Mit ihrem Roman »Der größere Teil der Welt« gelang Jennifer Egan der internationale Durchbruch. Jetzt knüpft sie in ihrem neuen visionären Roman »Candy Haus« über unsere Gegenwart ein schillerndes Netz aus Lebensläufen. Im Mittelpunkt steht der charismatische Bix Bouton, Gründer eines atemberaubenden Start-ups in Amerika. Sein Coup ist eine App, die unsere Erinnerungen ins Netz hochlädt. Ein gefährliches Glück, denn die Erinnerungen werden für andere sichtbar. Und da ist Bennie Salazar, Ex-Punk-Rocker, der als Musikproduzent in Luxus driftet und seinen Sohn an die Sucht verliert ... New York, Chicago, Los Angeles - die Wüste, der Regenwald: Mit vor Energie funkelnden Figuren erzählt Egan von der Suche nach Familie und Geborgenheit in einer Zeit, in der die digitale Welt unsere Sehnsüchte auffrisst.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Döring hat erneut Spaß mit Jennifer Egans verschachtelter Erzählweise, die er bereits aus ihrem Vorgänger- und Pulitzerpreisträgerroman kennt. Dieses Mal geht es um ein Tech-Unternehmen in der nahen Zukunft, dessen neueste Erfindung es Menschen erlaubt, in einer Art "Cloud" ihr Bewusstsein hochzuladen und auf das anderer zuzugreifen. Wie Egan davon erzählt, nämlich in Form einzelner, ganz verschiedener und chronologisch ungeordneter Erzählabschnitte, die sich der Leser zusammenpuzzeln muss, bietet zum einen einen großen Such- und Ratespaß, meint der Kritiker. Zum anderen sieht er in diesem Verfahren auch eine Reflexion auf das Erzählen selbst - als eine Art Sortierung von Datenmassen, um die es im Roman ja auch geht. Ein "raffiniert verschlungenes Erzählgehäuse", das von Henning Ahrens bis auf einen kleinen Ausrutscher hervorragend übersetzt worden sei, lobt Döring.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2022Lies meine Gedanken
Jennifer Egans Roman über die Melancholie der Jahrtausendwende
war ein großes Erzählexperiment. Jetzt kommt die Fortsetzung
Während das digitale Leben unsere Aufmerksamkeitsspannen in Sekundenabschnitte stückelt, verhalten sich die literarischen Formen gegensätzlich: Das epische Erzählen bringt viele Hundert Seiten schwere Romane hervor, ernsthaft moralische wie von Jonathan Franzen oder emotional überwältigende von Hanya Yanagihara. Der Realitätssinn leidet unter der Vielfalt online verfügbarer Wirklichkeitsangebote, im Roman aber verlässt man sich auf den guten alten Realismus. Noch übertroffen vom Anspruch an die Wahrhaftigkeit der Autofiktion, bei Knausgård oder Annie Ernaux.
Die Literatur ordnet die Welt, wo sie sie noch vor ein paar Jahrzehnten durcheinandergebracht hat. Erinnert sich wer, wie in Paul Austers „Stadt aus Glas“ ein sich als Privatdetektiv namens Paul Auster ausgebender Krimiautor im Telefonbuch den Schriftsteller Paul Auster fand, bald darauf aber verschwand, sodass nun ausgerechnet Paul Auster seine Notizen zum Roman „Stadt aus Glas“ machen konnte? Ist das lange her! Vergessen die Maskenspiele der Postmoderne, die Metalepsen, das Spiel mit dem nicht linearen Erzählen, die Euphorie des Hypertextes. Das Denken in Netzwerken, das Springen zwischen den Profilen des Selbst ist jetzt Alltag, bitter, fad, erschöpfend. Die Menschen sehnen sich nach stabilen Geschichten, Autorinnen und Schriftsteller offenbar auch.
Eine der wenigen, die ihren erzählerischen Möglichkeitssinn und den Humor unterdessen nicht verloren haben, ist die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan. 2010 hat sie zum Staunen der Welt einen populären Roman geschrieben, in dem sie mit jedem Kapitel die Form wechselt, eines zum Beispiel als Powerpoint-Präsentation erzählt. Irgendetwas Menschliches musste sogar in dieser Benutzeroberfläche zu finden sein, und Egan schrieb in Präsentationsfolien von einem besonders sensiblen Kind. „A Visit From The Goon Squad“, auf Deutsch „Der größere Teil der Welt“, war ein Episodenroman aus der Post-9/11-Stimmung: Egan sampelte die Geschichten eines Grüppchens loser Bekannter, die in New York mit Rockmusik zu tun hatten oder mit Public Relations oder mit Drogen.
