Die "Historische Kommission zu Berlin" betreibt die Erforschung der Landesgeschichte und der Historischen Landeskunde Berlin-Brandenburgs bzw. Brandenburg-Preußens in Form von wissenschaftlichen Untersuchungen, Vorträgen, Tagungen und Veröffentlichungen sowie durch Serviceleistungen. Dabei kooperiert die Kommission auch mit anderen Institutionen und begleitet wissenschaftliche und praktische Vorhaben von allgemeinem öffentlichen Interesse. In der Schriftenreihe werden die Ergebnisse der einzelnen wissenschaftlichen Projekte der Kommission veröffentlicht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.1995Amen zum Sonderweg
Oliver Janz verfolgt die Entbürgerlichung der preußischen Pfarrer
"Ich bin ein Bürgerlicher, und ich bin stolz darauf, es zu sein", hat David Friedrich Strauß 1872 bekannt. Der Theologe, der durch kritische Bibelforschung zum Gegner des Christentums wurde, verfügte über einen klaren Begriff von Bürgerlichkeit. Ein gebildeter Bürger glaube an Fortschritt durch Wissenschaft und technische Weltbeherrschung. Er suche sein Heil nicht mehr im Jenseits, sondern baue am besseren Diesseits, einem Paradies innerweltlicher Versöhnung. Zwar bleibe die Erfahrung von Leid und Tod unausweichlich. Doch könne sie mit Kunstgenuß, durch Konzertbesuch und Lektüre kompensiert werden. Strauß beschwor die Erlösungskraft von Kunst und Wissenschaft. Bei vielen Rechtsanwälten, Ärzten, Naturwissenschaftlern und Technikern fand er damit begeisterte Zustimmung.
Strauß' kulturseliger "Philisterglaube" (Nietzsche) war nur eine von vielen Religionen deutscher Bildungsbürger. Selbst ein relativ geschlossener bildungsbürgerlicher Stand wie die evangelische Pfarrerschaft war in Bildungsideal, Frömmigkeit und moralischem Habitus tief gespalten. Kulturprotestantisch liberale Pfarrer wollten individuelle Frömmigkeit mit kritischer Rationalität und modernem Bildungsglauben verbinden. Ihre pietistisch-konservativen Amtsbrüder, die häufig aus "mittelständischen Milieus" oder aus Pfarrhäusern kamen, sahen in kritischer Universitätstheologie und religiöser Stärkung liberaler Kulturwerte nur einen Angriff auf Evangelium und Kirchenlehre. In Preußen gerieten die liberalen Pfarrer nach 1840 in die Minderheit. Die protestantische Amtskirche, eine tragende Säule des Obrigkeitsstaates, wurde zunehmend von bürgertumsfernen konservativen Geistlichen dominiert.
Der Berliner Historiker Oliver Janz schreibt die Sozialgeschichte von Preußens evangelischen Pfarrern zwischen Märzrevolution und Erstem Weltkrieg deshalb als Verfallsgeschichte fortschreitender Entbürgerlichung. In nur zwei Generationen habe sich eine Kerngruppe der Bildungsschicht zu einer kleinbürgerlichen Klerikerkaste gewandelt, die im selbstgewählten Kirchenghetto Agrarromantik, spießige Sozialmoral, Antiintellektualismus und diffuse Modernitätsfeindschaft kultivierte.
Janz führt dafür eine eindrucksvolle Fülle von Belegen an. Souverän absolviert er das Pflichtpensum des Sozialhistorikers. Ihn interessieren Staatsnähe und Standesethos, "Sozialprofil und Mobilität, Konnubium und Sozialverhalten, Ausbildungsgang und Laufbahnmuster, ökonomische Lage und Familienstrukturen". Für die 1700 westfälischen Pfarrer, die von 1850 bis 1914 in Amt und Würden waren, hat er einen umfassenden "kollektivbiographischen Datensatz" erstellt. Auf dieser soliden Grundlage entwickelt er das Bild eines Standes, der zu den großen Verlierern gesellschaftlicher Modernisierung zählt.
