Ein Gespenst geht um in Europa, ja in der ganzen Welt - das Gespenst der Cancel Culture. Glaubt man diversen Zeitungen, dürfen insbesondere weiße Männer jenseits der vierzig praktisch nichts mehr sagen, wenn sie nicht ihren guten Ruf oder gar ihren Job riskieren wollen. Ist da etwas dran? Oder handelt es sich häufig um Panikmache, bei der Aktivist:innen zu einer Gefahr für die moralische Ordnung stilisiert werden, um ihre berechtigten Anliegen zu diskreditieren? Der Ursprung der Cancel Culture wird üblicherweise an US-Universitäten verortet. Adrian Daub lehrt im kalifornischen Stanford Literaturwissenschaft. Er zeigt, wie während der Reagan-Jahre entwickelte Deutungsmuster über Campus-Romane verbreitet und auf die Gesellschaft insgesamt übertragen wurden. Man pickt einige wenige Anekdoten heraus und reicht sie herum, was auch hierzulande zu einer verzerrten Wahrnehmung führt. Anhand quantitativer Analysen zeichnet Daub nach, wie diese Diagnosen immer weitere Kreise zogen, bis sie auch die Twitter-Kanäle deutscher Politiker erfassten.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Adrian Daub ist ein "mittelalter weißer Mann", beginnt Carolin Wiedemann ihre Rezension. Mit Interesse folgt sie den Recherchen des Literaturwissenschaftlers in Stanford über die Anfänge der Cancel-Culture-Bewegung in den USA. Kanye West habe die erste Kampagne über die sozialen Medien lanciert, die bis dahin - in der Wahrnehmung Daubs - banale, popkulturelle Projektionsflächen gewesen seien. Dass der Begriff der "moralischen Panik" aus der britischen Soziologie der 1970er Jahre stammt, hebt Wiedemann in ihrer Rezension hervor, um mit Gewinn Daubs beispielhafte phänomenologische Rekonstruktion an amerikanischen Universitäten und bei Donald Trump zu lesen. Sie bedauert nur, dass Daubs Unterscheidung zwischen linker, "emanzipatorischer" Identitätspolitik und der ideologischen Instrumentalisierung durch die Rechte bei der Beschreibung der Verhältnisse in Europa zu kurz käme.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2023Wird die Meinungsfreiheit denn tatsächlich zunehmend eingeschränkt?
Im Mittelpunkt steht die Verkehrung der Verhältnisse: Adrian Daub zeigt, wie sich die Cancel Culture entwickelt hat und warum ihr Bezug zu Universitäten so wichtig ist
Adrian Daub, ein mittelalter weißer Mann, ist Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University. Er lehrt also an einem jener Schauplätze, vor deren Gender-Polizisten und Cancel Culture hierzulande deutlich gewarnt wird. Nun hat er ein Buch zur Sache geschrieben. Allerdings geht es darin weniger um Fälle, in denen tatsächlich einmal ein Kollege zum Schweigen gebracht wurde - was nach Daubs Recherchen kaum jemals so passiert ist. Sondern vielmehr um diejenigen, die in Talkshows und auf Titelseiten die neue Kultur des "Cancelns" heraufbeschwörten, um deren "moralische Panik", wie es im Untertitel heißt.
Sein Buch zeigt vor allem, welch Projektion die Rede von der Cancel Culture ist. Daub analysiert, wie sich das Narrativ aus Anekdoten entwickelt hat, an denen diejenigen, die sie erzählen, selten teilhatten, zu denen sie, wenn überhaupt, nicht mehr als eine Person, nämlich die vermeintlich gecancelte, befragt haben; wie aus Gerüchten ein Diskurs wurde, der sowohl in den USA als auch in Europa verfing und der seitdem immer wieder und immer weiter die Gefahr beschwört: dass nämlich die Meinungsfreiheit zunehmend eingeschränkt werde, dass junge Linke, antirassistische und feministische Aktivistinnen, Anhänger der Identitätspolitik anderen, vor allem alten weißen Männern, den Mund verbieten würden.
