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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In „Cancel Culture. Ende der Aufklärung?“ macht sich Julian Nida-Rümelin
Sorgen um die Offenheit der Debatte – aber geht dabei zu pauschal vor
„Cancel Culture“ ist ein gewaltsamer Begriff. Zur Debatte steht in der Gegenwart zwar mit Recht die Frage: Wie weit darf man damit gehen, bei wachsender moralischer Sensibilität bestimmte Personen und Inhalte nicht bloß zu kritisieren, sondern zu ächten? Aber wer zum Beispiel aufgeregte Boykottforderungen im Internet wegen eines Rassismusverdachts sofort der „Cancel Culture“ zurechnet, der „cancelt“ seinerseits die Diskussion über das moralische Anliegen, das der Aufregung innewohnt.
Das heißt: Anstatt über möglicherweise geteilte Überzeugungen, aber jeweils umstrittene Methoden ihrer Anwendung miteinander zu reden, über Spielräume des Statthaften und Gründe von Grenzziehungen, wiederholt man selbst das Manöver der Empörung und des Ausschlusses. Denn wer „Cancel Culture“ sagt und damit mit seiner Einordnung schon fertig ist, verwehrt selbst ja genau die Dialogbereitschaft, die die Verwender dieses Begriffs beim Gegenüber vermissen und einfordern. Und so lässt es sich dann munter weiter hin- und hercanceln.
Umso überraschender ist es, dass sich jetzt Julian Nida-Rümelin, unter Gerhard Schröder einst von Anfang 2001 bis Ende 2002 Kulturstaatsminister und bis zu seiner Emeritierung vor drei Jahren Philosophieprofessor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, in seinem neuen Buch „,Cancel Culture‘“ (man achte auf die doppelten Gänsefüßchen) den Kampfbegriff umstandslos zu eigen macht. Die Anführungszeichen verschwinden nämlich schon gleich nach der ersten Verwendung im Text. Der amerikanische Ausdruck, der erst seit fünf Jahren in gewissen öffentlichen Debatten über (Anti-)Diskriminierung geläufig ist, ist für Nida-Rümelin offenbar schon überzeitlich gegeben: „Cancel Culture war immer ein politisch-moralischer Skandal“, schreibt er, „unabhängig, von wem diese Praxis ausgeht.“
Folglich war das alles auch schon „Cancel Culture“: Christenverfolgung und „Hexen“-Verbrennungen. Verbannungen im alten Rom und Maos Kulturrevolution. Zensur in neuzeitlichen Monarchien, Verfolgung im Nationalsozialismus und die Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke durch einen Neonazi. Schreibt Julian Nida-Rümelin. Wirklich?
Überraschend ist diese ahistorische Verwendung von „Cancel Culture“ deswegen, weil Nida-Rümelin ausdrücklich nicht an Debattenverschärfung und -verhärtung gelegen ist. Er ist keiner der „Polarisierungsunternehmer“ (eine Formulierung des Soziologen Steffen Mau). Ganz im Gegenteil: Er macht sich, und davon handelt sein Buch, auf durchaus glaubwürdige Weise Sorgen um den „öffentlichen Vernunftgebrauch“. In der Demokratie müsse man sich, bei allen Widrigkeiten – etwa sachfremden Stimmungen, der Kurzatmigkeit der Aufmerksamkeit, Polemik, Vereinfachungsdrang bei komplexen Problemen –, so gut es eben geht, um ausgewogenes und differenziertes Debattieren auch mit Andersdenkenden bemühen. Und es dabei vermeiden, „die Vertreterin einer unerwünschten Meinung zu diffamieren“. Stattdessen appelliert Nida-Rümelin, unterfüttert mit ideengeschichtlichen Exkursen, an unsere „gemeinsame menschliche Urteilskraft“.
Wer möchte da soweit widersprechen? Seine irritierende Gleichsetzung von heutigen Praktiken moralischer Ächtung mit den schlimmsten Formen von Unterdrückung und Fanatismus der Vergangenheit erklärt sich also erst einmal aus einem grundsympathischen humanistischen Impuls. Nida-Rümelin – den man selbst oft als einen gepflegten, eleganten Debatteur erleben kann – wünscht sich, darum geht es ihm, „eine Zivilkultur des respektvollen Umgangs“, und zwar „in der Tradition von Aufklärung und Demokratie“.