Sie kontrastierte genaue Charakterzeichnungen mit Zeitsprüngen und Stilwechseln, verfuhr dabei aber lässiger, nicht so gewichtig wie David Foster Wallace oder Thomas Pynchon. Außerdem konnte sie sich auf die Gewohnheiten einer Leserschaft verlassen, die an den episodischen Erzählweisen des relativ neuen Serienfernsehens geschult worden waren: Das Jahrzehnt von „The Wire“ und den „Sopranos“ ging gerade zu Ende. Es funktionierte, Egan bekam den Pulitzerpreis für das Buch, und die Begeisterung war einhellig.
Bei allem Spaß an der Form lag eine fühlbare Melancholie in der zentralen Frage des Romans, „was zwischen A und B passiert ist“, die erzähltechnisch wie lebensgeschichtlich zu verstehen war: Die Teenie-Idole von eben alterten ungut, aus jungen Geliebten wurden dritte Ehefrauen von Männern mit zweifelhaftem Einfluss und unglücklichen Kindern. Etwas schien unwiederbringlich verloren, nicht nur in der Skyline von Manhattan: „Da müsste etwas sein, weißt du“, sagt eine Figur: „Wenigstens eine Art Echo.“ Das Gegenüber gibt zurück: „Die werden schon was hinstellen.“ Tatsächlich, heute steht an der Stelle der Zwillingstürme wieder etwas. Und an dem Gefühl von „A Visit From The Goon Squad“, dass „alles zu Ende geht“, haben wir inzwischen ein paar Mal einfach vorbeigelebt. Heiß erwartet erscheint nun ein neuer Episodenroman von Jennifer Egan, in dem Figuren aus dem ersten wieder auftauchen. In der Logik der Erzählweise müsste man sagen: „Candy Haus“ ist die zweite Staffel, und es kann nicht schaden, die erste vorweg zu bingen.
Der neue Roman beginnt mit einem Typen, den man im vorigen Roman mal im Hintergrund sitzen sah, über einen Rechner gebeugt im Nebenzimmer einer verquarzten WG. Dazu passt die Anekdote, wie Steve Jobs, mit dem Jennifer Egan in den Achtzigerjahren kurz zusammen war, ihr eines Nachts einen nagelneuen Macintosh im Schlafzimmer installiert haben soll. In
der Gegenwart ihres neuen Buches ist der Tech-Mogul Bix Bouton inzwischen so
berühmt, dass er nicht mehr unerkannt durch New York laufen kann. An seine Vergangenheit, die wir aus dem ersten Roman kennen, denkt er als eine Zeit, die „bald
obsolet wäre“, er hat die Entdeckung des Internets vorhergesehen und es mit seinem sozialen Netzwerk „Mandala“ verändert. Die Frage ist nun, ob ihm so eine grundstürzende Innovation noch ein zweites Mal gelingt.
Im Vorgängerroman hat Jennifer Egan aus dem großen Rausch der Popkulturjahre und dem Kampf gegen das Alter eine milde Sonnenuntergangsstimmung gemischt, die für die Jahrtausendwende charakteristisch zu sein schien. In „Candy Haus“ geht es um die Dekaden einer rasenden technischen Evolution, die Lebensstile, Probleme und Figuren hervorbringt, die man eben noch für unmöglich hielt. Um den betäubenden Optimismus zu imitieren, mit dem sich das menschliche Bewusstsein seinen Erweiterungen durch mobile Geräte, Apps, Datenverkehr anpasst, muss Egan nun das Neue, an das wir uns immer schon gewöhnt haben, eskalieren: In ihrem Near-Future-Szenario entwickelt Bix Bouton einen externen Speicher für das Unterbewusste. Damit kann man sich die eigenen Erinnerungen von außen vollständiger ansehen, als man sie vor dem inneren Auge hat.
Natürlich gibt es bald darauf auch eine Cloud, ein „Kollektivbewusstsein“, aus dem man sich anderer Leute Erlebnisse runterladen kann. Es gibt Dataminer, die Motive und Gesten aus Fernsehserien und realmenschlichen Beziehungen katalogisieren, in Formeln berechenbar machen. Aus den Daten entstehen „Proxys“, Platzhalter, die digitale Identitäten weiter am Leben erhalten, während die Menschen dahinter sich in die Anonymität davonmachen. Kleine Geräte, „Asseln“ genannt, geben Signale direkt ans Gehirn, denn wo man Informationen herausholen kann, wird man natürlich auch welche hineinsenden. Ein Kapitel erzählt Egan in Form von Befehlen, die eine Frau namens Lulu als ferngesteuerte Geheimagentin innerlich sendet und empfängt: „Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, formuliere den Gedanken im Geist deutlich aus.“
Dissoziative Tricks, wie eine Figur mittels des Eigennamens „Paul Auster“ durch verschiedene Fiktionsebenen gleiten zu lassen, waren in der alten Postmoderne formale Experimente. Die Macht darüber behielt stolz der Autor. Jetzt sind Charaktere, die zwischen datenförmigen, von Medikamenten gedimmten, gefilterten Versionen ihrer selbst taumeln, ein plausibler Teil der erzählten Welt. Aber selbst eine so furchtlose Erzählerin wie Jennifer Egan kann erschreckend wenig mit ihnen anfangen. Das ist die große Enttäuschung dieses Romans, die womöglich bezeichnend ist für unsere Biedermeierphase des digitalen Zeitalters.