In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts studierte ein Drittel aller preußischen Studenten protestantische Theologie, und 1850 predigte jeder vierte deutsche Akademiker von einer evangelischen Kanzel. Protestantische Pfarrer übertrafen damals Rechtsanwälte, Oberlehrer und Professoren an Zahl und kulturellem Einfluß. Über ihre Söhne, die genialisch gestörten Erfolgsprodukte der Pfarrhaussozialisation, wirkten sie in Kulturbetrieb, Wissenschaft und Staatsdienst hinein. Mit der wachsenden Kirchendistanz der bürgerlichen Eliten und der Popularisierung nachchristlicher Kunstreligionen gerieten sie dann in die Defensive. Dechristianisierung führte zur "schrumpfenden Nachfrage nach kirchlichen Dienstleistungen".
Auf sinkendes Ansehen und soziale Marginalisierung reagierten viele Pfarrer, indem sie sich in eine berufsständische Subkultur zurückzogen und ihre Sozialkontakte auf die "Kerngemeinde" beschränkten. Sie blieben nun gern unter sich. Ihre Söhne heirateten Pfarrerstöchter, und deren Kinder suchten ihre Ehepartner wiederum im Pfarrhausmilieu. Schon in der Schul- und Studienzeit bewegte man sich in den eigenen Kreisen. Ein Viertel der westfälischen Pfarrer legte die Reifeprüfung am Evangelisch-Stiftischen Gymnasium in Gütersloh ab, einer christlich-konservativen Eliteschule, die der Verleger Bertelsmann und andere erweckte Bürger zur Bekämpfung des "säkularistischen" Zeitgeistes 1851 gegründet hatten. An den Universitäten separierten sich die Theologen in eigenen Verbindungen wie dem "Wingolf" von anderen Studenten. Auf saufende Mediziner und schlagende Juristen blickten sie mit Glaubensstolz und kulturelitärer Verachtung herab.
Oliver Janz legt die erste Sozialgeschichte protestantischer Pfarrer in Deutschland vor. Mit seinem Titel zitiert er Heeneys "A Different Kind of Gentleman", eine 1976 erschienene Studie über Gemeindepfarrer im viktorianischen England. Da er sich auf eine Region bezieht, die stark von Erweckungsbewegung und neupietistischem Traditionalismus geprägt wurde, droht er die Emigration der Pfarrer aus den bürgerlichen Bildungswelten zu überzeichnen. Sein grundsolides Buch läßt zudem Grenzen einer Sozialgeschichte der Religion erkennen.
Der Sozialhistoriker fragt nach Ansehen und Macht, Geld und sozialem Aufstieg. Dagegen blendet er entscheidende und, zumindest für viele Pfarrer, wichtigere Dimensionen wie gelebte Frömmigkeit, subjektiven Glauben und theologisches Bildungswissen aus. Theologiegeschichten seien, erklärt Janz, "fast ausnahmslos aus der theologischen Innenperspektive" geschrieben und "meist im entsprechenden Ideolekt gehalten". Dies nimmt er als Freibrief, sich in den falschen Selbstgewißheiten des eigenen Soziolekts einzurichten. Aus Pfarrern werden dann "Zeremonienmeister" und aus ihrer "Klientel" "Gewohnheitschristen". Wer Pfarrer verstehen will, muß die Individuen hinter der Rolle, ihre Frömmigkeitsstile und Theologien ernster nehmen.
Auch Sozialhistoriker zelebrieren ihre Liturgien. Dem Amen in der Kirche entspricht die rituelle Rede vom Sonderweg. Nirgends in seinem materialreichen Buch spricht Janz von Unterschieden zwischen den protestantischen Pfarrern in Deutschland und ihren Amtsbrüdern in anderen europäischen Gesellschaften. Im Schlußsatz beschwört er dann den ehernen Glauben an die Obrigkeitshörigkeit des deutschen Luthertums. Die "ausgeprägte Staatsnähe und Beamtenförmigkeit" der evangelischen Pfarrer in Preußen-Deutschland markiere "ohne Zweifel die wichtigste Besonderheit im internationalen Vergleich". Ohne Zweifel? Für Theologen ist ein solcher Dogmatismus dubios. Ein Gang nach Westminster Abbey, möglichst an einem Sonntag vormittag, hätte den Sozialhistoriker fällige Zweifel an seinem Credo lehren können.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Oliver Janz: "Bürger besonderer Art". Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 87). Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1994. 615 S., geb., 264,- DM.
