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Denken in Räumen: Philipp Lenhards Geschichte des frühen Instituts für Sozialforschung.
Von Moritz Rudolph
Die Geschichte der Frankfurter Schule wird in der Regel als Horkheimer + Adorno + X erzählt. Andere Figuren treten lediglich als Anhang des großen Duos auf, das in den Trente Glorieuses zwischen dem Erscheinen der "Dialektik der Aufklärung" 1944 und Horkheimers Tod 1973 die Kritische Theorie entwickelt hat. Lange Zeit war der Blick vor allem auf den Übergang zu nachfolgenden Generationen gerichtet, der wahlweise als Erfüllungs- (Endlich Politik, Empirie und Klarheit!) oder Verfallsgeschichte erscheint (Ist das noch Kritische Theorie?!). Seit einigen Jahren wächst jedoch das Interesse an der Vor- und Frühgeschichte sowie an vermeintlichen Randfiguren. Zu ihnen zählt Friedrich Pollock, der seit Philipp Lenhards Biographie (F.A.Z. vom 15.11. 2019) nicht mehr bloß als Horkheimers Freund, sondern als "graue Eminenz der Frankfurter Schule" bekannt ist.
Nun hat Lenhard sein Projekt der Aufwertung der Peripherie ausgeweitet und eine Geschichte der Frankfurter Schule als Institutsgeschichte geschrieben. Sie handelt nicht allein vom Gang der Ideen oder vom Zusammenfinden und Zerfall einer Gruppe, sondern von Orten und Konstellationen, Gebäuden und Treffpunkten, "physischen und symbolischen Räumen", in denen das Denken stattfand. Dies hat zunächst einmal den Effekt der Entadornosierung sowie der Reduktion des Horkheimer-Anteils. Das Zentralgestirn verschwindet beinahe hinter den Gründern Felix Weil und Carl Grünberg sowie im Gewimmel der Nebenfiguren, zu denen auch viele Frauen wie Hilda Weiss, Käthe Leichter oder Margot von Mendelssohn gehören, über die bislang nur wenig bekannt war.
So entsteht eine Geschichte der Frankfurter Schule, die nicht allein von den Lehrern handelt, sondern auch von den Schülern, Stiftern und Gebäudemanagern, den Stipendiatinnen und lose Assoziierten. Die passiven Objekte werden in den Stand von Subjekten erhoben und entkommen Horkheimers Allmacht. Und wenn der Neubau, in dem das Institut von 1924 an residierte, als "sachlich" und "sakral" zugleich beschrieben wird, "zweckmäßig" und "geheimnisvoll", dann erscheint Adornos Philosophie beinahe als Effekt dieses Raumes.
Überdies ist es nicht die einzige und nicht einmal die erste Philosophie, die hier entwickelt wurde. Lenhards Betonung der Frühgeschichte - drei Viertel des Buches spielen vor 1949 - hat zur Folge, dass die gemeinhin erste in Wahrheit die zweite Generation der Frankfurter Schule ist und bereits einen Schwenk von den Ursprüngen vollzogen hat. Carl Grünberg, erster Direktor des Instituts, betrieb sozialwissenschaftliche Forschung auf stabiler Quellen- und Datengrundlage und zeichnete sich durch eine Sammelleidenschaft aus, die jenes Zwiegespräch mit den Klassikern unterbrach, das Adorno so gern führte.
So gesehen ist Habermas' Überführung von Philosophie in Forschung keine Abkehr, sondern eine Rückkehr zum Ursprungskurs der Frankfurter Schule und Langzeitdirektor Ludwig von Friedeburg, der es für manche mit der Empirie übertrieb, ein konsequenter Grünbergianer, ein treuer Frankfurter Schüler. Dass anschließend wieder essayistischer geschrieben wurde (man denke nur an Christoph Menke oder an Martin Seel, der die Frankfurter Schule als "Stilgemeinschaft" bezeichnet hat), erscheint dann als Wiederholung der Adornoschen Anomalie. Man könnte daher auch einmal darüber nachdenken, eine Geschichte der Frankfurter Schule in Wellen zu schreiben. Philosophie wird dabei mal als Literatur, mal als Forschung betrieben, meistens kommt dabei aber ein bisschen von beidem ins Spiel.
In gewisser Weise ist Lenhards Verfahren, Adorno aus dem Zentrum zu rücken, jedoch auch sehr adornitisch. Es wendet die Mittel der Kritischen Theorie auf diese selbst an: Wie Adorno pflegt Lenhard in "Konstellationen" zu denken. Personen, Ideen und Sachen kreisen "wie Sterne" um ein geheimnisvolles Zentrum, eben das Institut. Doch sie tun das nicht immer aus freien Stücken. Es ist allerhand Zwang im Spiel. Lenhards Analyse der "Netzwerke" erinnert an Horkheimers und Pollocks "Racket"-Theorie und zeigt die Frankfurter Schule als verschworenen Haufen, der nach innen streng hierarchisch und patriarchal organisiert war, im Grunde einen Treueschwur verlangte und dafür eine Beteiligung an der akademischen Beute in Aussicht stellte.