Egans Figuren glauben keine Sekunde an die Utopie, die so ein allen gemeinsamer Bewusstseinsspeicher bedeuten könnte: endlich ein objektiver Blick auf die Wahrheit der anderen, absolute Empathie, mit allen politischen Folgen. Stattdessen suchen die Menschen auch in einer solch radikal entgrenzten Welt vor allem nach schützenden Winkeln für ihr zerbrechliches Selbst. Egan zeigt einen Familienvater, der erst zur Ruhe kommt, wenn er sich seine Familie im Facebook-Account seiner Frau ansieht. Ein Mädchen findet ihr eigenes Bild in den Erinnerungen des Vaters mit geringschätzigen Gedanken unterlegt. Sie schaltet sofort ab. Überhaupt suchen die Kinder der Hippies, Kiffer und Punks von einst im externen Unterbewusstsein nicht nach der Vereinigung mit dem Weltgeist, sondern vor allem ihre Eltern, also nach einer verlorenen Liebe, die ihnen allein gelten würde.
Dabei ist ja die Frage, wie man überhaupt noch von Einzelnen erzählen würde, wenn subjektive Wahrnehmungsunterschiede massenweise zugänglich würden, radikaler, als es sich die Kunst etwa seit Filmen wie „Rashomon“ erträumt. Müsste man kollektive Erzählperspektiven erfinden? Auf solche Ansprüche reagiert Jennifer Egan auffällig schlapp. „Das Kollektiv“, heißt es gegen Ende über den Sohn des Tech-Gründers Bix Bouton, der ausgerechnet Schriftsteller geworden ist: „Er nahm es auch ohne Technologie wahr. Und die darin enthaltenen Geschichten, ob allumfassend oder individuell – er würde sie erzählen.“ Die trotzige Selbstbehauptung einer Literatur, die sich vor der disruptiven Gewalt des technischen Fortschritts entschieden zurückzieht und es offenbar nicht damit aufnehmen will. Obwohl man das Jennifer Egan doch als Erster zugetraut hätte.
MARIE SCHMIDT
Die Menschen suchen nach
schützenden Winkeln für
ihr zerbrechliches Selbst
Die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan.
Foto: Pieter M. Van Hattem
Jennifer Egan:
Candy Haus. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022.
416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jennifer Egans Roman über die Melancholie der Jahrtausendwende
war ein großes Erzählexperiment. Jetzt kommt die Fortsetzung
Während das digitale Leben unsere Aufmerksamkeitsspannen in Sekundenabschnitte stückelt, verhalten sich die literarischen Formen gegensätzlich: Das epische Erzählen bringt viele Hundert Seiten schwere Romane hervor, ernsthaft moralische wie von Jonathan Franzen oder emotional überwältigende von Hanya Yanagihara. Der Realitätssinn leidet unter der Vielfalt online verfügbarer Wirklichkeitsangebote, im Roman aber verlässt man sich auf den guten alten Realismus. Noch übertroffen vom Anspruch an die Wahrhaftigkeit der Autofiktion, bei Knausgård oder Annie Ernaux.
Die Literatur ordnet die Welt, wo sie sie noch vor ein paar Jahrzehnten durcheinandergebracht hat. Erinnert sich wer, wie in Paul Austers „Stadt aus Glas“ ein sich als Privatdetektiv namens Paul Auster ausgebender Krimiautor im Telefonbuch den Schriftsteller Paul Auster fand, bald darauf aber verschwand, sodass nun ausgerechnet Paul Auster seine Notizen zum Roman „Stadt aus Glas“ machen konnte? Ist das lange her! Vergessen die Maskenspiele der Postmoderne, die Metalepsen, das Spiel mit dem nicht linearen Erzählen, die Euphorie des Hypertextes. Das Denken in Netzwerken, das Springen zwischen den Profilen des Selbst ist jetzt Alltag, bitter, fad, erschöpfend. Die Menschen sehnen sich nach stabilen Geschichten, Autorinnen und Schriftsteller offenbar auch.
Eine der wenigen, die ihren erzählerischen Möglichkeitssinn und den Humor unterdessen nicht verloren haben, ist die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan. 2010 hat sie zum Staunen der Welt einen populären Roman geschrieben, in dem sie mit jedem Kapitel die Form wechselt, eines zum Beispiel als Powerpoint-Präsentation erzählt. Irgendetwas Menschliches musste sogar in dieser Benutzeroberfläche zu finden sein, und Egan schrieb in Präsentationsfolien von einem besonders sensiblen Kind. „A Visit From The Goon Squad“, auf Deutsch „Der größere Teil der Welt“, war ein Episodenroman aus der Post-9/11-Stimmung: Egan sampelte die Geschichten eines Grüppchens loser Bekannter, die in New York mit Rockmusik zu tun hatten oder mit Public Relations oder mit Drogen.