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Oliver Janz verfolgt die Entbürgerlichung der preußischen Pfarrer
"Ich bin ein Bürgerlicher, und ich bin stolz darauf, es zu sein", hat David Friedrich Strauß 1872 bekannt. Der Theologe, der durch kritische Bibelforschung zum Gegner des Christentums wurde, verfügte über einen klaren Begriff von Bürgerlichkeit. Ein gebildeter Bürger glaube an Fortschritt durch Wissenschaft und technische Weltbeherrschung. Er suche sein Heil nicht mehr im Jenseits, sondern baue am besseren Diesseits, einem Paradies innerweltlicher Versöhnung. Zwar bleibe die Erfahrung von Leid und Tod unausweichlich. Doch könne sie mit Kunstgenuß, durch Konzertbesuch und Lektüre kompensiert werden. Strauß beschwor die Erlösungskraft von Kunst und Wissenschaft. Bei vielen Rechtsanwälten, Ärzten, Naturwissenschaftlern und Technikern fand er damit begeisterte Zustimmung.
Strauß' kulturseliger "Philisterglaube" (Nietzsche) war nur eine von vielen Religionen deutscher Bildungsbürger. Selbst ein relativ geschlossener bildungsbürgerlicher Stand wie die evangelische Pfarrerschaft war in Bildungsideal, Frömmigkeit und moralischem Habitus tief gespalten. Kulturprotestantisch liberale Pfarrer wollten individuelle Frömmigkeit mit kritischer Rationalität und modernem Bildungsglauben verbinden. Ihre pietistisch-konservativen Amtsbrüder, die häufig aus "mittelständischen Milieus" oder aus Pfarrhäusern kamen, sahen in kritischer Universitätstheologie und religiöser Stärkung liberaler Kulturwerte nur einen Angriff auf Evangelium und Kirchenlehre. In Preußen gerieten die liberalen Pfarrer nach 1840 in die Minderheit. Die protestantische Amtskirche, eine tragende Säule des Obrigkeitsstaates, wurde zunehmend von bürgertumsfernen konservativen Geistlichen dominiert.
Der Berliner Historiker Oliver Janz schreibt die Sozialgeschichte von Preußens evangelischen Pfarrern zwischen Märzrevolution und Erstem Weltkrieg deshalb als Verfallsgeschichte fortschreitender Entbürgerlichung. In nur zwei Generationen habe sich eine Kerngruppe der Bildungsschicht zu einer kleinbürgerlichen Klerikerkaste gewandelt, die im selbstgewählten Kirchenghetto Agrarromantik, spießige Sozialmoral, Antiintellektualismus und diffuse Modernitätsfeindschaft kultivierte.
Janz führt dafür eine eindrucksvolle Fülle von Belegen an. Souverän absolviert er das Pflichtpensum des Sozialhistorikers. Ihn interessieren Staatsnähe und Standesethos, "Sozialprofil und Mobilität, Konnubium und Sozialverhalten, Ausbildungsgang und Laufbahnmuster, ökonomische Lage und Familienstrukturen". Für die 1700 westfälischen Pfarrer, die von 1850 bis 1914 in Amt und Würden waren, hat er einen umfassenden "kollektivbiographischen Datensatz" erstellt. Auf dieser soliden Grundlage entwickelt er das Bild eines Standes, der zu den großen Verlierern gesellschaftlicher Modernisierung zählt.