Allerdings entsteht aus seiner Sorge unter der Überschrift „Cancel Culture“ ein seltsam starres Bild von heutigen Kontroversen. Es ist ja nun mal tatsächlich so, dass Grenzen des Anstands neu verhandelt werden. Unbedachtes, das zur Herabsetzung von Menschen beitrug, wird neu bedacht. Ist das Beharren auf dem „Zigeunerschnitzel“ oder auf dummen Witzen über Homosexuelle denn noch eine „unerwünschte Meinung“ im Nida-Rümelin’schen Sinn? Oder nicht einfach eine Unhöflichkeit, die auch mit dem Austauschen von Gründen und Gegengründen, welches Nida-Rümelin anstelle von „Diffamierung“ fordert, nicht besser wird? In dem kürzlich im Hanser Verlag erschienenen Sammelband „Canceln. Ein notwendiger Streit“ beschreibt der Literaturwissenschaftler und SZ-Autor Lothar Müller, wie er ein Jugendbuch über Afrika aus seiner Kindheit in den Sechzigerjahren wieder in die Hand nimmt. Er zeigt sich erleichtert, dass die kolonialistische und rassistische Sprache, die dort verwendet wurde, heute nicht mehr denkbar wäre, und dass sein Enkelkind andere Bücher über Afrika lesen wird. Müller schreibt: „Nur in der Polemik gegen die ,Cancel Culture‘ und ihre ,Sprachpolizei‘ wird aus dem Zivilisierungsgewinn ein Freiheitsverlust.“
Für das Bessere anstelle des Schlechteren einzustehen, muss also nicht immer gleich „Bevormundung“ oder „Hexenjagd“ sein. Nun kann man nicht in Abrede stellen, dass es Auswüchse moralischer Kollektivaufregungen und Aktivismen gibt; dass die Debatte befremdlich ist, ob Literaturübersetzerinnen dieselbe Hautfarbe haben müssen wie die von ihnen übersetzte Autorin; und dass es eigentlich besser ist, umstrittene Gäste bei einer Podiumsdiskussion nicht niederzubrüllen, sondern sich ihnen in der Diskussion zu stellen, sofern es sich nicht um aktive Verfassungsfeinde handelt. Nida-Rümelins Aufruf zum Abrüsten, Zuhören und Argumentieren wäre es also durchaus wert, beherzigt zu werden – die zunehmenden Exklusions- und Boykottpraktiken sind auch keine reinen Diskursphänomene oder stets bloß aufgebauschte Einzelfälle, wie es auf der Linken gerne heißt.
Aber gerade um der Debattenoffenheit willen muss man dann bedauern, wie pauschal Julian Nida-Rümelin die „Cancel Culture“ behandelt. Das gilt leider auch für den Bereich der Wissenschaftsfreiheit, die manche von „woker“ Gesinnung gefährdet sehen. Hier stellt Nida-Rümelin mit Recht fest, es müssten „radikale Infragestellungen von Theorien“ und „Dissidenz“ möglich bleiben, die die Forschung weiterbrächten. Aber er vermengt an der Stelle den innerwissenschaftlichen Wagemut mit der Frage, ob man zum Beispiel auch unwissenschaftliche Aktivisten oder Politiker in Universitäten einladen soll. Wenn Thilo Sarrazin im Hörsaal einen Gastvortrag hält; oder wenn der Tübinger Oberbürgermeister auf einer Tagung an der Universität fünfmal das N-Wort sagt, angeblich nur, um den versammelten Akademikern die Regeln historisch-kritischen Zitierens zu erklären – dann sind das ganz sicher keine Triumphe der Wissenschaftsfreiheit.
Da solche Abgrenzungen leider zunehmend nötig sind, müssen wir aber ausdrücklich festhalten: Julian Nida-Rümelin, Sozialdemokrat und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, ist aller trüben Ressentiments unverdächtig. Er schreibt: „Die allergrößte Gefahr für die Demokratie als Staats- und Lebensform geht nicht von linker Cancel Culture aus, sondern – in den meisten Staaten Europas – von rechtspopulistischen Kräften.“ Bei diesen kann sein Buch also nur falsche Freunde gewinnen. Nida-Rümelins antidogmatisches, aufklärerisches Anliegen ist ehrenwert und angesichts des realen Niveaus vieler Debatten auf geradezu rührende Weise richtig. Aber vielleicht wäre dem Anliegen noch mehr gedient, wenn
man das Wort „canceln“ wieder der Verkehrsbranche überließe und es nur für das Streichen von Flugverbindungen verwendete.
JOHAN SCHLOEMANN
Julian Nida-Rümelin
ist aller trüben
Ressentiments unverdächtig
Julian Nida-Rümelin war unter Gerhard Schröder Kulturstaatsminister, von 2009 bis 2013 war er Mitglied des SPD-Parteivorstands. Bis zu seiner Emeritierung vor drei Jahren lehrte er als Philosophieprofessor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Seit 2020 ist er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Foto: Christoph Hardt/imago/Future Image
Julian Nida-Rümelin: „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. Piper Verlag, München 2023. 186 Seiten, 24 Euro.
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