Sie kontrastierte genaue Charakterzeichnungen mit Zeitsprüngen und Stilwechseln, verfuhr dabei aber lässiger, nicht so gewichtig wie David Foster Wallace oder Thomas Pynchon. Außerdem konnte sie sich auf die Gewohnheiten einer Leserschaft verlassen, die an den episodischen Erzählweisen des relativ neuen Serienfernsehens geschult worden waren: Das Jahrzehnt von „The Wire“ und den „Sopranos“ ging gerade zu Ende. Es funktionierte, Egan bekam den Pulitzerpreis für das Buch, und die Begeisterung war einhellig.
Bei allem Spaß an der Form lag eine fühlbare Melancholie in der zentralen Frage des Romans, „was zwischen A und B passiert ist“, die erzähltechnisch wie lebensgeschichtlich zu verstehen war: Die Teenie-Idole von eben alterten ungut, aus jungen Geliebten wurden dritte Ehefrauen von Männern mit zweifelhaftem Einfluss und unglücklichen Kindern. Etwas schien unwiederbringlich verloren, nicht nur in der Skyline von Manhattan: „Da müsste etwas sein, weißt du“, sagt eine Figur: „Wenigstens eine Art Echo.“ Das Gegenüber gibt zurück: „Die werden schon was hinstellen.“ Tatsächlich, heute steht an der Stelle der Zwillingstürme wieder etwas. Und an dem Gefühl von „A Visit From The Goon Squad“, dass „alles zu Ende geht“, haben wir inzwischen ein paar Mal einfach vorbeigelebt. Heiß erwartet erscheint nun ein neuer Episodenroman von Jennifer Egan, in dem Figuren aus dem ersten wieder auftauchen. In der Logik der Erzählweise müsste man sagen: „Candy Haus“ ist die zweite Staffel, und es kann nicht schaden, die erste vorweg zu bingen.
Der neue Roman beginnt mit einem Typen, den man im vorigen Roman mal im Hintergrund sitzen sah, über einen Rechner gebeugt im Nebenzimmer einer verquarzten WG. Dazu passt die Anekdote, wie Steve Jobs, mit dem Jennifer Egan in den Achtzigerjahren kurz zusammen war, ihr eines Nachts einen nagelneuen Macintosh im Schlafzimmer installiert haben soll. In
der Gegenwart ihres neuen Buches ist der Tech-Mogul Bix Bouton inzwischen so
berühmt, dass er nicht mehr unerkannt durch New York laufen kann. An seine Vergangenheit, die wir aus dem ersten Roman kennen, denkt er als eine Zeit, die „bald
obsolet wäre“, er hat die Entdeckung des Internets vorhergesehen und es mit seinem sozialen Netzwerk „Mandala“ verändert. Die Frage ist nun, ob ihm so eine grundstürzende Innovation noch ein zweites Mal gelingt.
Im Vorgängerroman hat Jennifer Egan aus dem großen Rausch der Popkulturjahre und dem Kampf gegen das Alter eine milde Sonnenuntergangsstimmung gemischt, die für die Jahrtausendwende charakteristisch zu sein schien. In „Candy Haus“ geht es um die Dekaden einer rasenden technischen Evolution, die Lebensstile, Probleme und Figuren hervorbringt, die man eben noch für unmöglich hielt. Um den betäubenden Optimismus zu imitieren, mit dem sich das menschliche Bewusstsein seinen Erweiterungen durch mobile Geräte, Apps, Datenverkehr anpasst, muss Egan nun das Neue, an das wir uns immer schon gewöhnt haben, eskalieren: In ihrem Near-Future-Szenario entwickelt Bix Bouton einen externen Speicher für das Unterbewusste. Damit kann man sich die eigenen Erinnerungen von außen vollständiger ansehen, als man sie vor dem inneren Auge hat.
