Der SC Freiburg ist nie Deutscher Meister geworden. Und doch wird kein Verein öfter genannt, wenn es darum geht, wie man mit wenig Geld erfolgreich im Profifußball bestehen kann. Christoph Ruf hat den Klub in den letzten 15 Jahren begleitet und porträtiert einen ungewöhnlichen Verein, der auf den entscheidenden Positionen auf Menschen baut, die seine DNA verkörpern. So wie Trainer Christian Streich, der als politischer Kopf mit seiner Prinzipientreue und seiner menschlichen Art wie kein Zweiter den SC Freiburg geprägt hat.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2019Der ganz spezielle
Pragmatiker
Unantastbar, unermüdlich: Freiburgs Dauertrainer
Christian Streich genießt die Sonnenseite der Tabelle
VON CHRISTOPH RUF
Freiburg – Der für Freiburger Verhältnisse nicht ganz unprominente Spieler muss nicht groß überlegen, wenn die Frage lautet, warum sein Trainer schon so lange beim SC ist: „Christian Streich ist allein schon deshalb unantastbar, weil jeder weiß, dass er immer Erfolg gehabt hat.“ Zudem wüssten unzufriedene Spieler jederzeit, dass alle Führungsspieler hinter Streich stehen: „Entsprechend schwer ist es, in der Kabine Unruhe zu stiften. Jeder weiß, dass der Trainer hier immer am längeren Hebel sitzt – auch bei den Fans.“
Der Spieler, der das sagt, ist einer dieser Führungsspieler. Er heißt Nils Petersen, steht mit Freiburg nach einem verblüffend guten Saisonstart auf Platz drei – und gehört zu den wenigen Menschen, die rund um die Schwarzwaldstraße 193 ähnlich hohe Sympathiewerte haben wie der Dauertrainer. Dabei hätte Petersen über die Jahre ziemlich viel Grund gehabt, sauer auf Streich zu sein, der ihn zunächst immer wieder auf die Bank setzte und oft erst in den letzten 30 Minuten einwechselte, wo der Stürmer dann ebenso oft sofort traf. Doch zumindest rückblickend ist Petersen nicht sauer – im Gegenteil: Der Torjäger findet, dass er erst durch Streichs speziellen Umgang so gut wurde, wie er ist.
Dass Petersen am letzten Spieltag der Saison 2014/15 in Hannover bis zur 69. Minute auf der Bank schmorte, hat Streich mittlerweile dennoch als Fehler eingestanden. Petersen kam rein und traf, doch der SC verlor 1:2 – und stieg ab, zum bisher letzten Mal. Die Mannschaft, der damals auch Spieler angehörten, denen Streich menschlich nicht nachtrauerte, fiel danach auseinander. Der nach dem Abstieg leidende Trainer bildete unverzüglich ein neues Team – mit dem damals unbekannten Vincenzo Grifo, der vom FSV Frankfurt kam; mit Maximilian Philipp, der später für 25 Millionen Euro nach Dortmund wechselte – und mit Nils Petersen, der beim direkten Wiederaufstieg 21 Tore schoss.
Ihn hatte Streich immer schon ins Herz geschlossen. Doch erst, seitdem Petersen in fast jeder Partie zu den Spielern mit der besten Laufquote gehört, ist er Stammspieler. Wie früher Petersen saßen bei den letzten beiden Spielen der aktuellen Saison zwei Spieler, Grifo und Luca Waldschmidt, auf der Bank, die zu den wenigen gehören, die man auch außerhalb jenes 80-Kilometer-Radius kennt, aus dem der SC den harten Kern seiner Fans rekrutiert. Spieler also, von denen nicht wenige sagen, sie seien im Grunde zu gut für den Sportclub.
Man darf davon ausgehen, dass beide spätestens in einigen Wochen wieder zum Stamm gehören – und sich dann genau in jenen Zonen bewegen werden, in denen Streich sie sehen will, wenn es für den SC wirklich wichtig ist. Also immer, wenn der Ball verloren wurde und für die Rückeroberung der Kugel ein Großteil der vielen Kilometer herunterzuspulen ist, wegen denen Freiburg seit Jahren zu den Bundesligisten mit den besten Laufwerten gehört.