Als vom Canceln das erste Mal die Rede war, hatte es überhaupt nichts mit Universitäten zu tun. In Internet-Subkulturen schrieben die Leute, so Daubs Recherchen, dass sie irgendeinen Star auf Social Media nicht mehr mögen, seine Musik nicht mehr hören, kein Fan mehr sein wollen, weil dieser Star in ihren Augen irgendetwas Unerfreuliches gemacht hat. Sie verkündeten, ihn fortan zu "canceln". Der Hashtag #CancelCulture entstand, um eine Äußerung zu benennen, die ironisch die Machtverhältnisse ignorierte.
Der Erste, der wiederum die Ironie dieses Phänomens ignorierte, war Kanye West. Der Rapper, einer der reichsten Männer der Welt, der zuletzt vor allem durch seine öffentliche Hitler-Verehrung auffiel, führte das Wort "Canceln" in den Mainstream ein. Er trug es aus den Nischen im Netz in die breite Öffentlichkeit, als er sich in einem Interview mit der "New York Times" beschwerte, er sei gecancelt worden. Und zwar, weil er Donald Trump nicht gecancelt habe.
Diese Posse ist mehr als eine Anekdote, sie offenbart Daub zufolge ein Muster hinter dem Cancel-Culture-Diskurs: die Verkehrung der Verhältnisse. Keiner führt dieses Muster so offensichtlich vor wie Donald Trump, ein Mann, der sich während seiner Präsidentschaft auf Twitter regelmäßig beschwerte, dass er dieses oder jenes nicht mehr sagen dürfe, der sich zum Opfer und Außenseiter stilisierte, als er längst schon Tränengas gegen Demonstrierende einsetzte.
Und so ist es kein Zufall, dass sich die Rede vom Canceln in der Zeit der Trump-Jahre verbreitete und damit an den Diskurs zu Political Correctness anknüpfte, mit dem Konservative bereits seit den Neunzigerjahren Stimmung gegen Linke machten. Wie dabei der Campus immer mehr ins Visier geriet und warum sich genau dieser Fokus eignete, um liberale Kräfte in den USA miteinzubeziehen, rekonstruiert Daub. Ein ausführliches Kapitel widmet sich der Beziehung der amerikanischen Gesellschaft zu ihren Universitäten. Deren Entwicklung zeichnet der Autor von der Reagan-Ära bis heute anhand von literarischen und vermeintlich faktenbasierten Erzählungen nach, deren melodramatischen Charakter er jeweils herauszustellen weiß. Besonders einflussreich sei Dinesh D'Souzas Buch "Illiberal Education" aus dem Jahr 1991 gewesen: Die Universität sei elitär und gleichmacherisch, relativistisch und moralisch, heißt es darin. Oder "The Closing of the American Mind" von 1987, ein Bestseller, dessen Autor Allan Bloom bereits "die Selbstabsonderung afroamerikanischer Studierender" und die "Unnatürlichkeit des Feminismus" beklagte, der am Campus an Bedeutung gewinne.
Daub greift den Begriff der moralischen Panik des Londoner Soziologen Stanley Cohen auf, der damit bereits 1972 die Mobilisierung etablierter Medien gegen damals erstarkende Jugendkulturen beschrieb. Fünfzig Jahre später fordern wiederum junge Bewegungen "alte Machtverhältnisse" heraus, als antirassistische und feministische Kämpfe mit "Black Lives Matter" und "MeToo" sich international profilieren.
Die erste Erwähnung des Begriffs der Cancel Culture in einer deutschsprachigen Zeitung findet sich so auch mit direktem Bezug auf MeToo im Juli 2019 in der "Welt": Der Komiker Louis C. K. habe "die volle Wucht der Cancel Culture zu spüren" bekommen, heißt es da, nachdem er mehrere Frauen sexuell belästigt hatte, dies auf ihre Vorwürfe hin eingestand und danach ein paar Wochen nicht auftrat. Und beinahe jedes der Beispiele, die Daub aufführt, belegt seine These der Verdrehung: Die Rede von der Cancel Culture macht die Thematisierung von Sexismus zum Skandal - nicht den Sexismus selbst.