Natürlich gibt es bald darauf auch eine Cloud, ein „Kollektivbewusstsein“, aus dem man sich anderer Leute Erlebnisse runterladen kann. Es gibt Dataminer, die Motive und Gesten aus Fernsehserien und realmenschlichen Beziehungen katalogisieren, in Formeln berechenbar machen. Aus den Daten entstehen „Proxys“, Platzhalter, die digitale Identitäten weiter am Leben erhalten, während die Menschen dahinter sich in die Anonymität davonmachen. Kleine Geräte, „Asseln“ genannt, geben Signale direkt ans Gehirn, denn wo man Informationen herausholen kann, wird man natürlich auch welche hineinsenden. Ein Kapitel erzählt Egan in Form von Befehlen, die eine Frau namens Lulu als ferngesteuerte Geheimagentin innerlich sendet und empfängt: „Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, formuliere den Gedanken im Geist deutlich aus.“
Dissoziative Tricks, wie eine Figur mittels des Eigennamens „Paul Auster“ durch verschiedene Fiktionsebenen gleiten zu lassen, waren in der alten Postmoderne formale Experimente. Die Macht darüber behielt stolz der Autor. Jetzt sind Charaktere, die zwischen datenförmigen, von Medikamenten gedimmten, gefilterten Versionen ihrer selbst taumeln, ein plausibler Teil der erzählten Welt. Aber selbst eine so furchtlose Erzählerin wie Jennifer Egan kann erschreckend wenig mit ihnen anfangen. Das ist die große Enttäuschung dieses Romans, die womöglich bezeichnend ist für unsere Biedermeierphase des digitalen Zeitalters.
Egans Figuren glauben keine Sekunde an die Utopie, die so ein allen gemeinsamer Bewusstseinsspeicher bedeuten könnte: endlich ein objektiver Blick auf die Wahrheit der anderen, absolute Empathie, mit allen politischen Folgen. Stattdessen suchen die Menschen auch in einer solch radikal entgrenzten Welt vor allem nach schützenden Winkeln für ihr zerbrechliches Selbst. Egan zeigt einen Familienvater, der erst zur Ruhe kommt, wenn er sich seine Familie im Facebook-Account seiner Frau ansieht. Ein Mädchen findet ihr eigenes Bild in den Erinnerungen des Vaters mit geringschätzigen Gedanken unterlegt. Sie schaltet sofort ab. Überhaupt suchen die Kinder der Hippies, Kiffer und Punks von einst im externen Unterbewusstsein nicht nach der Vereinigung mit dem Weltgeist, sondern vor allem ihre Eltern, also nach einer verlorenen Liebe, die ihnen allein gelten würde.
Dabei ist ja die Frage, wie man überhaupt noch von Einzelnen erzählen würde, wenn subjektive Wahrnehmungsunterschiede massenweise zugänglich würden, radikaler, als es sich die Kunst etwa seit Filmen wie „Rashomon“ erträumt. Müsste man kollektive Erzählperspektiven erfinden? Auf solche Ansprüche reagiert Jennifer Egan auffällig schlapp. „Das Kollektiv“, heißt es gegen Ende über den Sohn des Tech-Gründers Bix Bouton, der ausgerechnet Schriftsteller geworden ist: „Er nahm es auch ohne Technologie wahr. Und die darin enthaltenen Geschichten, ob allumfassend oder individuell – er würde sie erzählen.“ Die trotzige Selbstbehauptung einer Literatur, die sich vor der disruptiven Gewalt des technischen Fortschritts entschieden zurückzieht und es offenbar nicht damit aufnehmen will. Obwohl man das Jennifer Egan doch als Erster zugetraut hätte.
MARIE SCHMIDT
Die Menschen suchen nach
schützenden Winkeln für
ihr zerbrechliches Selbst
Die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan.
Foto: Pieter M. Van Hattem
Jennifer Egan:
Candy Haus. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022.
416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Probe aufs Informationszeitalter
Alles hochladen: Der Brief- und Tweetroman "Candy Haus" von
Jennifer Egan ist ein
raffinierter Zwilling ihres Erfolgsbuchs "Der größere Teil der Welt".
Das Problem wird sich tatsächlich nicht sehr vielen stellen, aber einmal angenommen, wir hätten daheim einen echten Mondrian, etliche Millionen wert, der unversichert an der Wohnzimmerwand hängt (weil alle angefragten Versicherungen die Alarmanlage ungenügend fanden): Wie ließe der sich wohl am besten schützen?
Die Antwort ist verblüffend einfach: Man umgebe ihn mit reichlich Mondrian-Merchandising-Artikeln, also Kerzenhaltern, Vasen, Regenschirmen, Tabletts, Platzdeckchen, Handtüchern, Kissen, Postern und bestickten Hockern sämtlich im charakteristischen Design aus farbigen Quadraten und schwarzen Linien in rechten Winkeln. Damit wäre das Original bis zur Unkenntlichkeit getarnt, denn "wer einen echten Mondrian besitzt, würde sich nie diesen Schund kaufen". Das wahrhaft Unverwechselbare und einzig Wertvolle kann nur im Schwarm von Fakes und Nachgemachtem überleben.