In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts studierte ein Drittel aller preußischen Studenten protestantische Theologie, und 1850 predigte jeder vierte deutsche Akademiker von einer evangelischen Kanzel. Protestantische Pfarrer übertrafen damals Rechtsanwälte, Oberlehrer und Professoren an Zahl und kulturellem Einfluß. Über ihre Söhne, die genialisch gestörten Erfolgsprodukte der Pfarrhaussozialisation, wirkten sie in Kulturbetrieb, Wissenschaft und Staatsdienst hinein. Mit der wachsenden Kirchendistanz der bürgerlichen Eliten und der Popularisierung nachchristlicher Kunstreligionen gerieten sie dann in die Defensive. Dechristianisierung führte zur "schrumpfenden Nachfrage nach kirchlichen Dienstleistungen".
Auf sinkendes Ansehen und soziale Marginalisierung reagierten viele Pfarrer, indem sie sich in eine berufsständische Subkultur zurückzogen und ihre Sozialkontakte auf die "Kerngemeinde" beschränkten. Sie blieben nun gern unter sich. Ihre Söhne heirateten Pfarrerstöchter, und deren Kinder suchten ihre Ehepartner wiederum im Pfarrhausmilieu. Schon in der Schul- und Studienzeit bewegte man sich in den eigenen Kreisen. Ein Viertel der westfälischen Pfarrer legte die Reifeprüfung am Evangelisch-Stiftischen Gymnasium in Gütersloh ab, einer christlich-konservativen Eliteschule, die der Verleger Bertelsmann und andere erweckte Bürger zur Bekämpfung des "säkularistischen" Zeitgeistes 1851 gegründet hatten. An den Universitäten separierten sich die Theologen in eigenen Verbindungen wie dem "Wingolf" von anderen Studenten. Auf saufende Mediziner und schlagende Juristen blickten sie mit Glaubensstolz und kulturelitärer Verachtung herab.
Oliver Janz legt die erste Sozialgeschichte protestantischer Pfarrer in Deutschland vor. Mit seinem Titel zitiert er Heeneys "A Different Kind of Gentleman", eine 1976 erschienene Studie über Gemeindepfarrer im viktorianischen England. Da er sich auf eine Region bezieht, die stark von Erweckungsbewegung und neupietistischem Traditionalismus geprägt wurde, droht er die Emigration der Pfarrer aus den bürgerlichen Bildungswelten zu überzeichnen. Sein grundsolides Buch läßt zudem Grenzen einer Sozialgeschichte der Religion erkennen.
Der Sozialhistoriker fragt nach Ansehen und Macht, Geld und sozialem Aufstieg. Dagegen blendet er entscheidende und, zumindest für viele Pfarrer, wichtigere Dimensionen wie gelebte Frömmigkeit, subjektiven Glauben und theologisches Bildungswissen aus. Theologiegeschichten seien, erklärt Janz, "fast ausnahmslos aus der theologischen Innenperspektive" geschrieben und "meist im entsprechenden Ideolekt gehalten". Dies nimmt er als Freibrief, sich in den falschen Selbstgewißheiten des eigenen Soziolekts einzurichten. Aus Pfarrern werden dann "Zeremonienmeister" und aus ihrer "Klientel" "Gewohnheitschristen". Wer Pfarrer verstehen will, muß die Individuen hinter der Rolle, ihre Frömmigkeitsstile und Theologien ernster nehmen.
Auch Sozialhistoriker zelebrieren ihre Liturgien. Dem Amen in der Kirche entspricht die rituelle Rede vom Sonderweg. Nirgends in seinem materialreichen Buch spricht Janz von Unterschieden zwischen den protestantischen Pfarrern in Deutschland und ihren Amtsbrüdern in anderen europäischen Gesellschaften. Im Schlußsatz beschwört er dann den ehernen Glauben an die Obrigkeitshörigkeit des deutschen Luthertums. Die "ausgeprägte Staatsnähe und Beamtenförmigkeit" der evangelischen Pfarrer in Preußen-Deutschland markiere "ohne Zweifel die wichtigste Besonderheit im internationalen Vergleich". Ohne Zweifel? Für Theologen ist ein solcher Dogmatismus dubios. Ein Gang nach Westminster Abbey, möglichst an einem Sonntag vormittag, hätte den Sozialhistoriker fällige Zweifel an seinem Credo lehren können.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Oliver Janz: "Bürger besonderer Art". Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 87). Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1994. 615 S., geb., 264,- DM.
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