Rieke studiert Theologie und bereitet sich bei Sorgentelefon e. V. auf die Gemeindearbeit vor. Wanda sammelt für ein DDR-Museum Gegenstände, die nicht mehr gebraucht werden: »Das Gestern will im Heute nicht aufhören zu sprechen.« Für Matthias, der auf dem Bau arbeitet, ist das Dasein an sich eine rätselhafte Aufgabe: Während der Ausbildung bei Sorgentelefon e. V. hat er die schöne Emilia kennengelernt. Die traurige Buchhalterin Marianne, der pensionierte Redakteur Lorentz und die 80-jährige heitere Ich-Erzählerin von Schrey, die nicht weiß, ob sie eine verhinderte Pianistin oder eine verhinderte Terroristin ist, gehören ebenfalls in die Sorgentelefon-Gruppe. Alle sieben – so unterschiedlich ihre Leben verliefen – erfahren, dass Zuhören den Anrufenden in einer schlaflosen Nacht das Gefühl von Ausweglosigkeit nehmen kann – und mit dem Zuhören auch eigene Lebenserfahrungen einen unerwarteten Sinn bekommen. Ein unsichtbares Netz zwischen Rand und Mitte der Gesellschaft entsteht, das Lebensgeschichten aus dem Dunkel des Unerzählten fischt.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Hubert Winkels fühlt sich mit Judith Kuckarts "Café der Unsichtbaren" zurückversetzt in längst vergangene, analoge Zeiten. Die Choreografin, Regisseurin und Autorin lässt hier die 80-jährige Frau von Schrey während fünf Oster(feier)tagen von ihren sechs TelefonseelsorgerkollegInnen und ihren gemeinsam erlebten Geschehnissen innerhalb dieser Zeitspanne erzählen. Eine antike Lochkamera, ein Nagra-Tonbandgerät und Jesus haben ihren Auftritt, nicht zuletzt überzeugt der Roman durch philosophische Betrachtungen und Humor, meint Winkels. Vor allem aber staunt er, wie Kuckart die Grenzen zwischen Realität und Traum fließen lässt
und sich dem Metaphysischen öffnet. Ein bisschen wie Botho Strauss, meint er. Und ein Buch über Leiden, das nicht sentimentalisiert, sondern Trost spendet, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
und sich dem Metaphysischen öffnet. Ein bisschen wie Botho Strauss, meint er. Und ein Buch über Leiden, das nicht sentimentalisiert, sondern Trost spendet, schließt er.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2022In sechs Jahren
bin ich Papst
Judith Kuckarts Roman
„Café der Unsichtbaren“
Im zweiten Stock eines Berliner Hinterhauses befinden sich die Räumlichkeiten von „Sorgentelefon e.V.“, einer ehrenamtlichen kostenfreien Ratgeberinstitution ohne kirchlichen Hintergrund. Wer hier als Seelenberater tätig werden will, bekommt von einem Ausbilder die Grundlagen erklärt, etwa die Nächte: „Leute: Es gibt nichts, warum die Menschen nicht anrufen!“ Dazu ein paar Fertigsätze, mit denen man kollisionsfrei ein Gespräch beenden kann.
Zentrales Element der Ausbildung und später der Betriebskommunikation ist der Stuhlkreis, wo sich die Telefonratgeber versammeln und ihre Erfahrungen austauschen. Mehr braucht es offenbar nicht, um mit Depressiven und Gesprächsbedürftigen angemessen umzugehen. Tatsächlich sind es weniger Selbstmordgefährdete und Sorgenvolle als vielmehr Aufsässige und Größenwahnsinnige, die hier anrufen. Einer verkündet: „In sechs Jahren bin ich Papst, und Sie werden sich dann genau an dieses Gespräch hier erinnern“.
Unter den Beratern hat einzig Rieke als Studentin der Theologie eine explizit kirchliche Anbindung. Sie will hier schon mal üben für kommende Gemeindearbeit. Die anderen Mitglieder der Sorgentelefon-Belegschaft fühlen sich durch ihre eigenen Probleme dazu qualifiziert, mitreden zu können, wenn jemand anders Kummer hat. Ein idealer Ort also, um unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen zu lassen, nicht nur Ratsuchende.
In Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ finden die Berater ihrerseits Anschluss: Menschen, die ihre soziale Anbindung verloren haben, ganz unabhängig von den Vermögensverhältnissen. So fährt Emilia, die eigentlich „lieber was mit Katzen und Kindern gemacht hätte statt mit Geld“, einen teuren Dienstwagen, Dr. Lorentz ist ein pensionierter Rundfunkredakteur aus dem Saarland, der sich in der Berliner Karl-Marx-Allee eine Wohnung gekauft hat, Marianne, kaufmännische Sachbearbeiterin, hat den Kontakt zu ihrer Tochter verloren. Nur Matthias führt eine prekäre Existenz als Hausmeister, der eigentlich Schauspieler sein möchte.
Mit Abstand die Älteste ist Frau von Schrey, die früher schon einmal Telefonseelsorge gemacht hat, deren Mann zu Zeiten von Baader-Meinhof in West-Berlin als Terrorismusverdächtiger von der Polizei erschossen wurde, und die ihre „freiwillige Ehrenrunde im Stuhlkreis“ mit ihrer Vorliebe für „roten Tee und Schnittchen mit Gurkengarnitur“ begründet. Der ironisch trockene Unterton verbindet sich mit einer Haltung, in der sie ihren Vorsprung an Lebenserfahrung nicht als Überlegenheit ausspielt, sondern Ausgangspunkt sein lässt für eine philosophische Frage: Ist das Erinnerte vergangen oder dauert es an?
Dass Matthias und Emilia, und dass Rieke und Arian, der junge Mann vom Vorderhaus, zueinander finden, was sie alle vier vom Alleinsein befreit, und dass Marianne und Dr. Lorentz sich selbst im Wege stehen, sind schöne und schön erzählte Liebesgeschichten. Doch mindestens so viel Bedeutung misst die Autorin dem Thema des gelebten und noch verbleibenden Lebens bei, den Fragen nach der Vergangenheit und deren Endgültigkeit, den Verschiebungen in der Erinnerung, den Chancen, identische Situationen ein zweites Mal zu durchleben und sie dabei anders, mit neuen Gefühlen, zu bewältigen.
Frau von Schrey, die weitgehend den Part einer Erzählstimme übernommen hat, geht mit dieser Frage nicht nur souverän um und lässt es zu, dass Erinnertes und Mögliches ineinanderfließen. Sie schafft ihrerseits mögliche Realitäten, indem sie ihren Kollegen und den Telefonanrufern unterstellt, was sie durchlebt haben oder noch erleben werden: „Dr. Lorentz wird möglicherweise Hemden bügeln – stellte ich mir mit Blick auf seinen Stuhl vor – und dabei aus dem Fenster in eine Häuserflucht schauen. An deren Ende zeichnet sich elegant, kühl und scharf die Kulisse eines neuen Berlins ab. Wie in Shanghai, wird er einen Vergleich suchen, weil er schon mal in Shanghai war. Kurz vor Mitternacht aber wird er glauben, in Chicago zu sein. Denn auch dort war er schon. Was solche abstrakten Formen, die Häuser in der Dunkelheit annahmen, doch mit einem wie Lorentz machten.“
Das Absurde der Sorgentelefonanrufer, Riekes tragikomische Ernsthaftigkeit und von Schreys Fantasien über das Leben der anderen schaffen eine harmlose Komik, in die Judith Kuckart die philosophische Erkenntnis verpackt hat, dass man niemals in denselben Fluss steigen könne, und wenn es auch derselbe ist – mit dem optimistischen Zusatz, dass darin eine Chance steckt. Im Nachspann deutet sie an, dass sie das alles auch anders hätte erzählen können. Man kann sich nur freuen, dass sie es so gemacht hat, wie es vorliegt. Es macht nämlich großen Spaß.
RUDOLF VON BITTER
Kann man die identische Situation
noch einmal durchleben,
mit ganz anderen Gefühlen?
Judith Kuckart:
Café der Unsichtbaren. Roman.
Dumont, Köln 2022.
208 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
bin ich Papst
Judith Kuckarts Roman
„Café der Unsichtbaren“
Im zweiten Stock eines Berliner Hinterhauses befinden sich die Räumlichkeiten von „Sorgentelefon e.V.“, einer ehrenamtlichen kostenfreien Ratgeberinstitution ohne kirchlichen Hintergrund. Wer hier als Seelenberater tätig werden will, bekommt von einem Ausbilder die Grundlagen erklärt, etwa die Nächte: „Leute: Es gibt nichts, warum die Menschen nicht anrufen!“ Dazu ein paar Fertigsätze, mit denen man kollisionsfrei ein Gespräch beenden kann.