Das ist so eine kalifornische Einsicht, wie man sie in diesem Roman lernt. Sie stammt von Abuela Salazar, einer mittlerweile alten Dame, Mutter von fünf Kindern, frühen Witwe und einst honduranischen Schachmeisterin. Das Vermögen ihrer Schachprämien hat sie zunächst in Bitcoins angelegt, bevor sie sich damit den Mondrian ersteigern konnte, den sie laut eigenem Bekunden vorrangig zu selbsttherapeutischen Maßnahmen nutzt: "Wenn ich mich hier verloren fühle, finde ich mich dort wieder", erklärt sie ihrem Enkel Chris. "In der zweidimensionalen Welt werden Probleme kleiner."
Wo und wie man sich selbst findet oder wiederfindet, ist bei Jennifer Egan seit Langem ein Zentralthema. Um es zu erkunden, erfindet sie mit ihren Texten raffiniert verschlungene Erzählgehäuse, in denen sie ihre Figuren und zugleich auch uns als Leser auf die Suche schickt. Auf gewundenen Pfaden mit vielen Abzweigungen sowie Seitenöffnungen, die uns beim Vorübergehen unvermittelt Ausblick auf andere Erlebniswirklichkeiten bieten, bewegen wir uns in ihrem Roman wie durch ein Labyrinth, das immer wieder Déjà-vus verschafft. Beispielsweise die Familie Salazar, die uns wie die meisten der Protagonisten von "Candy Haus" vor gut zehn Jahren schon einmal begegnet ist: im Vorgänger- und Zwillingsroman "Der größere Teil der Welt", mit dem Egan 2011 den Pulitzer-Preis gewann.
Man muss sich auch auf allerhand kleinere Figuren und Details besinnen können, um irgendwann herauszukriegen, wie die Puzzleteilchen zueinander passen. Wer daran Spaß hat, wird bei dieser Suche lustvoll fündig. Nicht umsonst verweist schon der Romantitel auf das Knusperhäuschen aus "Hänsel und Gretel", das den Besuchern so viel Lust verheißt: jede Süßigkeit ein Treffer. Doch man braucht den früheren Roman gar nicht zu kennen, um sich an dem Vexier- und Suchspiel zu beteiligen. "Candy Haus" ist selbst bereits nach dem Prinzip verschachtelter Geschichten gebaut, die immer wieder perspektivisch anders ansetzen, bevor sie den Blick auf schon Bekanntes freigeben.
Abermals setzt sich das Buch aus einer Erzählsequenz von verlinkten Einzelabschnitten zusammen, ein gutes Dutzend insgesamt, teilweise zuvor als Storys schon veröffentlicht, die nicht chronologisch präsentiert werden und in unterschiedlichen Erzählweisen gestaltet sind. So werden wir beständig zu allerhand Verbindungs- und Erinnerungsarbeit angespornt. Am spektakulärsten sicher mit der Spionagegeschichte einer Mata-Hari-Figur, die in einer Folge von Hunderten Tweets übermittelt wird (und tatsächlich erstmals in diesem Medium veröffentlicht wurde: vor zehn Jahren vom "New Yorker"). Ein anderer Abschnitt kommt ganz als E-Mail-Kommunikation daher, was, vergleichsweise konventionell, das alte Verfahren des Briefromans aufnimmt.
Dazu erfindet Egan ein passendes Handlungselement. Etliche ihrer Geschichten sind in einer nahen Zukunft angesiedelt, unserer Zeit rund ein Jahrzehnt voraus, und verhandeln technische Innovationen, die an die Stelle der sozialen Medien getreten sind. Hardware sind die menschlichen Gehirne, deren Bewusstseins- und Gedächtnisarbeit neuerdings direkt verfügbar gemacht und geteilt wird: Alles lässt sich hochladen. "Own your Unconscious" heißt die App (in der brillanten deutschen Version von Henning Ahrens, die allerdings an diesem Knackpunkt leider unscharf wirkt: "Besitze Dein Unterbewusstes"), wahlweise mit Editorfunktion, um unliebsame Inhalte daraus einfach zu entfernen. Denn in der Fortentwicklung dieser Mnemotechnik können Nutzer die persönlichen Erinnerungen in einer Art Cloud allen anderen zur Verfügung stellen und im Kollektivbewusstsein nach Belieben surfen oder streamen, um vergangenes Geschehen aus der Erlebnisperspektive anderer Beteiligter abermals zu besichtigen.
So erfährt eine Figur, wie sich die London-Reise, die sie mit dem Vater einst als Teenager unternommen hat, eigentlich aus dessen Sicht ausnahm. Oder eine Tochter durchlebt mit einer Mischung aus Amüsement und Schrecken den ersten Drogentrip, auf dem ihr Vater in den Sixties bewusstseinserweiternd unterwegs war. "Erobere deine Erinnerungen zurück" und "Wisse um dein Wissen" lauten die Slogans, mit denen der Techkonzern, der diese schöne neue Welt eröffnet, für seine Produkte wirbt.