Deutschsprachige Autoren, die vor Cancel Culture warnten, glaubten schnell, so schreibt Daub, die eigentliche Gefahr dahinter zu entdecken: linke Identitätspolitik. Und so seien auch hierzulande die amerikanischen Universitäten in den Fokus geraten, denn jenes vermeintlich autoritäre Denken würde dort schließlich gelehrt. Daub hält dagegen, dass Ideen linker Identitätspolitik in den Critical Race und Gender Studies zwar verbreitet würden, aber als emanzipatorische Ansätze, die Gruppenidentitäten und die damit verbundenen Hierarchien abbauen wollten. Für Daub weist der Cancel-Culture-Diskurs in jedem Land Eigenheiten auf. Dennoch reißt er den deutschen Kontext nur an. Es ist zwar durchaus sinnvoll, einem deutschsprachigen Publikum amerikanische Verhältnisse zu erläutern. Doch im Verhältnis dazu ist der Hintergrund, vor dem sich die Debatte in Europa, speziell in Deutschland, abspielt, zu knapp zusammengefasst. Allgemein verweist Daub immer wieder darauf, der Cancel-Culture-Diskurs verbreite rechte Ideologie im Gewand des Liberalismus. Gerade da hätte er herausarbeiten können, wie früh sich die AfD die Rede vom Canceln und der Bedrohung der Meinungsfreiheit zu eigen gemacht hat. CAROLIN WIEDEMANN
Adrian Daub: "Cancel Culture Transfer". Wie eine moralische Panik die Welt erfasst.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 371 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Mittelpunkt steht die Verkehrung der Verhältnisse: Adrian Daub zeigt, wie sich die Cancel Culture entwickelt hat und warum ihr Bezug zu Universitäten so wichtig ist
Adrian Daub, ein mittelalter weißer Mann, ist Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University. Er lehrt also an einem jener Schauplätze, vor deren Gender-Polizisten und Cancel Culture hierzulande deutlich gewarnt wird. Nun hat er ein Buch zur Sache geschrieben. Allerdings geht es darin weniger um Fälle, in denen tatsächlich einmal ein Kollege zum Schweigen gebracht wurde - was nach Daubs Recherchen kaum jemals so passiert ist. Sondern vielmehr um diejenigen, die in Talkshows und auf Titelseiten die neue Kultur des "Cancelns" heraufbeschwörten, um deren "moralische Panik", wie es im Untertitel heißt.
Sein Buch zeigt vor allem, welch Projektion die Rede von der Cancel Culture ist. Daub analysiert, wie sich das Narrativ aus Anekdoten entwickelt hat, an denen diejenigen, die sie erzählen, selten teilhatten, zu denen sie, wenn überhaupt, nicht mehr als eine Person, nämlich die vermeintlich gecancelte, befragt haben; wie aus Gerüchten ein Diskurs wurde, der sowohl in den USA als auch in Europa verfing und der seitdem immer wieder und immer weiter die Gefahr beschwört: dass nämlich die Meinungsfreiheit zunehmend eingeschränkt werde, dass junge Linke, antirassistische und feministische Aktivistinnen, Anhänger der Identitätspolitik anderen, vor allem alten weißen Männern, den Mund verbieten würden.
Als vom Canceln das erste Mal die Rede war, hatte es überhaupt nichts mit Universitäten zu tun. In Internet-Subkulturen schrieben die Leute, so Daubs Recherchen, dass sie irgendeinen Star auf Social Media nicht mehr mögen, seine Musik nicht mehr hören, kein Fan mehr sein wollen, weil dieser Star in ihren Augen irgendetwas Unerfreuliches gemacht hat. Sie verkündeten, ihn fortan zu "canceln". Der Hashtag #CancelCulture entstand, um eine Äußerung zu benennen, die ironisch die Machtverhältnisse ignorierte.
Der Erste, der wiederum die Ironie dieses Phänomens ignorierte, war Kanye West. Der Rapper, einer der reichsten Männer der Welt, der zuletzt vor allem durch seine öffentliche Hitler-Verehrung auffiel, führte das Wort "Canceln" in den Mainstream ein. Er trug es aus den Nischen im Netz in die breite Öffentlichkeit, als er sich in einem Interview mit der "New York Times" beschwerte, er sei gecancelt worden. Und zwar, weil er Donald Trump nicht gecancelt habe.
Diese Posse ist mehr als eine Anekdote, sie offenbart Daub zufolge ein Muster hinter dem Cancel-Culture-Diskurs: die Verkehrung der Verhältnisse. Keiner führt dieses Muster so offensichtlich vor wie Donald Trump, ein Mann, der sich während seiner Präsidentschaft auf Twitter regelmäßig beschwerte, dass er dieses oder jenes nicht mehr sagen dürfe, der sich zum Opfer und Außenseiter stilisierte, als er längst schon Tränengas gegen Demonstrierende einsetzte.