Zentrales Element der Ausbildung und später der Betriebskommunikation ist der Stuhlkreis, wo sich die Telefonratgeber versammeln und ihre Erfahrungen austauschen. Mehr braucht es offenbar nicht, um mit Depressiven und Gesprächsbedürftigen angemessen umzugehen. Tatsächlich sind es weniger Selbstmordgefährdete und Sorgenvolle als vielmehr Aufsässige und Größenwahnsinnige, die hier anrufen. Einer verkündet: „In sechs Jahren bin ich Papst, und Sie werden sich dann genau an dieses Gespräch hier erinnern“.
Unter den Beratern hat einzig Rieke als Studentin der Theologie eine explizit kirchliche Anbindung. Sie will hier schon mal üben für kommende Gemeindearbeit. Die anderen Mitglieder der Sorgentelefon-Belegschaft fühlen sich durch ihre eigenen Probleme dazu qualifiziert, mitreden zu können, wenn jemand anders Kummer hat. Ein idealer Ort also, um unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen zu lassen, nicht nur Ratsuchende.
In Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ finden die Berater ihrerseits Anschluss: Menschen, die ihre soziale Anbindung verloren haben, ganz unabhängig von den Vermögensverhältnissen. So fährt Emilia, die eigentlich „lieber was mit Katzen und Kindern gemacht hätte statt mit Geld“, einen teuren Dienstwagen, Dr. Lorentz ist ein pensionierter Rundfunkredakteur aus dem Saarland, der sich in der Berliner Karl-Marx-Allee eine Wohnung gekauft hat, Marianne, kaufmännische Sachbearbeiterin, hat den Kontakt zu ihrer Tochter verloren. Nur Matthias führt eine prekäre Existenz als Hausmeister, der eigentlich Schauspieler sein möchte.
Mit Abstand die Älteste ist Frau von Schrey, die früher schon einmal Telefonseelsorge gemacht hat, deren Mann zu Zeiten von Baader-Meinhof in West-Berlin als Terrorismusverdächtiger von der Polizei erschossen wurde, und die ihre „freiwillige Ehrenrunde im Stuhlkreis“ mit ihrer Vorliebe für „roten Tee und Schnittchen mit Gurkengarnitur“ begründet. Der ironisch trockene Unterton verbindet sich mit einer Haltung, in der sie ihren Vorsprung an Lebenserfahrung nicht als Überlegenheit ausspielt, sondern Ausgangspunkt sein lässt für eine philosophische Frage: Ist das Erinnerte vergangen oder dauert es an?
Dass Matthias und Emilia, und dass Rieke und Arian, der junge Mann vom Vorderhaus, zueinander finden, was sie alle vier vom Alleinsein befreit, und dass Marianne und Dr. Lorentz sich selbst im Wege stehen, sind schöne und schön erzählte Liebesgeschichten. Doch mindestens so viel Bedeutung misst die Autorin dem Thema des gelebten und noch verbleibenden Lebens bei, den Fragen nach der Vergangenheit und deren Endgültigkeit, den Verschiebungen in der Erinnerung, den Chancen, identische Situationen ein zweites Mal zu durchleben und sie dabei anders, mit neuen Gefühlen, zu bewältigen.
Frau von Schrey, die weitgehend den Part einer Erzählstimme übernommen hat, geht mit dieser Frage nicht nur souverän um und lässt es zu, dass Erinnertes und Mögliches ineinanderfließen. Sie schafft ihrerseits mögliche Realitäten, indem sie ihren Kollegen und den Telefonanrufern unterstellt, was sie durchlebt haben oder noch erleben werden: „Dr. Lorentz wird möglicherweise Hemden bügeln – stellte ich mir mit Blick auf seinen Stuhl vor – und dabei aus dem Fenster in eine Häuserflucht schauen. An deren Ende zeichnet sich elegant, kühl und scharf die Kulisse eines neuen Berlins ab. Wie in Shanghai, wird er einen Vergleich suchen, weil er schon mal in Shanghai war. Kurz vor Mitternacht aber wird er glauben, in Chicago zu sein. Denn auch dort war er schon. Was solche abstrakten Formen, die Häuser in der Dunkelheit annahmen, doch mit einem wie Lorentz machten.“
Das Absurde der Sorgentelefonanrufer, Riekes tragikomische Ernsthaftigkeit und von Schreys Fantasien über das Leben der anderen schaffen eine harmlose Komik, in die Judith Kuckart die philosophische Erkenntnis verpackt hat, dass man niemals in denselben Fluss steigen könne, und wenn es auch derselbe ist – mit dem optimistischen Zusatz, dass darin eine Chance steckt. Im Nachspann deutet sie an, dass sie das alles auch anders hätte erzählen können. Man kann sich nur freuen, dass sie es so gemacht hat, wie es vorliegt. Es macht nämlich großen Spaß.