Doch insgesamt hält die Autorin deutlich Abstand zu derlei Fortschrittseuphorie. Nicht nur bevölkert sie ihren Roman mit allerhand Renegaten, Hochladegegnern und Datenverweigerern, die sich dem allgemeinen Wohlfühltaumel der Verfüg- und Teilbarkeit entziehen und dessen Glück infrage stellen: "Wie alle anderen, die Informationen sammeln, stehe ich aber vor einem Problem: Was kann ich damit anfangen? Wie soll ich das Wissen ordnen, verarbeiten, verwenden? Wie kann ich verhindern, darin zu ertrinken?" Anstatt für mediale Glücksversprechen interessiert sie sich viel mehr für deren erzähltechnische Korrelate, wie sie die Kunst der Fiktion ausmachen, vor allem das allwissende Erzählen, das immer schon so tut, als könnte es sich jeglicher Erlebnisperspektive anpassen: eines der ältesten Medien überhaupt, um sich von der eigenen Rolle probehalber zu entfremden.
So lässt sich Egans kunstvoll ausgetüftelte Erzählwelt mit den unterschiedlichen Verfahren letztlich als Versuchsanordnung einer großen zeitgenössischen Autorin lesen, die das eigene Vorgehen erforschen und im Informationszeitalter die Möglichkeiten ihres Tuns erproben will, getrieben von der Grundfrage, die das Erzählen seit jeher in Gang setzt: Was eigentlich ist eine Geschichte? Wie es zum Ende heißt: "Alles zu wissen bedeutet aber, nichts zu wissen; ohne Story haben wir es nur mit zusammenhanglosen Informationen zu tun." TOBIAS DÖRING
Jennifer Egan:
"Candy Haus". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 416 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles hochladen: Der Brief- und Tweetroman "Candy Haus" von
Jennifer Egan ist ein
raffinierter Zwilling ihres Erfolgsbuchs "Der größere Teil der Welt".
Das Problem wird sich tatsächlich nicht sehr vielen stellen, aber einmal angenommen, wir hätten daheim einen echten Mondrian, etliche Millionen wert, der unversichert an der Wohnzimmerwand hängt (weil alle angefragten Versicherungen die Alarmanlage ungenügend fanden): Wie ließe der sich wohl am besten schützen?
Die Antwort ist verblüffend einfach: Man umgebe ihn mit reichlich Mondrian-Merchandising-Artikeln, also Kerzenhaltern, Vasen, Regenschirmen, Tabletts, Platzdeckchen, Handtüchern, Kissen, Postern und bestickten Hockern sämtlich im charakteristischen Design aus farbigen Quadraten und schwarzen Linien in rechten Winkeln. Damit wäre das Original bis zur Unkenntlichkeit getarnt, denn "wer einen echten Mondrian besitzt, würde sich nie diesen Schund kaufen". Das wahrhaft Unverwechselbare und einzig Wertvolle kann nur im Schwarm von Fakes und Nachgemachtem überleben.
Das ist so eine kalifornische Einsicht, wie man sie in diesem Roman lernt. Sie stammt von Abuela Salazar, einer mittlerweile alten Dame, Mutter von fünf Kindern, frühen Witwe und einst honduranischen Schachmeisterin. Das Vermögen ihrer Schachprämien hat sie zunächst in Bitcoins angelegt, bevor sie sich damit den Mondrian ersteigern konnte, den sie laut eigenem Bekunden vorrangig zu selbsttherapeutischen Maßnahmen nutzt: "Wenn ich mich hier verloren fühle, finde ich mich dort wieder", erklärt sie ihrem Enkel Chris. "In der zweidimensionalen Welt werden Probleme kleiner."
Wo und wie man sich selbst findet oder wiederfindet, ist bei Jennifer Egan seit Langem ein Zentralthema. Um es zu erkunden, erfindet sie mit ihren Texten raffiniert verschlungene Erzählgehäuse, in denen sie ihre Figuren und zugleich auch uns als Leser auf die Suche schickt. Auf gewundenen Pfaden mit vielen Abzweigungen sowie Seitenöffnungen, die uns beim Vorübergehen unvermittelt Ausblick auf andere Erlebniswirklichkeiten bieten, bewegen wir uns in ihrem Roman wie durch ein Labyrinth, das immer wieder Déjà-vus verschafft. Beispielsweise die Familie Salazar, die uns wie die meisten der Protagonisten von "Candy Haus" vor gut zehn Jahren schon einmal begegnet ist: im Vorgänger- und Zwillingsroman "Der größere Teil der Welt", mit dem Egan 2011 den Pulitzer-Preis gewann.