Und so ist es kein Zufall, dass sich die Rede vom Canceln in der Zeit der Trump-Jahre verbreitete und damit an den Diskurs zu Political Correctness anknüpfte, mit dem Konservative bereits seit den Neunzigerjahren Stimmung gegen Linke machten. Wie dabei der Campus immer mehr ins Visier geriet und warum sich genau dieser Fokus eignete, um liberale Kräfte in den USA miteinzubeziehen, rekonstruiert Daub. Ein ausführliches Kapitel widmet sich der Beziehung der amerikanischen Gesellschaft zu ihren Universitäten. Deren Entwicklung zeichnet der Autor von der Reagan-Ära bis heute anhand von literarischen und vermeintlich faktenbasierten Erzählungen nach, deren melodramatischen Charakter er jeweils herauszustellen weiß. Besonders einflussreich sei Dinesh D'Souzas Buch "Illiberal Education" aus dem Jahr 1991 gewesen: Die Universität sei elitär und gleichmacherisch, relativistisch und moralisch, heißt es darin. Oder "The Closing of the American Mind" von 1987, ein Bestseller, dessen Autor Allan Bloom bereits "die Selbstabsonderung afroamerikanischer Studierender" und die "Unnatürlichkeit des Feminismus" beklagte, der am Campus an Bedeutung gewinne.
Daub greift den Begriff der moralischen Panik des Londoner Soziologen Stanley Cohen auf, der damit bereits 1972 die Mobilisierung etablierter Medien gegen damals erstarkende Jugendkulturen beschrieb. Fünfzig Jahre später fordern wiederum junge Bewegungen "alte Machtverhältnisse" heraus, als antirassistische und feministische Kämpfe mit "Black Lives Matter" und "MeToo" sich international profilieren.
Die erste Erwähnung des Begriffs der Cancel Culture in einer deutschsprachigen Zeitung findet sich so auch mit direktem Bezug auf MeToo im Juli 2019 in der "Welt": Der Komiker Louis C. K. habe "die volle Wucht der Cancel Culture zu spüren" bekommen, heißt es da, nachdem er mehrere Frauen sexuell belästigt hatte, dies auf ihre Vorwürfe hin eingestand und danach ein paar Wochen nicht auftrat. Und beinahe jedes der Beispiele, die Daub aufführt, belegt seine These der Verdrehung: Die Rede von der Cancel Culture macht die Thematisierung von Sexismus zum Skandal - nicht den Sexismus selbst.
Deutschsprachige Autoren, die vor Cancel Culture warnten, glaubten schnell, so schreibt Daub, die eigentliche Gefahr dahinter zu entdecken: linke Identitätspolitik. Und so seien auch hierzulande die amerikanischen Universitäten in den Fokus geraten, denn jenes vermeintlich autoritäre Denken würde dort schließlich gelehrt. Daub hält dagegen, dass Ideen linker Identitätspolitik in den Critical Race und Gender Studies zwar verbreitet würden, aber als emanzipatorische Ansätze, die Gruppenidentitäten und die damit verbundenen Hierarchien abbauen wollten. Für Daub weist der Cancel-Culture-Diskurs in jedem Land Eigenheiten auf. Dennoch reißt er den deutschen Kontext nur an. Es ist zwar durchaus sinnvoll, einem deutschsprachigen Publikum amerikanische Verhältnisse zu erläutern. Doch im Verhältnis dazu ist der Hintergrund, vor dem sich die Debatte in Europa, speziell in Deutschland, abspielt, zu knapp zusammengefasst. Allgemein verweist Daub immer wieder darauf, der Cancel-Culture-Diskurs verbreite rechte Ideologie im Gewand des Liberalismus. Gerade da hätte er herausarbeiten können, wie früh sich die AfD die Rede vom Canceln und der Bedrohung der Meinungsfreiheit zu eigen gemacht hat. CAROLIN WIEDEMANN
Adrian Daub: "Cancel Culture Transfer". Wie eine moralische Panik die Welt erfasst.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 371 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Adrian Daub zeigt, wie sich die Cancel Culture entwickelt hat und warum ihr Bezug zu Universitäten so wichtig ist.« Carolin Wiedemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230201