Dass der SC nach wie vor mit dem 90er-Jahre-Klischee der „Breisgau-Brasilianer“ bedacht wird, ist maximal falsch. Zwar ist Streich von seiner fußballerischen Sozialisation her vom damaligen Dauertrainer Volker Finke durchaus geprägt: Kurzpässe und spielerische Lösungen sind erwünscht, vielleicht sogar ersehnt, und bleiben wichtige Trainingsinhalte, auch im Jugendbereich. Würde Streich den aktuellen Samstagsgegner Dortmund trainieren, die Ballbesitzquoten des BVB wären gewiss enorm. Beim SC sind sie das allerdings seit Jahren nicht – in 90 Prozent der Spiele hat der Gegner häufiger das Spielgerät.
Streich, in privaten und politischen Dingen prinzipientreu, ist kein Konzepttrainer, für den eine bestimmte Spielidee eine Art Monstranz ist. Vielmehr ist er ein Pragmatiker reinsten Wassers, dem defensive Stabilität und Kollektivmaloche über alles gehen. Wer als Spieler „alles abarbeitet“ – eine von Streichs Lieblingswendungen –, ist ihm lieber als ein schlampiges Genie. Diese Prioritätensetzung könnte übrigens biografisch bedingt sein.
Streich stammt aus einer Metzgerfamilie. Sein alter Freund aus gemeinsamen WG-Tagen, der heutige SC-Sportdirektor Klemens Hartenbach, ist auf einem Bauernhof im nahen Umkirch aufgewachsen. Während andere Kommilitonen Ende der Achtziger nach der Vorlesung das Studentenleben genossen, wuchteten Hartenbach und Streich manchmal ein paar Hundert Heuballen auf den Anhänger von Hartenbachs Vater. Der Kumpel habe dabei immer ungleich mehr geschafft, berichtet Streich noch heute mit Respekt.
Wenn ein Gewitter droht, gibt es in der Landwirtschaft genauso wenige Ausreden wie bei einem Fußballklub, der fehlendes Geld durch Kreativität und Know-how ausgleichen muss – und durch ein außergewöhnlich hohes Arbeitspensum, das beim SC nicht nur von leitenden Angestellten verlangt wird. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob ein Übermaß an Identifikation auf Dauer nicht aushöhlt. Wer den Begriff „Erschöpfung“ sichtbar machen will, muss nur jedes Jahr im Mai ins Freiburger Trainerzimmer kommen, wo der Chefcoach dann stets kein bisschen vitaler aussieht als seine Assistenten. Am Saisonende sei er jedes Jahr fix und fertig, sagt Streich – dennoch hat der dienstälteste Trainer der Liga (seit Dezember 2011) bisher immer wieder genug Energie gespürt, um für ein weiteres Jahr in Freiburg zuzusagen.
„Bei uns wird sehr selbständig gearbeitet. Das führt meistens dazu, dass die meisten Leute eher mehr als weniger arbeiten“, sagt Streich zum Freiburger Dienstethos: „Da geht es natürlich auch darum, Distanz zu schaffen und sich immer wieder zu sagen, dass es ein Arbeitsplatz ist, und dass es auch noch etwas anderes gibt.“
Dass in der Mühle Fußball-Bundesliga vieles im Leben zu kurz kommt, weiß Streich, der es immerhin schafft, regelmäßig einen Roman zu lesen oder ein Konzert zu besuchen. Sollte er irgendwann doch beschließen, dass es reicht, würde das keinen beim SC verwundern. Würde Streich danach zu einem anderen Klub wechseln, wäre das Erstaunen allerdings groß – zumal ihm dieses Jahr ein Halbsatz herausrutschte, der nicht auf Umzugspläne hindeutet: „Ich bin mit vollster Überzeugung hiergeblieben. Wenn ich nicht hiergeblieben wäre, hätte ich auch nicht weitergemacht.“ Derzeit kann sich aber niemand vorstellen, dass Freiburg zeitnah einen neuen Trainer benötigt. Denn der Saisonverlauf macht auch Streich großen Spaß.
Christoph Ruf: Bundesliga anders: Der SC Freiburg und die Ära Streich, 2019, Werkstatt-Verlag, 18 Euro.