Horkheimer schien zu wissen, wovon er sprach, als er die Gesellschaft der Banden kritisierte. Und schließlich scheint Lenhards Raumanalyse geophilosophischen Spuren zu folgen, die Adorno und Horkheimer legten, als sie den Geist als Ergebnis von Ort und Landschaft behandelten. Hier könnte man sogar noch weiter gehen und Lenhards Instituts- um eine Stadtgeschichte ergänzen, die dem Charakter der Umgebung nachspürt. Die Erwähnung Frankfurts als "weltoffenste Stadt" des Landes, die sich für die Gründung eines sozialwissenschaftlich-marxistischen Instituts besonders eignete, geht schon in diese Richtung. Aber was hat sie so weltoffen gemacht? Vielleicht das Finanzkapital? Und was bedeutet Weltoffenheit überhaupt? Etwa Liberalismus, Innovationslust, Kosmopolitismus und Modernität? Und ist es Zufall, dass die Berliner Institutsmitglieder Herbert Marcuse und Walter Benjamin besonders revolutionär gestimmt waren, während Horkheimer bürgerlicher dachte, später sogar konservativ? Es könnte etwas mit seinem "Suebo-Marxismus" zu tun haben, den Adorno an ihm feststellte.
Das verschiebt den Blick natürlich ein wenig. Die großen Ideen verschwinden in der Tiefe des Raumes. Manche Philosophen werden sich darüber ärgern, sie sehen ihre Kernkompetenz entwertet. Aber das sollten sie nicht. Sie müssen ihre Lesekräfte nur umlenken, auf Räume, Spuren, Stimmungen, das Publikum: als Geosophen und Atmosphärenforscher, die in der Um- die Innenwelt, im Nebensächlichen das Eigentliche, in der Anekdote die Evidenz finden, in den Randfiguren ihr Kerngeschäft erspähen, letztlich also vom Kleinen her denken und damit zu wahren Adorniten werden.
Philipp Lenhard: "Café Marx". Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule.
C. H. Beck Verlag, München 2024. 624 S., Abb., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
taz, Tania Martini
"Erzählt die Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung neu."
WELT, Wolf Lepenies
"Eine Geschichte der Frankfurter Schule, die nicht allein von den Lehrern handelt, sondern auch von den Schülern, Stiftern und Gebäudemanagern, den Stipendiatinnen und lose Assoziierten."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Moritz Rudolph
"Interessant und originell sind die formalen und inhaltlichen Akzente von Lenhards Darstellung ... man hat größtes Lesevergnügen an dem unterhaltsam komponierten und spannend geschriebenen Text."
soziopolis.de, Manfred Gangl
"Sehr ergiebig"
Philosophie Magazin, Christoph Bartmann
"Brillant geschrieben und wohldurchdacht aufbereitet ... liest sich so flüssig und spannend wie ein raffinierter Roman."
journal21.ch, Urs Meier
"Ein scharfer Blick auf den Glutkern der 'Frankfurter Schule' in ihren wechselnden ebenso wie den gleichbleibenden Facetten. ... Die bemerkenswert gute Lesbarkeit ist gerade angesichts der Fachkenntnis und der Menge an eingeflossenem Archivmaterial keine Selbstverständlichkeit."
neues deutschland, Anneke Schmidt
"Eine brillante Geschichte des Frankfurter Netzwerks ... Eine umfassende historische Studie, durchsetzt mit literarischen Sequenzen, mit denen Lenhard ein Gefühl für die Zeit evozieren kann und so wissenschaftliches und literarisches Schreiben verbindet. ... Eine Einführung für Interessierte und eine Vertiefung für Sachverständige."
taz, Marc Ortmann
"Lenhard kriegt es hin, Theoriegeschichte zu erzählen und dabei konkret zu bleiben."
Perlentaucher Bücherbrief
"Keine Uni-Einrichtung in Deutschland ist berühmter ... Bei Lenhard kann man die 100-jährige Geschichte des Instituts nachlesen."
WELT, NZZ, RBB Kultur und Radio Österreich
"Lenhard bereitet die ihm vorliegenden Quellen zu einer so mitreißenden Erzählung auf, dass man das Buch nur schwer aus der Hand legen kann."
Tagesspiegel, Larissa Kunert
"Ein gewichtiges Buch ... Würdigt in seinem spannenden Buch nicht nur die bekannten Größen des IfS. Die Studie setzt auch den Frauen ein Denkmal, die seinerzeit dort arbeiteten."
WDR 5 Bücher, Wolfgang Stenke
"Das Neue und Besondere an Philipp Lenhards Buch ist: Er versucht, sie [die Geschichte des IfS] nicht als Buddy-Geschichte zu erzählen. Nimmt das Netzwerk in den Blick, das das Institut für Sozialforschung von seinen ersten Tagen an trägt."
Spiegel, Tobias Rapp
"Das vielschichtige Bild, das der Autor vom Institut entwirft, eröffnet ihm dadurch immer neue Blickwinkel auf die Entstehung der 'Frankfurter Schule'."
Frankfurter Neue Presse
"Elegant reconstruction of the story."
Times Literary Supplement, Ben Hutchinson
"Lenhard bereitet die Quellen zu einer so mitreißenden Erzählung auf, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann."
Tagesspiegel, Larissa Kunert
"Philipp Lenhard zeigt anschaulich, wie das Institut für Sozialforschung im Alltag funktionierte."
Neue Zürcher Zeitung, Stefan Müller-Doohm