Joseph Atwill stellt in seinem Buch die These auf, die flavischen Kaiser hätten im Anschluss an den Krieg gegen die Juden 66-73 n. Chr. das Christentum erschaffen, um die nahezu unregierbaren Juden einerseits zu friedlichen Rom-Sympathisanten zu machen und sie andererseits dazu zu bringen, unwissend
den Kaiser anzubeten. Die neutestamentlichen Schriften (abzüglich der Paulusbriefe sowie der…mehrJoseph Atwill stellt in seinem Buch die These auf, die flavischen Kaiser hätten im Anschluss an den Krieg gegen die Juden 66-73 n. Chr. das Christentum erschaffen, um die nahezu unregierbaren Juden einerseits zu friedlichen Rom-Sympathisanten zu machen und sie andererseits dazu zu bringen, unwissend den Kaiser anzubeten. Die neutestamentlichen Schriften (abzüglich der Paulusbriefe sowie der Offenbarung) seien nämlich das Werk eines Kreises von Gelehrten um die flavischen Kaiser, welche die Evangelien als eine satirische Darstellung des Titus-Feldzugs gegen die Juden kreiert hätten. Begründet werden soll dies durch Vergleiche zwischen dem Neuen Testament und den Werken des Josephus.
Atwills These leidet allerdings von vorn herein an schweren logischen und historischen Fehlern.
Zum Beispiel setzt seine Argumentation zwingend voraus, dass das Neue Testament prorömisch, aber antijüdisch bzw. antisemitisch wäre. Beides ist grundlegend falsch. Die beiden Voraussetzungen sind aber deswegen notwendig, weil Atwill eben postuliert, dass der christliche Glaube die Gefahr, die von den rebellischen Juden für Rom ausging, entschärfen sollte, indem er die Juden romfreundlich stimmen und ihre nationale bzw. völkische und religiöse Identität rauben würde – die patriotischen und exklusiv dem Gott Israels verschriebenen Juden hätten „steuerzahlende Pazifist[en]“ wie (angeblich) Jesus werden sollen (S. 351). Nur ist das NT eben weder romfreundlich noch antijüdisch.
Wenn das Neue Testament nämlich die Juden romfreundlich hätte stimmen sollen, warum hätten seine Verfasser – sie hatten doch nach Atwill freie Hand bei der Wahl – ausgerechnet den römischen Statthalter Pilatus ihren Messias Jesus zur Kreuzigung überliefern (Mt. 27:26), römische Soldaten Ihn misshandeln und verspotten (Mt. 27:27-37) und ebenfalls einen römischen Soldaten Seine Seite durchbohren lassen (Joh. 19:34) sollen? Viele ähnliche Beispiele ließen sich anführen.
Durch solche Schilderungen dürfte höchstens Misstrauen bis Verachtung gegenüber Rom bei den Jüngern von Jesus ausgelöst worden sein.
Das Neue Testament ist definitiv nicht prorömisch, wie Atwill wiederholt behauptet. Damit ist bereits einer der Grundpfeiler seiner Argumentation gestürzt, denn hätten die flavischen Kaiser das Neue Testament in Auftrag gegeben, um Juden romfreundlich zu stimmen, dann hätten sie mit Sicherheit nicht die Geschichte so geschrieben, dass die wichtigsten Figuren der neuen Bewegung fast durchweg von römischen Beamten verfolgt und ermordet wurden.
Die zweite für Atwills These essenzielle Behauptung ist die, dass das Neue Testament antijüdisch oder antisemitisch sei.
Diese Behauptung ist ähnlich daneben gegriffen wie die, das Neue Testament sei prorömisch.
Zwar enthalten die Evangelien durchaus Polemik gegen bestimmte Juden und insbesondere die jüdische Führungsschicht (Mt. 23 etc.). Doch das hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Jesus greift Seine Gegner nicht etwa dafür an, dass sie Juden sind und am Gott Israels festhalten sowie den Heiligen Schriften, sondern gerade dafür, dass sie dies nicht tun (z.B. Mk. 7:1-13).
Auch spricht gegen eine antisemitische Tendenz der Evangelien, dass nicht nur Jesus Selbst Jude ist, sondern auch die Großzahl seiner Anhänger. Eine Kanaaniterin weist er anfänglich ab mit der Erklärung, er sei zunächst „nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt. 15:24) und einer Samariterin gegenüber erklärt er, das Heil komme „von den Juden“ (Joh. 4:22).
Da wir also gesehen haben, dass die Evangelien weder prorömisch noch antisemitisch sind, kann allein schon aus diesen Gründen Atwills These als unhaltbar betrachtet und verworfen werden. Insofern erübrigt es sich, auf Atwills eigentliche Argumentation in Form von undurchsichtigen und ermüdenden Rätselspielen einzugehen, die zwar recht originell, aber ganz sicher irreführend sind.
Fazit: Atwills These ist in jeglicher Hinsicht unhaltbar. Die Behauptung, das Neue Testament und der christliche Glaube sei