Schneiders Roman auch den Nimbus des Leipziger Lektors Thorsten Arend.
Was ist davon geblieben? Das Buch wurde zweimillionenfach verkauft (und mutmaßlich sogar in ähnlicher Zahl gelesen, denn es ist schmal und zugänglich), in mehr als vierzig deutschen Auflagen und mehr als dreißig Übersetzungen. Reclam Leipzig gibt es seit 2006 nicht mehr, aber Thorsten Arend war da längst weg, hatte im Westen bei Kiepenheuer, Suhrkamp und zuletzt Wallstein für weitere Erfolge gesorgt, ehe er 2018 nach Leipzig zurückkehrte, um Leiter des dortigen Literaturhauses zu werden. Und Robert Schneider? Der brachte unter anderem fünf weitere Romane heraus, mit immer weiter abnehmendem Erfolg, bis er 2007 nach "Die Offenbarung", dessen Beschäftigung mit Musik arg an "Schlafes Bruder" erinnerte, das Schreiben einstellte.
Halt, das stimmt nicht! Schneider schrieb weiter, er publizierte nur nicht mehr. Bis zu diesem Jahr. Denn nun sind gleich zwei Bücher von ihm herausgekommen: eine Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten von "Schlafes Bruder" mit einem Nachwort von Rainer Moritz, dem Reclam-Leipzig-Chef nach Schneiders Weggang. Der Schriftsteller hat die Verlage in rascher Abfolge gewechselt, kehrte auch noch einmal zu Reclam Leipzig zurück und ist heute qua Erbmasse mit seinem Erstling beim westdeutschen Reclam Verlag gelandet. Dort erscheint die Jubiläumsausgabe von "Schlafes Bruder".
Aber die soll hier nicht weiter interessieren, denn das zweite Buch ist wirklich neu. Und das erscheint bei Wallstein; da haben sich Arends Kontakte einmal mehr ausgezahlt. Es heißt - reichlich kokett - "Buch ohne Bedeutung" und ist kein Roman, sondern eine Sammlung von 101 Geschichten, die über Jahre hinweg entstanden sind und natürlich schon durch ihre Zahl, aber manchmal auch im Ton das Vorbild von "1001 Nacht" anklingen lassen. Allerdings gibt es keine verbindende Rahmenhandlung, der erzählerische Zusammenhang des Konvoluts entsteht einmal durch textimmanente Verweise wie etwa wiederkehrende Figuren und Themen, mehr noch aber durch das bemerkenswerte Phänomen, dass alle Geschichten ziemlich exakt dieselbe Länge aufweisen: etwas über zweitausend Zeichen oder ungefähr eineindrittel Buchseiten. Man könnte meinen, Schneider hätte sich hier lustvoll einer Beschränkung unterworfen, wie sie jene internationalen Autoren der Sechzigerjahre schätzten, die Oulipo betrieben (eine Abkürzung für die in Frankreich begründete "Werkstatt für potentielle Literatur" - ouvroir de littérature potentielle). Sie sahen in formalen Herausforderungen eine inhaltliche Bereicherung ihrer Texte. Und es dürfte auch für Schneider eine produktive Herausforderung gewesen sein, all die großen Fragen, die das "Buch ohne Bedeutung" behandelt, in derart kleine Form zu kleiden.
Fand dadurch jedoch inhaltliche Bereicherung statt? Bisweilen ja, denn die Knappheit macht das Erzählte oft allegorisch, manchmal hat es gar aphoristischen Charakter. Und doch im Gesamtresultat eher nein, denn Schneider wählt eine solche Vielzahl an literarischen Stimmen, dass man über die Kunst der Kürze gar nicht mehr nachdenkt, weil man den Farbenreichtum der Erzählpalette bestaunt. Aber die Motive, die Schneider damit malt, sind disparat. Oder freundlicher gesprochen: divers. Tief Persönliches ist nicht an die Verwendung der Ich-Perspektive (elfmal von 101) gebunden, obwohl es unter diesen Texten besonders schöne und poetisch dichte gibt: "Ungeheuerliches habe ich gesehen, als ich die Meinung verlor. Mein Sollen, Müssen und Verlangen. Die Herzwetter der Angst. Die Felder der Ohnmacht. Die Brände meiner Gedanken in Feuerschneisen dir nach. Jetzt, da es Abend wird, sind wir müde vom Verstehen. Die Nacht greift in die Dächer. Ich schmiege meinen Schatten an deine Wange. Ausruhen will ich in dir. Du wirst mich nicht zudecken, mich nicht trösten, nicht über mich wachen. Alle Unworte bist du." Und das in einer Geschichte, die mit Hafis, dem persischen Dichter der Liebe, ihren Anfang nahm. Aber was will die schöne Sprache erzählen?
Es gibt im Buch auch die Du-Anrede, und sie bringt härtere Sätze hervor, die jedoch nicht weniger persönlich wirken: "Wieder tritt ein Tag dich in den Hintern. Besoffen ruinierte es aus roten Wolken. Erschöpftes Licht des Sonnenuntergangs. Der Augenblick des Kusses: ein Kind erst, drüben bei den kranken Pappeln." Die Dringlichkeit dessen, was Schneider in seine moralischen und unmoralischen Erzählungen gepackt hat, ist ihnen stets ablesbar. Die Spielfreude beim Formulieren auch. Und die Skepsis, mit der sich Schneider all dessen annimmt, was er gesellschaftlich beobachtet hat. Sichtbar etwa in einer Episode, die mit "Der Vordenker" überschrieben ist und einen Philosophen (porträtiert à la Richard David Precht) nach dessen Vortrag mit der Frage aus dem Publikum konfrontiert: "Wie wird die Welt nach der Krise aussehen?" Schneider konnte beim Schreiben nicht ahnen, dass dies bei Erscheinen seines Buchs die wohl meistgestellte Frage in der realen Öffentlichkeit sein würde.
Fragende waren immer schon die Lieblingsfiguren Robert Schneiders. Auch "Schlafes Bruder" endet ja mit der Frage, was die Liebe meine. Der Philosoph in "Buch ohne Bedeutung" jedoch redet sich um eine Antwort herum, wie auch all die anderen vermeintlichen Experten in dieser Geschichte, und alle haben sie damit Erfolg. Schneider spottet: "Nach dem triumphalen Abend fragte der Philosoph seine exotische Affäre: 'Wie war ich?'" Dieser Fragende in seiner Selbstbezüglichkeit ist für Robert Schneider fragwürdig. Solche Spitzen zeigen ihn hellwach. Und bitterböse.
Aber wird man das "Buch ohne Bedeutung" in dreißig Jahren noch lesen? Dafür ist es zu gegenwärtig, gerade in seinen konkreten Spitzen. Habent sua data libelli. ANDREAS PLATTHAUS
Robert Schneider: "Buch ohne Bedeutung".
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 212 S., geb., 22,- Euro.
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