„Breisgau-Brasilianer“? Falsch!
Ein Spieler von Streich muss
mit Priorität „alles abarbeiten“
Mal Keule, mal Knuddelbär: der Trainerpädagoge Streich mit Stürmer Luca Waldschmidt.
Foto: Matthias Hangst / getty
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Pragmatiker
Unantastbar, unermüdlich: Freiburgs Dauertrainer
Christian Streich genießt die Sonnenseite der Tabelle
VON CHRISTOPH RUF
Freiburg – Der für Freiburger Verhältnisse nicht ganz unprominente Spieler muss nicht groß überlegen, wenn die Frage lautet, warum sein Trainer schon so lange beim SC ist: „Christian Streich ist allein schon deshalb unantastbar, weil jeder weiß, dass er immer Erfolg gehabt hat.“ Zudem wüssten unzufriedene Spieler jederzeit, dass alle Führungsspieler hinter Streich stehen: „Entsprechend schwer ist es, in der Kabine Unruhe zu stiften. Jeder weiß, dass der Trainer hier immer am längeren Hebel sitzt – auch bei den Fans.“
Der Spieler, der das sagt, ist einer dieser Führungsspieler. Er heißt Nils Petersen, steht mit Freiburg nach einem verblüffend guten Saisonstart auf Platz drei – und gehört zu den wenigen Menschen, die rund um die Schwarzwaldstraße 193 ähnlich hohe Sympathiewerte haben wie der Dauertrainer. Dabei hätte Petersen über die Jahre ziemlich viel Grund gehabt, sauer auf Streich zu sein, der ihn zunächst immer wieder auf die Bank setzte und oft erst in den letzten 30 Minuten einwechselte, wo der Stürmer dann ebenso oft sofort traf. Doch zumindest rückblickend ist Petersen nicht sauer – im Gegenteil: Der Torjäger findet, dass er erst durch Streichs speziellen Umgang so gut wurde, wie er ist.
Dass Petersen am letzten Spieltag der Saison 2014/15 in Hannover bis zur 69. Minute auf der Bank schmorte, hat Streich mittlerweile dennoch als Fehler eingestanden. Petersen kam rein und traf, doch der SC verlor 1:2 – und stieg ab, zum bisher letzten Mal. Die Mannschaft, der damals auch Spieler angehörten, denen Streich menschlich nicht nachtrauerte, fiel danach auseinander. Der nach dem Abstieg leidende Trainer bildete unverzüglich ein neues Team – mit dem damals unbekannten Vincenzo Grifo, der vom FSV Frankfurt kam; mit Maximilian Philipp, der später für 25 Millionen Euro nach Dortmund wechselte – und mit Nils Petersen, der beim direkten Wiederaufstieg 21 Tore schoss.
Ihn hatte Streich immer schon ins Herz geschlossen. Doch erst, seitdem Petersen in fast jeder Partie zu den Spielern mit der besten Laufquote gehört, ist er Stammspieler. Wie früher Petersen saßen bei den letzten beiden Spielen der aktuellen Saison zwei Spieler, Grifo und Luca Waldschmidt, auf der Bank, die zu den wenigen gehören, die man auch außerhalb jenes 80-Kilometer-Radius kennt, aus dem der SC den harten Kern seiner Fans rekrutiert. Spieler also, von denen nicht wenige sagen, sie seien im Grunde zu gut für den Sportclub.
Man darf davon ausgehen, dass beide spätestens in einigen Wochen wieder zum Stamm gehören – und sich dann genau in jenen Zonen bewegen werden, in denen Streich sie sehen will, wenn es für den SC wirklich wichtig ist. Also immer, wenn der Ball verloren wurde und für die Rückeroberung der Kugel ein Großteil der vielen Kilometer herunterzuspulen ist, wegen denen Freiburg seit Jahren zu den Bundesligisten mit den besten Laufwerten gehört.