RUDOLF VON BITTER
Kann man die identische Situation
noch einmal durchleben,
mit ganz anderen Gefühlen?
Judith Kuckart:
Café der Unsichtbaren. Roman.
Dumont, Köln 2022.
208 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Vielschichtig und tiefgründig, ein literarisch-poetisches Kaleidoskop, in dem man sich verlieren kann.« Andrea Gerk, MDR KULTUR »Kurzum: Judith Kuckart hat einen metaphysischen Roman geschrieben [...] Die erfahrene Schriftstellerin, die auch als Choreografin und Regisseurin arbeitet, hat in ihrem 'Café der Unsichtbaren' das Erhabene feinsinnig mit dem Alltäglichen verknüpft.« Hubert Winkels, DIE ZEIT »Im Nachspann deutet sie an, dass sie das alles auch anders hätte erzählen können. Man kann sich nur freuen, dass sie es so gemacht hat, wie es vorliegt. Es macht nämlich großen Spaß.« Rudolf von Bitter, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Judith Kuckarts 'Café der Unsichtbaren' ist ein Roman über die Kraft des Erzählens und Zuhörens.« WELT AM SONNTAG »Hochaktuell!« Petra Schulte, EMOTION »Judith Kuckert knüpft mit großer Kunstfertigkeit ein Netz, das alle verbindet. Ein vielschichtiges und überaus kurzweiliges Werk, in dem jeder Satz sitzt.« Torben Rosenbohm, NORDWEST-ZEITUNG »[Judith Kuckarts] Sprache ist aufmerksam, gespannt, farbig.« Manfred Papst, NZZ BÜCHER AM SONNTAG »Schön ist, wie Judith Kuckart die Atmosphäre der Nächte in Sprache übersetzt. [...] Nicht nur eine schöne Lektüre für schlaflose Nächte, sondern auch für sonnige Tage.« Insa Wilke, WDR3 GUTENBERGS WELT »Eine poetische Reise durch die Berliner Nacht« Tilla Fuchs, SR2 KULTURRADIO »Eine zart-melancholische Parabel über die Vergänglichkeit.« Joachim Scholl, LESART DEUTSCHLANDFUNK KULTUR »Wunderbar spannende Einblicke in ganz unterschiedliche Biografien« Anne-Dore Krohn, RBB KULTUR »Sie erinnern die, die lesen, daran, wie eng Erzählen und Leben zusammenhängen« Carsten Tesch, MDR KULTUR »Es sind [...] wunderbar spannende Einblicke in ganz ganz viele unterschiedliche Biografien. In diesem Roman steckt sehr sehr viel drin.« Anne-Dore Krohn, RBB KULTUR »Judith Kuckart schreibt im 'Café der Unsichtbaren' über Menschen, die für andere da sein wollen.« Cornelia Geissler, BERLINER ZEITUNG »Judith Kuckart [zeigt sich] als Meisterin der literarischen Körpersprache.« Hansruedi Kugler, LUTZERNER ZEITUNG »Wieder findet die Autorin schöne Bilder und Formulierungen für umfassenden Lebensfatalismus und schreibt diese präzisen Sätze, die man sich anstreichen möchte.« Ulrich Steinmetzger, FREIE PRESSE »Judith Kuckart kann so schön von einfachen Wahrheiten schreiben.« Ingrid Mylo, BADISCHE ZEITUNG »['Café der Unsichtbaren'] behandelt auf einfühlsame Weise die kulturelle Geste des Zuhören(können)s.« Hannes Krauss, WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU »Es geht in dem Buch um das Erzählen, in seinen ganz unterschiedliches Erscheinungsformen.« Katrin Krämer, BREMEN ZWEI »Ein Einblick in eine unbekannte Welt, spannend!« Anna Burghardt, DIE PRESSE AM SONNTAG »Es geht um den Glauben an sich, um die Lasten, die jeder Einzelne zu tragen hat - und um den Keim der Hoffnung.« Britta Heidemann, WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG »Dieses Prinzip der Menschlichkeit, dieses Sich-Helfen, macht Freude und gibt Trost.« Anne-Dore Krohn, RBB KULTUR »Eine spannende Versuchsanordnung« Felix Müller, BERLINER MORGENPOST »Der Roman löst einen langen Nachhall aus.« Johannes Schröer, DOMRADIO »Viele offene, bewegende Fragen - unaufgeregt und beinahe lakonisch erzählt.« Peter Mohr, LOKALKOMPASS.DE