Man muss sich auch auf allerhand kleinere Figuren und Details besinnen können, um irgendwann herauszukriegen, wie die Puzzleteilchen zueinander passen. Wer daran Spaß hat, wird bei dieser Suche lustvoll fündig. Nicht umsonst verweist schon der Romantitel auf das Knusperhäuschen aus "Hänsel und Gretel", das den Besuchern so viel Lust verheißt: jede Süßigkeit ein Treffer. Doch man braucht den früheren Roman gar nicht zu kennen, um sich an dem Vexier- und Suchspiel zu beteiligen. "Candy Haus" ist selbst bereits nach dem Prinzip verschachtelter Geschichten gebaut, die immer wieder perspektivisch anders ansetzen, bevor sie den Blick auf schon Bekanntes freigeben.
Abermals setzt sich das Buch aus einer Erzählsequenz von verlinkten Einzelabschnitten zusammen, ein gutes Dutzend insgesamt, teilweise zuvor als Storys schon veröffentlicht, die nicht chronologisch präsentiert werden und in unterschiedlichen Erzählweisen gestaltet sind. So werden wir beständig zu allerhand Verbindungs- und Erinnerungsarbeit angespornt. Am spektakulärsten sicher mit der Spionagegeschichte einer Mata-Hari-Figur, die in einer Folge von Hunderten Tweets übermittelt wird (und tatsächlich erstmals in diesem Medium veröffentlicht wurde: vor zehn Jahren vom "New Yorker"). Ein anderer Abschnitt kommt ganz als E-Mail-Kommunikation daher, was, vergleichsweise konventionell, das alte Verfahren des Briefromans aufnimmt.
Dazu erfindet Egan ein passendes Handlungselement. Etliche ihrer Geschichten sind in einer nahen Zukunft angesiedelt, unserer Zeit rund ein Jahrzehnt voraus, und verhandeln technische Innovationen, die an die Stelle der sozialen Medien getreten sind. Hardware sind die menschlichen Gehirne, deren Bewusstseins- und Gedächtnisarbeit neuerdings direkt verfügbar gemacht und geteilt wird: Alles lässt sich hochladen. "Own your Unconscious" heißt die App (in der brillanten deutschen Version von Henning Ahrens, die allerdings an diesem Knackpunkt leider unscharf wirkt: "Besitze Dein Unterbewusstes"), wahlweise mit Editorfunktion, um unliebsame Inhalte daraus einfach zu entfernen. Denn in der Fortentwicklung dieser Mnemotechnik können Nutzer die persönlichen Erinnerungen in einer Art Cloud allen anderen zur Verfügung stellen und im Kollektivbewusstsein nach Belieben surfen oder streamen, um vergangenes Geschehen aus der Erlebnisperspektive anderer Beteiligter abermals zu besichtigen.
So erfährt eine Figur, wie sich die London-Reise, die sie mit dem Vater einst als Teenager unternommen hat, eigentlich aus dessen Sicht ausnahm. Oder eine Tochter durchlebt mit einer Mischung aus Amüsement und Schrecken den ersten Drogentrip, auf dem ihr Vater in den Sixties bewusstseinserweiternd unterwegs war. "Erobere deine Erinnerungen zurück" und "Wisse um dein Wissen" lauten die Slogans, mit denen der Techkonzern, der diese schöne neue Welt eröffnet, für seine Produkte wirbt.
Doch insgesamt hält die Autorin deutlich Abstand zu derlei Fortschrittseuphorie. Nicht nur bevölkert sie ihren Roman mit allerhand Renegaten, Hochladegegnern und Datenverweigerern, die sich dem allgemeinen Wohlfühltaumel der Verfüg- und Teilbarkeit entziehen und dessen Glück infrage stellen: "Wie alle anderen, die Informationen sammeln, stehe ich aber vor einem Problem: Was kann ich damit anfangen? Wie soll ich das Wissen ordnen, verarbeiten, verwenden? Wie kann ich verhindern, darin zu ertrinken?" Anstatt für mediale Glücksversprechen interessiert sie sich viel mehr für deren erzähltechnische Korrelate, wie sie die Kunst der Fiktion ausmachen, vor allem das allwissende Erzählen, das immer schon so tut, als könnte es sich jeglicher Erlebnisperspektive anpassen: eines der ältesten Medien überhaupt, um sich von der eigenen Rolle probehalber zu entfremden.
So lässt sich Egans kunstvoll ausgetüftelte Erzählwelt mit den unterschiedlichen Verfahren letztlich als Versuchsanordnung einer großen zeitgenössischen Autorin lesen, die das eigene Vorgehen erforschen und im Informationszeitalter die Möglichkeiten ihres Tuns erproben will, getrieben von der Grundfrage, die das Erzählen seit jeher in Gang setzt: Was eigentlich ist eine Geschichte? Wie es zum Ende heißt: "Alles zu wissen bedeutet aber, nichts zu wissen; ohne Story haben wir es nur mit zusammenhanglosen Informationen zu tun." TOBIAS DÖRING
Jennifer Egan:
"Candy Haus". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 416 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das ist so ein Roman, wo ich vor Freude in die Hände klatsche, weil der so klug, so schlau ist. Denis Scheck WDR2 20230108