Dass der SC nach wie vor mit dem 90er-Jahre-Klischee der „Breisgau-Brasilianer“ bedacht wird, ist maximal falsch. Zwar ist Streich von seiner fußballerischen Sozialisation her vom damaligen Dauertrainer Volker Finke durchaus geprägt: Kurzpässe und spielerische Lösungen sind erwünscht, vielleicht sogar ersehnt, und bleiben wichtige Trainingsinhalte, auch im Jugendbereich. Würde Streich den aktuellen Samstagsgegner Dortmund trainieren, die Ballbesitzquoten des BVB wären gewiss enorm. Beim SC sind sie das allerdings seit Jahren nicht – in 90 Prozent der Spiele hat der Gegner häufiger das Spielgerät.
Streich, in privaten und politischen Dingen prinzipientreu, ist kein Konzepttrainer, für den eine bestimmte Spielidee eine Art Monstranz ist. Vielmehr ist er ein Pragmatiker reinsten Wassers, dem defensive Stabilität und Kollektivmaloche über alles gehen. Wer als Spieler „alles abarbeitet“ – eine von Streichs Lieblingswendungen –, ist ihm lieber als ein schlampiges Genie. Diese Prioritätensetzung könnte übrigens biografisch bedingt sein.
Streich stammt aus einer Metzgerfamilie. Sein alter Freund aus gemeinsamen WG-Tagen, der heutige SC-Sportdirektor Klemens Hartenbach, ist auf einem Bauernhof im nahen Umkirch aufgewachsen. Während andere Kommilitonen Ende der Achtziger nach der Vorlesung das Studentenleben genossen, wuchteten Hartenbach und Streich manchmal ein paar Hundert Heuballen auf den Anhänger von Hartenbachs Vater. Der Kumpel habe dabei immer ungleich mehr geschafft, berichtet Streich noch heute mit Respekt.
Wenn ein Gewitter droht, gibt es in der Landwirtschaft genauso wenige Ausreden wie bei einem Fußballklub, der fehlendes Geld durch Kreativität und Know-how ausgleichen muss – und durch ein außergewöhnlich hohes Arbeitspensum, das beim SC nicht nur von leitenden Angestellten verlangt wird. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob ein Übermaß an Identifikation auf Dauer nicht aushöhlt. Wer den Begriff „Erschöpfung“ sichtbar machen will, muss nur jedes Jahr im Mai ins Freiburger Trainerzimmer kommen, wo der Chefcoach dann stets kein bisschen vitaler aussieht als seine Assistenten. Am Saisonende sei er jedes Jahr fix und fertig, sagt Streich – dennoch hat der dienstälteste Trainer der Liga (seit Dezember 2011) bisher immer wieder genug Energie gespürt, um für ein weiteres Jahr in Freiburg zuzusagen.
„Bei uns wird sehr selbständig gearbeitet. Das führt meistens dazu, dass die meisten Leute eher mehr als weniger arbeiten“, sagt Streich zum Freiburger Dienstethos: „Da geht es natürlich auch darum, Distanz zu schaffen und sich immer wieder zu sagen, dass es ein Arbeitsplatz ist, und dass es auch noch etwas anderes gibt.“
Dass in der Mühle Fußball-Bundesliga vieles im Leben zu kurz kommt, weiß Streich, der es immerhin schafft, regelmäßig einen Roman zu lesen oder ein Konzert zu besuchen. Sollte er irgendwann doch beschließen, dass es reicht, würde das keinen beim SC verwundern. Würde Streich danach zu einem anderen Klub wechseln, wäre das Erstaunen allerdings groß – zumal ihm dieses Jahr ein Halbsatz herausrutschte, der nicht auf Umzugspläne hindeutet: „Ich bin mit vollster Überzeugung hiergeblieben. Wenn ich nicht hiergeblieben wäre, hätte ich auch nicht weitergemacht.“ Derzeit kann sich aber niemand vorstellen, dass Freiburg zeitnah einen neuen Trainer benötigt. Denn der Saisonverlauf macht auch Streich großen Spaß.
Christoph Ruf: Bundesliga anders: Der SC Freiburg und die Ära Streich, 2019, Werkstatt-Verlag, 18 Euro.
„Breisgau-Brasilianer“? Falsch!
Ein Spieler von Streich muss
mit Priorität „alles abarbeiten“
Mal Keule, mal Knuddelbär: der Trainerpädagoge Streich mit Stürmer Luca Waldschmidt.
Foto: Matthias Hangst / getty
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